Der Notfallpsychiater war soeben eingetroffen. Nach der Begrüßung und ein paar kurzen Worten der Erklärung überließ ihm Moretti den Sigrist. „Franz, wie weit seid ihr?“, fragte er ihn, als er von seiner Befragung zurückkam.
Der Rotschopf blickte kurz von seiner Arbeit auf. Er warf einen frohlockenden Blick zu Kari hinüber und war froh, dass niemand etwas von der Unterschlagung des Beweisstücks gemerkt hatte. Er hatte seine Fotosession beendet und die Kamera weggelegt, seitdem hantierte er mit Pinzette und Plastikröhrchen und Beutelchen herum, um abgefallene Stofffetzen, eingetrocknete Fleischstückchen oder Knochensplitter auf seiner Seite der Leiche einzusammeln, während Mäder dies auf der anderen Seite tat.
Auf der linken Ferse hockend, drehte er sich nach Moretti um und sah zu ihm hoch, als der sich neben ihn gesellte. Aus Bequemlichkeit legte er die Unterarme über Kreuz auf das angewinkelte Knie, damit seine behandschuhten Hände nicht in der Luft baumeln mussten und keinen Fremdkontakt bekamen. Die möglichen Hinweise durften nicht mit der eigenen DNA oder anderen Fasern kontaminiert und damit verunreinigt werden. „Eine Riesensauerei, Paolo“, murmelte er. „Wir haben Stiche hier und hier, Schnitte hier und hier, die Brandwunden könnten von Zigaretten her stammen.“
Sutter schüttelte den Kopf: „Zuviel Russ. Sieht eher aus wie abgebrannte Kohle eines Holzstabs. Schick’s zu Fiala ins Labor.“ Laborchef Wolfgang Fiala war eine Koryphäe auf dem Gebiet, der würde hoffentlich etwas in den gesammelten Beweisstücken finden!
„Hinweise auf die Waffen?“
„Nichts Bestimmtes. Etwas messer- oder dolchartiges. Die Breite lässt auf etwas Gröberes schließen.“
„Demnach wären die Wunden recht tief.“
„Ja. Aber sie haben ihn nicht getötet.“
Missmutig runzelte Moretti die Stirn. „Woran ist er gestorben?“
Scherrer zuckte entschuldigend mit den Achseln und verlagerte sein Gewicht aufs andere Bein. „Custer hatte recht, es gibt keine Hinweise auf einen wirklich tödlichen Einstich. Wahrscheinlich verblutet.“
„Das arme Schwein!“
Scherrer nickte mit einem bedauernden Seufzer: „Der Scheißkerl hatte eine Ewigkeit Zeit, um ihm das zuzufügen und beim Sterben zuzusehen!“
„Wie lange?“
Er zuckte die Achseln: „Wenn er keine Arterie erwischt hat, mindestens 20 Minuten.“
„Die Folterung mit eingerechnet im schnellsten Fall mindestens eine Stunde oder länger.“ Sutter entzog sich dem Gespräch, als ihm eine Idee kam, klaubte sein Handy aus der Tasche und wandte sich ab, um zu telefonieren.
Morettis Miene verfinsterte sich. Er hasste solche Typen, die Tieren und Menschen so etwas antaten und zur Freude oder Aufgeilung leiden ließen. Seine Frau erzählte ihm ab und zu Szenen aus dem Fernsehen, wenn ein besonders blutiger Krimi, meist amerikanischer Art, sie nicht einschlafen ließ. Er hatte sie bisher immer dahingehend beruhigt, dass es ja nur ein Film sei, doch nun war dieser Horror tatsächlich Wirklichkeit geworden! Und erst noch in seiner Stadt! Moretti überbiss fast vor Wut auf den unbekannten Täter. So ein Kerl hatte nichts anderes als selbst den Tod verdient, und seiner Meinung nach am liebsten auf die gleiche, qualvolle Weise, um es ihm heimzuzahlen und gleichzeitig andere und Trittbrettfahrer von solchen Gräueltaten abzuhalten! Wenn es nach ihm und einem Teil seiner Mannschaft gegangen wäre, hätte die Justiz mit solchen Kerlen viel härter verfahren müssen als sie es gegenwärtig aufgrund der bestehenden Gesetze tat! Schwerstarbeit wie Steineklopfen am Sustenpass für Kleinkriminelle und Drogenhändler, das wären seine Maßregelungen gewesen! Nichts anderes außer Kost und Logis für Asylbewerber, um die Schweiz für Kriegs- und andere Flüchtlinge weniger attraktiv zu machen! Seiner Meinung nach schafften es die wirklich armen Schweine, die Hilfe nötig gehabt hätten, gar nicht bis hierher! In die Schweiz schafften es nur solche mit Geld, und das waren sicher nicht die, die am Schlimmsten verfolgt wurden! Betrachtete man die Statistiken, was Moretti gerne zum Ausgleich tat, dann wurden viele der, vor allem jüngeren, Asylbewerber oder in der Schweiz lebenden Immigranten straffällig oder fielen sonst durch negatives Verhalten wie Pöbeleien, Schlägereien oder Raserunfälle mit tödlichem Ausgang auf! Dann kamen noch häusliche Gewalt wie Misshandlungen, Vergewaltigungen, Beschneidungen, oder dann die, die sich sonst nicht integrieren und an die schweizerischen Gesetzgebungen anpassen wollten! Von den jährlichen rund 45% verurteilten ausländischen Personen gehörten 21% der ausländischen Wohnbevölkerung an, 19% waren Touristen und Übernachtungsgäste, 6% Grenzgänger oder illegale Ausländer. „Zeitpunkt seines Todes?“, fragte er methodisch.
„Die Blutplättchen und die Sekretflüssigkeit haben sich getrennt, das Blut ist schon ziemlich eingetrocknet.“ Chefforensiker Hans Mäder deutete auf die größte Lache, die sich auf Höhe des aufgeschlitzten Brustkorbes befand. Beim Hochblicken war seine grüne Operationshaube leicht verrutscht, so dass nun etwas mehr von seinem silbernen Haar sichtbar war. Auf seinem Arbeitskittel zeigten sich bereits die ersten Blutschlieren, die vom Opfer her stammten. „Der Körpertemperatur nach zu schließen vor etwas mehr als sechs Stunden. Wolfgang wird uns später sicher Genaueres sagen können“, erklärte er.
Moretti nickte mit einem tiefen Seufzer. Er warf einen Blick zu Sutter hinüber, der noch immer telefonierte.
„Wann genau?“, hörten sie ihn fragen. Sutter krauste die Stirn, bevor er nickte und mit dem iPhone in den Händen zum Tatort zurückkehrte. „Ich habe soeben nochmal mit den Kollegen von der Sta-Po telefoniert, Chef“, lenkte er dessen Augen, die ohnehin schon auf ihn gerichtet waren, mit einer eindeutigen Ansage auf sich.
Auch die Umstehenden wandten ihre ungeteilte Aufmerksamkeit für diesen kurzen Moment ihm zu. In Morettis Blick stand eine stumme Frage, die Sutter mit einem Nicken beantwortete: „Der Anruf für die Vermisstenanzeige von August von Hesse ging gestern Abend um 9 Uhr 12 ein. Seine Frau hat ihn seit dem Nachmittag nicht mehr gesehen.“
„Und der Todeszeitpunkt ist wirklich erst sechs Stunden her?“ Moretti wurde rot vor Wut, die ihn umstehenden Männer beim Gedanken an die lange Zeit und die vielen Möglichkeiten, die der Mörder gehabt hatte, um dem Gefangenen Schmerzen zuzufügen, wurden blass.
„Plus minus“, nickte Hans Mäder, der vom Toten wieder zu ihnen hochsah.
„Verdammt!“ Nach diesem lästerlichen Fluch stieß Moretti einen abgrundtiefen Seufzer aus. Dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit tatsächlich um den Politiker handelte, erschwerte seine Suche nach dem Mörder um ein Vielfaches! Insbesondere die Dringlichkeit, mit der die Behörden und vor allem die Presse um Aufklärung verlangen würden, würde sein Team ins Rotieren bringen! Das bedeutete viel mehr öffentliche Aufmerksamkeit, viele Überstunden und dass ihnen ständig jemand im Genick sitzen würde, der neue Informationen über den Fall haben wollte. Und dass es sich in Zusammenhang mit dem Mord noch um eine solche Brutalität des Mörders handelte, setzte ihn augenblicklich unter Zugzwang.
Nach dem Ausrutscher hatte sich Moretti sogleich wieder in der Gewalt. Er nickte und versuchte seinen Ärger und seine Verzweiflung mit einer stoischen Miene zu überbrücken: „Ihr wisst, was das bedeutet, Jungs! Verschafft mir alle Unterlagen, im Eiltempo! Und haltet mir vor allem die Presse vom Leib! Solange wir verschweigen, dass wir wissen oder vermuten, wer er ist, desto länger haben wir noch etwas Luft! Ich will jedes Haar und jedes Detail!“
Custer blickte mit interessierten Augen von einem zum anderen. „Wissen es die Angehörigen schon?“, warf er schnell ein.
Scherrer verneinte und schüttelte frustriert den Kopf. So ein Trottel! Wie hätten sie es auch anstellen sollen, wenn sie hier waren, um den Tatort zu sichern und nach ersten Hinweisen zu suchen? Dank dem Mörder und weil man so etwas nicht am Telefon erledigte, blieb diese undankbare Aufgabe an ihnen haften!
Moretti seufzte, um sich Luft zu machen: „Die überlassen es gern wieder uns, den Job zu erledigen, was?“ Aber es war klar, dass sie es würden tun müssen, auch wenn es ihm widerstrebte. Die AP hatte ihn wohl gefunden und sie auf den Platz geholt, aber nun waren sie am nächsten an ihm dran, die Aufgabe gehörte wie die Ermittlung ihnen.
„Ich kann das übernehmen, Chef“, anerbot sich Sutter.
Moretti nickte. „Ich komme mit. In Anbetracht der Persönlichkeit des Mannes dürfte das wohl erwartet werden.“
„Kann ich auch mitkommen?“, erkundigte sich Custer mit erwachtem Interesse hellhörig und kam ihm eilig entgegen, um ihm gleich folgen zu können, wenn der Chef sich dazu anschickte.
Die Männer warfen dem Grünschnabel einen gehässigen Blick zu.
„Schafft ihr es allein oder soll ich euch Verstärkung anfordern?“
Hans Mäder und Scherrer schüttelten fast gleichzeitig die Köpfe. „Kein Problem, Chef, alles unter Kontrolle!“
„Und nimm Custer mit, der zertrampelt uns unter Umständen nur wertvolle Beweise!“, fügte Scherrer halblaut hinzu, als er sah, dass der Ami vor erwarteter Enttäuschung bereits die Schultern hängen ließ. Er warf ihm einen verächtlichen Blick zu, obwohl er zu gern gewusst hätte, warum sich der Grünschnabel freiwillig ausgerechnet Moretti anschlossen. Das tat er sicher nur deshalb, weil er die Pedanterie des Chefs noch nicht kannte!
Sutter verzog vor Missvergnügen vergrämt das Gesicht, Moretti seufzte einvernehmlich. „Einmal muss er es ja mitbekommen, da kann es auch gut gleich sein. Wenn ihr mit ihm fertig seid, bringt ihn zu Marti in die Pathologie. Mal sehen, was unser Künstler aus den Knochen rausholt. Und er soll uns trotzdem eine Gesichtsrekonstruktion herstellen. Ich will absolut sicher sein, wenn wir ihn der Familie übergeben.“
„Wird erledigt, Chef.“ Scherrer und Mäder nickten schnell. Sie konnten es kaum erwarten, Custer loszuwerden.
„Und ihr beiden kommt mit mir. - Ihr wisst ja, was ihr zu tun habt“, sagte er wieder an die beiden Beamten gewandt.
„Logisch. Alles klar, Chef.“
Moretti nickte und warf Custer einen schnellen Blick zu, ehe er ihn wieder über seine Männer und die Szenerie am Boden schweifen ließ. „Lasst euch von Kummer die Bänder der Kameras aushändigen! Wie er sagte, gibt es rund ums Münster auch draußen Kameras! Ich will wissen, wie der Täter mit dem Opfer hier reinkam! – Und wenn ihr zurück auf dem Posten seid, möchte ich, dass ihr euch zu einem psychologischen Gespräch bei Dr. Letta anmeldet!“, verfügte er knapp. Damit wandte er sich ab, ohne eine Reaktion darauf abzuwarten, und trat Custer einen Schritt entgegen. Er wusste, dass sie solche Besuche beim Psychologen hassten, aber für ihre eigene Psyche musste es nach diesem Grässlichen halt nun mal sein. „Soweit alles klar bei Ihnen?“, erkundigte er sich höflich, bevor er ihm beinahe väterlich den Arm um die Schultern legte und das bleiche Gesicht musterte.
Der junge Mann nickte. Allem Anschein nach schien er das Ganze doch schlechter zu verdauen, als er vorher von Abhärtung geprahlt hatte! „Yes, sicher doch, klar.“ Seine Worte klangen ihm etwas zu pampig und verrieten eine gewisse Mühsal beim Bewegen der Zunge, die die Worte formte.
Moretti legte ihm die Hand auf die Schulter und drehte ihn gegen die Türe: „Das psychologische Gespräch gilt dann auch für Sie, wenn wir zurück sind, junger Mann! Kommen Sie, jetzt gehen wir erst mal einen Kaffee trinken, der wird uns jetzt gut tun“, schlug er freundlich vor, ohne zu wissen, dass Custer der Sinn nach etwas ganz anderem stand. Morettis Hand lag mit Nachdruck in seinem Rücken. Er eilte mit Custer und Sutter im Schlepptau zur Türe.
Custer brachte den Kommissar ins Stocken, als er kurz innehielt und über die Schulter zurückblickte. „Oder soll ich doch besser den beiden Agents helfen?“, schlug er vor, als hätte er es sich anders überlegt, doch Moretti schüttelte entschlossen den Kopf. Er wusste, dass seine Profiler gut waren, und er verließ sich auf ihre Aussage. „Nein, vielen Dank, unsere Leute schaffen das auch allein!“, erklärte er knapp, um sich nicht auf weitere Diskussionen einzulassen.
„Und was tun wir jetzt?“, erkundigte sich Custer neugierig, „ich meine, müssen wir denn Kaffee trinken gehen?“
Moretti warf ihm einen genervten Blick zu. Eigentlich gehörte dieses Greenhorn als Zivilist gar nicht hierher! Und er hatte gar keine Zeit, um ihn in diesen Fall richtig einarbeiten zu können! Eigentlich hätte er ihn auf den Posten zurückbringen und ihn dort seinen Bürogummis überlassen sollen! Doch schließlich entschied er sich, ihn trotzdem mitzunehmen. „Dann statten wir seiner Familie halt jetzt sofort einen Besuch ab!“, erklärte er mit Verärgerung knapp. Er hätte sich gerne ein Tässchen genehmigt, um etwas Abstand zu bekommen. Aber niemand sollte ihm nachsagen können, dass er Zeit verplemperte, statt die Angehörigen sofort aus ihrer Angst und Ungewissheit zu befreien!
Auf Custers Miene stahl sich ein Lächeln zurück. „Und Sie nehmen mich wirklich mit?“ Die Frage klang hörbar aufgeregt und fast ein wenig nervös. Er ließ sich vom Chef aus der Basilika bugsieren, und sein Gesicht bekam langsam wieder etwas Farbe.
Wie ein Chamäleon!, ging es Sutter durch den Kopf. Die beiden Freunde warfen sich beredte Blicke zu.
Moretti nickte. „Irgendwann werden Sie selbst damit konfrontiert werden. Es kann also gut auch jetzt gleich sein! Oder haben Sie auf diesem Gebiet auch schon irgendwelche Erfahrungen?“, erinnerte er sich an seine Erklärung mit der Schlachterei.
Rasch schüttelte er den Kopf: „Nein, Sir. Bisher hatte ich noch nie die Ehre...“
Er ließ den Satz in der Luft hängen, zumal ihn Moretti mit offenem Mund und gerunzelter Stirn entgeistert anstarrte. Allem Anschein nach hatte Custer überhaupt keine Ahnung, um was es sich hierbei handelte! „Nein, Junge, keine Ehre!“, knurrte er kopfschüttelnd, „ein Pflichtbesuch! Den Angehörigen das Ableben eines Familienmitglieds mitzuteilen ist etwas vom Härtesten, das es in unserem Job überhaupt gibt!“
Custer hob überrascht eine Augenbraue in die Höhe. „Härter als das, was wir vorgefunden haben?“
Moretti nickte. „Wenn Sie sich in die Lage versetzen, den Leuten beibringen zu müssen, dass ihr Vater, Sohn oder Bruder nicht mehr nach Hause kommt und dass das die schlimmste aller Nachrichten ist, die sie den Familienangehörigen überhaupt überbringen können, dann kriegen Sie in etwa eine Vorstellung davon, wie schwer es ist, diese Tatsache in Worte zu fassen.“
„Yes, Sir.“ Custer nickte höflich, obwohl er mit ihm nicht einer Meinung war.