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Die Zeit lief ihnen wie Sand durch die Finger. Sutter und Moretti zogen es vor, zu schweigen, Custer brütete dumpf und missmutig vor sich hin, weil sich niemand mehr um ihn kümmerte. Er hatte sich die hiesige Polizeiarbeit interessanter und die Kollegen netter vorgestellt. Doch innerlich fieberte er dem Landsitz der von Hessens entgegen; die von Hessens gehörten zu den angesehensten Patrizierfamilien im ganzen Kanton.

Gut Maierhofen, ihr Sitz in Schlosswil glich eher einem kleinen Landschloss. Von ihren Gründervätern erbaut, bestand die Villa seit dem 14. Jahrhundert. Das dreistöckige Sandsteingebäude lag sanft in die Natur eingebettet zwischen Säuleneiben, Zypressen, Koniferen und blühenden Rosenrabatten. Unter den Fenstern hingen Pflanzentröge mit Geranien und Hängepetunien, an Spalieren wurde Glyzine hochgezogen, am Nebengebäude, das vermutlich einmal als Pferdestall genutzt worden war, rankte sich großblättriger Efeu empor, der sich mit seinen Trieben an den rauen, brüchigen Mauern wie mit Haftklammern festhielt.

Custer staunte über die Größe und Vielfalt des Anwesens. Das Portal bestand aus einem mannshohen, schmiedeeisernen Tor, das sich bei ihrem Näherkommen wie von Geisterhand öffnete. Der Pförtner saß hinter einer drei Meter hohen, buschigen Säuleneibe in einem kleinen Häuschen. Er war ein kleiner, untersetzter Mann mit Nickelbrille und Halbglatze, der sich aus dem aufgeschobenen Fenster beugte.

„Kriminalpolizei Bern.“ Sutter machte ein dienstliches Gesicht und zeigte ihm seine Marke. „Ist jemand von Hessens zuhause? Es ist dringend!“

Der ältliche Mann warf einen prüfenden Blick auf die beiden Beifahrer, ehe er nickte. „Sie haben Glück, dieses Wochenende gehört der Familienkiste. Die ganze Verwandtschaft ist da.“

Moretti beugte sich zu Sutter hinüber, um den Portier sehen zu können. „Gut. Würden Sie uns dann bitte anmelden?“

Sichtlich unruhig rutschte er auf seinem Sessel herum. Obwohl er Sutters Dienstmarke als echt beurteilt hatte, zögerte er, weil die Herrschaften erfahrungsgemäss während ihren Festivitäten nur ungern gestört wurden – außer es war etwas wirklich Wichtiges. „Tut mir leid“, druckste er verlegen herum, „wenn es sich nicht um etwas wirklich Dringendes handelt...“

Custer warf ihm stirnrunzelnd einen mürrischen Blick zu. Er befürchtete bereits, Moretti würde sich davon möglicherweise abhalten lassen, seiner Pflicht nachzukommen.

Stattdessen fuhr dieser freundlich fort: „Wie wir hörten, wird der Patron seit gestern Nachmittag vermisst. Vielleicht haben wir irgendwelche Hinweise“, deutete er vorsichtig an.

Der Pförtner nickte mit einem tiefen, erleichterten Seufzer: „Dann haben Sie Herrn von Hesse gefunden?“

Moretti hatte nicht vor, dem Angestellten darauf zu antworten: „Bitte, melden Sie uns dem Hausherrn. Können wir jetzt durchfahren?“

„Ja ja, natürlich.“ Der kleine Mann nickte hastig und bedeutete ihnen weiterzufahren. „Wenn Sie auf diesem Weg bleiben, kommen Sie direkt zum Haus. Ich sage ihnen oben Bescheid.“

„Danke.“ Moretti lächelte ihm zu und setzte sich wieder gerade hin, während ihm Sutter gnädig zunickte. Er trat vorsichtig aufs Gas, damit die Räder auf der Naturstrasse nicht durchdrehten und unschöne Spuren im Kies hinterließen.

Nach der Lorbeerhecke führte der Weg durch ein Spalier von alten Edelkastanien über einen gekiesten Weg bis zum Herrschaftshaus. Ein steifer, livrierter Angestellter empfing sie auf dem durch zwei Treppenstufen erhöhten Portal. Er stand, die Hände auf dem Rücken verschränkt, abwartend da und blickte ihnen mit unbeweglicher Miene in scheinbar stoischer Gelassenheit entgegen.