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Meine Herren, Herr von Hesse empfängt Sie jetzt“, erklärte dieser den drei Beamten, die er in der Eingangshalle hatte warten lassen.

Moretti nickte angelegentlich. Sie folgten ihm hinüber in die Bibliothek.

Es war ein Raum scheinbar ohne Ecken, der durch seine wabenförmige Struktur und die Raumhöhe sowie die erhöhte Flucht, von der aus drei Türen in weitere Räume hinüberführten, dem Betrachter eine optisch größere Dimension vorgaukelte, so dass die randvoll gestellten Bücherwände mit den zwischen ihnen hängenden, schweren Gemälden den Besucher nicht allzu sehr erdrückten. Dennoch sah es hier ein bisschen aus wie in einem verstaubten Museum.

Frank August von Hesse blickte den Beamten mit einem erhaben fragenden, fast hochmütigen Ausdruck entgegen. Er war ein hochgewachsener, attraktiver Mann mit dunklen Augen und dunklen Schopf. In seinem grauen Anzug mit Krawatte und gestärktem Hemd sah er steif und unnahbar aus. Custer schätzte in um die vierzig. Distanziert hatte er die Arme auf dem Rücken verschränkt und die Schultern zurückgezogen, um ihnen mehr Standhaftigkeit vorzugaukeln, als er in Wahrheit besaß, denn im Moment fühlte er sich eher, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggerissen.

„Herr von Hesse“, stellte der livrierte Butler mit einer entsprechenden Geste auf seinen Arbeitgeber vor, der inmitten der geschmackvoll eingerichteten Bibliothek stand und ihnen mit abwartender Miene entgegenblickte.

Moretti trat forsch auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. Die beiden anderen folgten dich hinter ihm. „Kriminalpolizei Bern, Moretti. Das sind Korporal Sutter und Morgan Custer, ein externer Berater“, erklärte er knapp, ohne näher auf dessen Aufmachung oder Funktion einzugehen, während er gleichzeitig mit den Daumen auf die Männer deutete.

Kühn trat Custer einen weiteren Schritt näher, um dem Adligen ebenfalls die Hand zu reichen, besann sich dann aber aufgrund der distinguierten Haltung scheinbar doch anders und blieb in höflichem Abstand stehen. Er musterte den attraktiven Mann vor sich mit aufmerksamen Augen und einem merkwürdigen Blick.

„Was beschert uns Ihre Anwesenheit?“, erkundigte sich von Hesse mit einem unguten Gefühl im Magen. Seine Stirn war beunruhigt gefurcht, die Stimme klang rau wie Sandpapier.

Kommissar Moretti kam ohne Umschweife sofort auf den Grund ihres Besuches zu sprechen, da ihm Floskeln oder das Um-den-heißen-Brei-Herumgerede ein Gräuel war: „Wie ich hörte, vermissen Sie Ihren Vater.“

Frank August nickte mit leicht verkniffener Miene, das ungute Gefühl, das ihn seit der Ankündigung der Polizei ergriffen hatte, verstärkte sich in einem Masse, dass ihm halb schlecht davon wurde, als er bestätigte: „Er kam gestern Nachmittag nicht mehr vom Weinberg nach Hause. Was hat sein Verschwinden mit der Kriminalpolizei zu tun? Das gehört normalerweise nicht in Ihr Ressort.“ 

Der durchdringende Blick seiner dunklen Augen verriet Moretti, dass er bereits irgendwelche Zusammenhänge zu interpretieren begann. Mit einem bedauernden Seufzer nickte er. „Das trifft leider zu.“

Frank August schloss die Augen und schluckte seinen Kloß hinunter, um etwas Zeit zu gewinnen, um sich zu fassen. „Ich hab’s geahnt. Gleich, als Sie mir angemeldet wurden.“

„Ich bedaure, aber... ich befürchte, wir haben Ihnen eine traurige Mitteilung zu machen“, steuerte Moretti direkt auf sein Ziel zu.

Von Hesse schluckte, die Stimme wollte ihm kaum mehr gehorchen, um die Frage zu stellen, die ihm auf der Zunge brannte: „Wo haben Sie ihn gefunden?“

„Im Berner Münster.“

Hesse runzelte überrascht die Stirn, es sah aus, als zuckte er sogar zusammen. „Was?“ Ungläubigkeit malte sich auf seiner Miene. „Mein Vater ging außer zu Familienanlässen nie in die Kirche!“

Moretti nickte: „Vermutlich nicht ganz freiwillig. Die Umstände sind durchaus rätselhaft. Und wir sind auch nicht hundertprozentig sicher, ob es sich wirklich um Ihren werten Herrn Vater handelt. Wir wären Ihnen deshalb dankbar, wenn Sie...“

Frank August schluckte. Moretti brauchte nicht weiterzusprechen, er nickte schon, als wollte er es gar nicht hören, oder als hätte er sein Anliegen schon verstanden, als er sich sofort bereit erklärte: „Natürlich stehe ich Ihnen zur Verfügung.“

Obwohl Custer ihm zuhörte, hatte er sich abgewandt und betrachtete ein weiteres Mal eingehend das große, geschmackvoll eingerichtete Zimmer. Er fand, dass es mehr war als eine Bibliothek, viel eher eine Ahnengalerie. Schwere Stuckaturen hingen von der hohen Decke herab, Fresken von nordländischen Gottheiten und den zeitlosen Gesichtern vergangener Epochen starrten auf sie hinunter. Er fühlte sich unter den Augen dieser Vorfahren fast gedemütigt und peinlich berührt, wie sie ihn anstarrten. Ihre stechenden Blicke schienen ihn zu durchbohren und bis auf den Grund seiner Seele zu blicken, er fühlte sich von ihnen beobachtet und unwohl und dennoch von ihrem Anblick wie magisch angezogen. Moretti und Sutter hingegen sahen aus, als schienen ihnen die Fratzen und Gesichter scheinbar nichts auszumachen.

„Ich möchte Sie bitten, mit uns zu kommen, um Ihren Vater zu identifizieren“, beendete Moretti seinen angefangenen Satz trotzdem, um Hesse seinen Wunsch dennoch klar zu definieren.

Dieser nickte rasch, bevor er dann doch zögerte: „Selbstverständlich, keine Frage. Ich muss nur zuerst meine Familie informieren...“

Moretti blickte ihn aus seinen dunklen Italieneraugen bedauernd an. „Tut mir leid, dass wir Ihnen keine bessere Nachricht bringen konnten.“

„Ja, mir auch.“ Frank August nickte mechanisch. Seine Zunge klebte schwer am Gaumen und bereitete ihm Mühe, normal und nicht zu kloßig zu sprechen. Seine Gedanken überschlugen sich. Mit dem alten Patriarchen war das Leben nicht immer einfach gewesen und mehr als einmal hatte er ihn verflucht und ins Pfefferland gewünscht. Aber dass er ausgerechnet jetzt und scheinbar noch nicht mal auf normale Art und Weise von ihnen gegangen war, ging ihm nun doch ziemlich an die Nieren. „Wie ist er gestorben?“, fragte er krächzend.

Moretti hasste die Frage. Es war niemals einfach, den Hinterbliebenen die traurige Nachricht leichter zu machen.

„Er wurde ...“

„Ich weiß!“, unterbrach von Hesse Custer ruppig mit einer herrischen Handbewegung, die dem naseweisen Grünschnabel Stillschweigen befahl. Eigentlich wollte er gar keine Details hören. „Hat er lange gelitten?“, fragte er trotzdem, weil er sich nachzuhaken verpflichtet fühlte.

Moretti fühlte sich jedes Mal bei einer solchen Frage äußerst unwohl. Es war nicht einfach, den Angehörigen die Wahrheit begreiflich zu machen. „Der Pathologe ist noch an den Abklärungen“, wich er deshalb höflich aus, um etwas Zeit zu gewinnen. Wenn von Hesse in Bälde den Leichnam sah, würde sich die Frage und ihre Beantwortung vielleicht erübrigen. „Ich nehme an, Ihr Vater war niemals selbstmordgefährdet? Oder hing er einer todessüchtigen Sekte an?“, umging er die Erwartung einer richtigen Antwort mit einer Gegenfrage.

Von Hesse schüttelte so erregt den Kopf, dass ihm eine seiner peinlich zurückgekämmten Haarsträhnen in die Stirn fiel. Was fällt Ihnen ein!, stand dabei in seinem schlagartig aggressiven Blick zu lesen.

Auch Custer sah ihn vorwurfsvoll an.

„Um Gottes Willen, nein, niemals! Sie machen mir ja Himmelangst, Kommissar!“, lautete die schroffe, klare Antwort, die dieser ja schon erwartet hatte. Aber es war gut, dass diese Möglichkeit damit geklärt war, um mögliche Auswüchse von Spekulationen gleich im Keim zu ersticken.

Seufzend nickte er. „Das habe ich mir gedacht. Da wir das damit definitiv ausschließen können, muss ich Ihnen, bevor Sie ihn sehen, leider mitteilen, dass Ihr Herr Vater einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel.“

Frank August nickte, als wäre es selbstverständlich das Naheliegendste, dennoch versagte seine Stimme fast den Dienst: „Was ich befürchtet habe. Als er gestern nicht zum Abendbrot erschienen ist, das er sonst niemals ohne telefonische Absage verpasst, war eine Entführung mein erster Gedanke.“

Überrascht zog Moretti eine Augenbraue in die Höhe. „Dann hatte Ihr Vater also Feinde?“

Hesse warf ihm einen anzüglichen Blick zu. Diesmal war sein Tonfall beinahe grob: „Ein Mann wie er hat niemals nur Freunde!“, lautete die knurrige Antwort.

Moretti bedachte ihn mit einem forschenden Blick. Einen Moment lang wusste er nicht, was er darauf sagen sollte. Sein berufsbedingtes Misstrauen war sofort geweckt. Dieser Mann war bei der Nachricht zwar erschrocken, aber er schien nicht zu trauern.

„Wie war er denn, Ihr Vater?“, drängte sich Custer nun doch neugierig vor, ehe Moretti die passenden Worte finden konnte.

Mit einem tiefen Seufzer zuckte Frank August die breiten Achseln. Er blickte zu Boden, als müsste er sich die Antwort zuerst reiflich überlegen, ehe er antwortete: „Er war ein sehr einflussnehmender, für manche fast furchteinflößender Mann, sehr streng, zu sich selbst und allen anderen. Wir hatten alle einen schweren Stand gegen ihn!“

Moretti fand die Aussage sehr aufrichtig. Vielleicht war sie auch dumm, weil der Kreis der Verdächtigen dadurch auch nahestehende Mitglieder – und auch ihn - mit einschloss, aber er hielt Hesse nicht für dumm. Wahrscheinlich ging er nicht von dieser möglichen Variante aus. Trotzdem musste er ihm mit seinem beruflichen Argwohn die Frage stellen: „Gab es auch Feindseligkeiten innerhalb der Familie?“

„Nein!“ Nachdrücklich schüttelte Frank August den Kopf, um dann ruhiger zu relativieren: „Natürlich gab es Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Familie. Über die Art seiner Clan-Führung, zum Beispiel, und über...“ Er stockte. Seine Frauengeschichten, wollte er sagen, aber das ging niemanden etwas an, gemunkelt wurde ohnehin schon genug. Er zuckte mit der Schulter, ehe er fortfuhr: „Über manches andere halt. Aber ihn deswegen zu ermorden, schließe ich definitiv aus.“

Moretti und Sutter beobachteten seine Reaktionen scharf. „Wie sicher sind Sie?“

„Auf einer Skala von eins bis zehn? Bei neun.“

Moretti nickte. „Wenn Sie erlauben, hätte ich trotzdem gern eine Liste von all Ihren Familienangehörigen mit Hinweis auf eine mögliche Feindseligkeit.“

Von Hesse drehte den Arm aus dem Ellbogengelenk heraus und deutete mit der Hand auf die mittlere der drei geschlossenen Türen, die in weitere Räumlichkeiten hinüberführten. „Wenn Sie möchten, können Sie jeden einzelnen gleich selbst befragen.“

„Das trifft sich gut. Ich habe gehört, dass alle hier sind?“

Er nickte. „Ja. Ein etwas abstruser Zufall. Wir halten unsere alljährliche Familienkiste ab, ein Familienfest.“

„Ach so.“ Moretti zog etwas nachdenklich die Augenbrauen in die Höhe; der Argwohn war ihm deutlich anzumerken.

„Es findet jedes Jahr am selben Wochenende statt“, erklärte von Hesse ungemütlich, dem die wortlose Anspielung sofort negativ auffiel. „Wir haben uns gestern Abend hier zusammengefunden, um unsere Familientradition weiterzuführen. Es sind alle hier, ausnahmslos.“

„Welch ein Zufall!“, spöttelte Custer spitz.

Genervt schüttelte von Hesse den Kopf. „Das erwähnte ich ja gerade! Aber nein, es ist jedes Jahr dasselbe Datum; ich meine, dasselbe erste Wochenende im September.“

Mit der schlechten Angewohnheit des Polizisten blieb Sutter wie auch sein Chef trotzdem argwöhnisch: „Und was feiern Sie nochmal?“

„Unsere Familienkiste.“

„Was ist das?“

Moretti hatte schon davon gehört. Auf Custers neugierige Frage sagte er schnell: „Sutter kann das übernehmen. Gibt es jemanden, der zwischen gestern Nachmittag und in der Nacht nicht mit Ihnen zusammen war?“

Von Hesse hob den Blick zur Decke empor und dachte einen Moment lang nach, bevor er den Kopf schüttelte. „Nicht, dass ich wüsste.“

„Gut. Sutter, dann übernehmen Sie die Befragung der Gäste, während ich mit Herrn von Hesse zur Pathologie fahre. Ich nehme doch an, dass wir das gleich erledigen können, oder?“

Der Beamte und der junge Adlige nickten beide fast gleichzeitig, ehe sich Frank August abwandte und auf die mittlere Türe deutete. „Wenn Sie mich also einen Moment entschuldigen, dann werde ich jetzt der Familie Bescheid sagen und sie darauf vorbereiten, was passiert ist.“ Ohne die Antwort abzuwarten, eilte er davon und nahm die Stufen zur Empore mit zwei langen Schritten.

„Fühlen Sie sich dazu in der Lage?“, fragte ihm Moretti höflich hinterher, „oder wäre es Ihnen angenehmer, wenn ich es täte?“

Vor der geschlossenen Türe, auf die er zuvor gedeutet hatte, drehte er sich mit ernster Miene halb um und schüttelte den Kopf. Die Andeutung eines gequälten Lächelns umspielte seine Mundwinkel, als er fast zynisch antwortete: „Angenehmer, ja, aber nicht nötig. Nach Vaters Ableben bin ich das Familienoberhaupt. Es würde mir als Schwäche ausgelegt und an meinen Führungsqualitäten gezweifelt, wenn ich es nicht selbst täte. Aber trotzdem vielen Dank. Sie entschuldigen mich also bitte einen Moment.“

Großzügig pflichtete ihm Moretti verständnisvoll bei und gestattete ihm, dass er sich zurückzog: „Natürlich. Tun Sie, was Sie tun müssen. Und sagen Sie ihren Leuten, dass Korporal Sutter anschließend jedem von ihnen ein paar Fragen stellen wird. Wir werden in der Zwischenzeit hier auf Sie warten.“

Ohne zu antworten, wandte sich der hochgewachsene Mann wieder um und trat durch die Tür zurück in den großen Salon, wo sich die Familienangehörigen aufhielten.

Moretti hatte den Eindruck, dass die Autorität in seiner Haltung durch die schlechte Nachricht etwas abgenommen hatte und seine Schultern leicht nach vorne gerollt waren. Fühlte er sich bedrückt durch den Tod seines Vaters oder fühlte er sich schuldig?

„Gott sei Dank bin ich nicht hochwohlgeboren worden und gehöre in die Sparte der gewöhnlichen Leute!“, seufzte Sutter nach seinem Verschwinden erleichtert.

Custer öffnete vor Staunen den Mund und warf ihm einen verständnislosen Blick zu, und Moretti verzog die Mundwinkel zu einem angedeuteten Lächeln. Er klaubte sein Handy aus der Halterung am Gürtel und rief Scherrer an. Es dauerte einen Moment, bis dieser abhob.

„Ja, Chef?“, hörten sie Scherrer danach aus dem Mikrofon.

„Wie weit seid ihr mit unserem verstorbenen Freund?“