"Sie haben wirklich großes Glück gehabt", meinte Rehfeld, nachdem er meine Aussage zu Protokoll genommen und ich unterschrieben hatte. "Mein Kollege Lehmann, der die Aufgabe hatte, Sie zu observieren, hat vor Grossmanns Haus im Wagen gesessen und dann Werneck kommen sehen. Er hat beobachtet, wie unser OB einen Schalldämpfer auf seine Pistole geschraubt hat."
Ein Schalldämpfer. Deshalb war es wohl auch niemandem aufgefallen, dass Marco Leschek erschossen worden war.
"Und da hat Lehmann also zugeschlagen, ehe unser ehrenwerter Dr. Werneck damit Unfug anstellen konnte!", ergänzte ich.
Rehfeld nickte. "So ist es. Er hatte es zwar auf Grossmann abgesehen, aber ich glaube nicht, dass er Sie verschont hätte."
"Nein, das glaube ich auch nicht."
Rehfeld atmete tief durch. "Sie haben sicher auch schon die Zeitung gelesen, was?"
"Sicher."
"Ein Fressen für die Geier, kann ich da nur sagen! Der Saubermann ein Mörder!"
"Solche Geschichten mögen die Leute", meinte ich dazu. "Sie zeigen ihnen, dass auch die strahlendsten Sterne am VIP-Himmel ihre Flecken haben!"
Rehfeld zuckte die Achseln. "Na, Sie müssen es ja wissen. Das ist schließlich Ihr Niveau."
Diese Spitze überhörte ich geflissentlich. Stattdessen fragte ich: "Wissen Sie inzwischen auch, womit Werneck erpresst wurde?"
Rehfeld nickte. "Ja", sagte er. "Mit ein paar Microkassetten, wie man sie in Diktiergeräten benutzt. Die Friedrichs hatte sie so geschickt in das dicke Futter der Handtasche eingenäht, dass der Erkennungsdienst sie erst übersehen hat."
Das Verschwinden der Bänder war Leschek − und um ein Haar auch Grossmann − zum Verhängnis geworden. Die beiden hätten die Bänder beim besten Willen nicht auftreiben können, nachdem die Handtasche bei der Polizei gelandet war. Und Werneck hatte die Situation so interpretiert, dass die beiden ihn hereinlegen wollten.
Es war zufällig die Wahrheit.
Nach einer Pause fragte ich: "Und was war auf den Bändern?"
Rehfeld beugte sich vor. "Wernecks Sohn machte in der Westfälischen Landesklinik vor einiger Zeit eine Entziehungskur. Er war drogensüchtig. Und natürlich nahm er auch an einer begleitenden Psychotherapie teil. Diese Therapiesitzungen wurden auf Bändern festgehalten, um sie später für Forschungsarbeiten auswerten zu können."
Ich pfiff durch die Zähne. Die letzten Teile des Puzzles setzten sich jetzt zusammen. "Und wie kam die Verbindung zu Annette Friedrichs und Jürgen Lammers zustande?", fragte ich. "Annette war da vielleicht Patientin, aber ..."
"Lammers war dort Krankenpfleger."
"Und ich hätte geschworen, dass er keine Arbeit hatte!"
"Hatte er zuletzt auch nicht, weil man ihn wegen seiner eigenen Alkoholabhängigkeit rausgesetzt hatte. Ein Trinker kann schlecht andere Trinker trockenlegen, das klappt einfach nicht."
"Logisch."
"Aber solange er dort arbeitete, konnte Lammers an einen Generalschlüssel gelangen und hatte sich offenbar darauf spezialisiert, die bei den Therapiesitzungen entstandenen Bänder abzuhören, um sie für Erpressungen zu nutzen. Annette Friedrichs war tatsächlich als Patientin dort. Ich nehme an, dass sie Lammers auf die Schliche kam und er mit ihr halbe-halbe machen musste."
"So könnte dieses Traumpaar zusammengekommen sein", gab ich zu. "Und was war auf diesen Bändern an brisantem Material?"
Rehfeld hob die Augenbrauen und faltete die Hände. Die Daumen drehten sich ein wenig umeinander, bevor er weitersprach. "Dr. Werneck hatte offenbar vor Jahren einen Unfall, bei dem er Fahrerflucht beging. Es gab zwei Tote: eine Mutter und ihr zweijähriges Kind ... Ich habe mir die Akten kommen lassen. Die Sachverständigen waren damals der Ansicht, dass zumindest das Kind hätte gerettet werden können, wenn Dr. Werneck angehalten und geholfen hätte."
"Damit wurde unser aller Oberbürgermeister also erpresst!"
"Ja."
Ich nickte leicht. "Wenn das an die Öffentlichkeit gelangt wäre, hätte er sicher kaum noch Chancen gehabt, an seiner politischen Karriere zu basteln."
Rehfeld lachte heiser. Wie ein Saloonkeeper, der mindestens ebensoviel trinkt, wie er ausschenkt. "Seine eigene Partei hätte ihn nicht einmal mehr als Kassierer genommen!", meinte er.
"Und Hartmut wusste von der Fahrerflucht und hat davon seinem Therapeuten erzählt?", hakte ich nach. Ein bisschen mehr wollte ich noch wissen.
Rehfeld kratzte sich am Doppelkinn und lockerte dann ein wenig den dicken Windsorknoten seiner Krawatte. "Fast", sagte er gedehnt und genoss es sichtlich, mich ein wenig auf die Folter zu spannen.
"Sie wollen einen armen Western-Autor doch nicht erst zu einem Bestechungsversuch verleiten, um Ihnen die Einzelheiten anschließend aus der Nase ziehen zu dürfen!"
Rehfeld grinste und schüttelte den Kopf. "Nein", murmelte er zu meiner Erleichterung. "Irgendwie sagt mir mein Sinn für Gerechtigkeit, dass Sie genug gelitten haben, Herr Hellmer."
Na bitte!, dachte ich. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Oder zumindest einer erträglichen Koexistenz. Gleichgewicht des Schreckens inbegriffen.
Ich hoffte, dass das, was er mir nun sagte, genauso wichtig sei wie die Miene, die er dazu machte.
"Es war folgendermaßen", begann er bedeutungsvoll und lehnte sich zurück. "Die Polizei hat schließlich doch ermitteln können, dass es Wernecks Wagen war, mit dem die Fahrerflucht begangen wurde."
Ich runzelte die Stirn. "Und warum ist er damals nicht drangewesen?"
"Weil er seinen Sohn überredet hat, die Schuld auf sich zu nehmen."
Ich begriff. Deswegen war der OB quasi in der Schuld seines Sohnes gewesen, und dieser hatte das ausgenutzt, indem er ihn finanziell molk wie eine Kuh. Dr. Werneck hätte nicht gewagt, nein zu sagen und einen Scheck nicht zu unterschreiben. Hartmut war wohl in seine Drogenkarriere zurückgefallen und hatte jeglichen Stolz oder Skrupel aufgegeben.
"Hartmut war immer schon psychisch labil, aber nach dem Unfall bekam er ziemlich große Probleme", berichtete Rehfeld weiter. "Er konnte mit dem, was in jener Nacht geschehen war, einfach nicht fertig werden."
Was ich verstehen konnte.
Der Rest war leicht zusammenzureimen. Vermutlich hatte ihn sein Vater wegen der Erpressung angesprochen, ihn gefragt, was auf den Psychiater-Bändern alles zu hören sein konnte, mit denen er unter Druck gesetzt wurde.
Als Lammers dann starb, hatte Hartmut offenbar vermutet, dass sein Vater mit der Tat in Zusammenhang stand, entweder als Täter oder zumindest als Auftraggeber. Möglich, dass Hartmut versuchen wollte, einen zweiten Mord zu verhindern, und ich ihn deswegen in der Nähe jener Wohnung traf, in der sich Annette versteckt gehalten hatte.
"Ich habe Hartmut für eine Weile für den Mörder gehalten", murmelte ich. "Schon wegen der Waffe, die er bei sich trug."
"Den Revolver hatte er wohl besorgt, um sich selbst umzubringen. Er hat ihn mir übergeben, als er aus der Versenkung auftauchte und seine Aussage machte. Es schien ihn sehr zu erleichtern."
"Wo ist Hartmut jetzt?"
"Für ein paar Wochen in der Klinik."
"Ich hoffe, er kommt darüber weg."
"Tja ..."
Ich nickte. Und irgendwie fand ich, dass es jetzt langsam Zeit zum Gehen war.
"Tja, so ist das also", murmelte Rehfeld, weil ihm nichts mehr einfiel.
Ja, dachte ich. Und in den nächsten Tagen würde man auch das in der Zeitung lesen können.
Rehfeld reichte mir die Hand. "Es tut mir Leid", sagte er, und ich wusste schon was.
"Mir auch", sagte ich, denn ich hatte ein paar wertvolle Arbeitstage verloren, die mir niemand ersetzte.
"Ich hatte wirklich geglaubt, dass Sie, Hellmer ... Naja, egal."
Rehfeld lächelte.
Ich erhob mich.
"Auf Wiedersehen", sagte Rehfeld.
"Besser nicht", sagte ich.
Wir grinsten beide.