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Als Frank August im Nebenraum aus der Tür trat, richteten sich sofort aller Augen auf ihn. Mit seinen leicht nach vorne hängenden Schultern sah er deutlich bedrückt aus. Er schluckte schwer, ehe er sich aufraffte und nach einem tiefen Durchatmen das Wort ergriff:  „Es tut mir leid, Freunde, ich habe euch eine traurige Mitteilung zu machen.“

Abwartend blickten sie ihn an. Ausnahmslos alle waren verstummt. Die Gläser oder kleinen Snacks in den Fingern, verharrten ihre Hände wie aufgehängte Mobiles schwebend in der Luft.

„Maman, bitte, setz dich.“ Seine Stimme klang todernst und bewirkte, dass sie seiner Aufforderung ohne Widerrede Folge leistete.

Die hübsche, ältere Frau mit den silbergrauen Haaren, die sie kunstvoll hochtoupiert hatte, strich ihre Robe zurecht und nahm mit sichtlicher Nervosität auf einem der brokatenen Sessel Platz. Ihre Tochter Christina und seine Frau Selena, eine Chilenin, stellten sich schützend und mit ebenso fragender Miene flankierend neben sie.

Er warf ihnen einen bedauernden Blick zu. Es kostete ihn Mühe, zu sprechen. „Die Kripo Bern ist hier. Sie geht davon aus, Vater gefunden zu haben.“

Das Rückgrat der drei Frauen streckte sich fast wie auf Kommando. Münder öffneten und Augenbrauen hoben sich.

„Kriminalpolizei?“

„Oh mein Gott!“

„Was will denn die Kripo bei uns?“

„Grundgütiger! Das ist kein gutes Omen!“

Er sah, wie die Blicke seiner engsten Familienangehörigen mit der ängstlichen Frage an ihm hingen. Mit einem tiefen Seufzer begleitet, schüttelte er betrübt den Kopf. „Das ist es in der Tat nicht.“

Er sah, wie Catherine schluckte, ihr kleiner Kehlkopf hüpfte deutlich sichtbar an ihrem schlanken Hals auf und ab. „Was ist mit ihm passiert?“, hauchte sie mit ihrer leisen, aber trotzdem gut wahrnehmbaren Stimme in die beklemmende Stille hinein.

Obwohl er es gern getan hätte, fand er keine Worte, um es ihr schonend beizubringen. Wie Moretti wünschte er sich in diesem Moment, in einem Mauseloch verschwinden und der Welt den Rücken zuwenden zu können. Seine Stimme kratzte: „Es tut mir leid, Maman, die Polizei geht von einem Gewaltverbrechen aus.“

„Oh mein Gott!“

Er sah, wie sie unter ihrer Schminke erblasste und sich an den Armen der Töchter festhalten musste, die sich sofort nach ihr umdrehten, um ihr auf diese schreckliche Nachricht Halt zu geben.

„Jesses!“

„Um Gottes Willen!“

„Bei meiner Seel!“ Auch in den Mienen der Gäste malte sich tiefste Bestürzung, und er sah, dass sich die meisten ebenso erschüttert fühlten wie er selbst und seine direkten Angehörigen.

„Wer könnte August Heinrich so etwas antun?“

„Er war doch ein so herzensguter Mensch!“, folgten die ersten Reaktionen, kaum hatten sich die ersten vom Schock ein wenig gefasst.

Nur gegen außen! Nicht wahr, Maman?, ging es Frank August durch den Sinn. Er warf seiner Mutter und den beiden Frauen einen bedeutsamen Blick zu. Im Kreis der Familie hatten sie schwer unter dem Patriarchen, und ihre Mutter unter seinen dauernden Frauengeschichten und seinem Fremdgehen gelitten und sich ab und zu seinen Tod gewünscht. Doch jetzt, wo ihn jemand umgebracht hatte, war keine Erleichterung zu spüren; es fühlte sich bei Weitem nicht so an, wie sie erwartet hatten. Da, wo der Vater als alleinige Autoritätsperson alles gelenkt hatte, klaffte plötzlich eine schwere Lücke, und Frank August sah sich in die schwierige Lage versetzt, die durchtrennten Fäden wieder zusammenfügen zu müssen, eine schwere Verantwortung, die plötzlich unvorhergesehen auf seinen Schultern lastete. Obwohl er auch schon über 40 und selbst Familienvater war, hatte es der Vater nie für nötig erachtet, ihm mehr Verantwortung und schon gar keine Pflichten zu übertragen; er war tunlichst streng darauf bedacht gewesen, alles unter seiner Kontrolle zu halten und hatte mit Argusaugen alle überwacht und mit strengem Regime regiert. Doch jetzt, wo ihn der Tod aus ihren Reihen gerissen hatte und er plötzlich selbst in die Bresche springen musste, um die Tradition der alljährlichen Familienkiste fortzuführen und zu versuchen, die Firma und den Familienbesitz zusammenzuhalten, musste er feststellen, dass der Tod den Vater viel zu früh ereilt hatte. Wütend stieß er einen Seufzer aus. Obwohl er schon sein Leben lang mit im Familienbetrieb dabei war und überall zugesehen hatte; obwohl er gedacht hatte, jeder Schritt und jede Handlung wäre ihm vertraut, stellte er urplötzlich fest, wie unvorbereitet er war und er außer Erinnerungen kaum etwas wirklich präsent hatte.

Die Zunge klebte ihm am Gaumen, es fühlte sich an, als käme er kaum zu Atem, als er nickend zur Bestätigung antwortete: „Wie wir leider feststellen müssen, kann es jeden treffen!“ Mit dieser Aussage umschiffte er geschickt die heikle Frage, ohne mit der reinen Wahrheit herausrücken zu müssen. Sie sollten das Familienoberhaupt in guter Erinnerung behalten, wie auch er sich bemühen wollte, aufgrund des gewaltsamen Todes nur noch das Gute zu sehen. Damit war er gewiss weiß Gott genug bestraft worden! - Er konnte ja nicht ahnen, wie sehr!

„Der Tod unseres Vaters hat eine schwere Bresche in unsere Reihen geschlagen! Wir sind von tiefster Trauer erfüllt und froh, diese schwere Zeit im Kreise unserer Familie verbringen zu können. Nichts desto trotz wollen wir unsere Tradition hochhalten und auch ohne ihn, oder besser ihm zu Ehren, die Familienkiste weiterführen.“

„Dieses gottlose Verbrechen!“

„Weiß man schon etwas über den Täter?“

Seufzend schüttelte er den Kopf. „Nein, dafür ist es noch zu früh. Der Kommissar ist sich auch nicht 100prozentig sicher, dass es Vater ist.“

„Dann gibt es noch Hoffnung?“, fragte Catherine von Hesse mit beinahe versagender Stimme.

Er war sich nicht sicher, ob sie die Frage stellte, weil sie ihn trotz allem tatsächlich geliebt oder das Gefühl hatte, dass es sich so geziemte. Kraftlos zuckte er mit den Achseln. „Ich weiß’ nicht, Maman. Ich gehe mit ihnen, um Vater zu identifizieren und schlage vor, dass ihr in der Zwischenzeit schon mal mit dem Essen anfangt. Herr Sutter von der Kriminalpolizei wird euch währenddessen ein paar Fragen stellen. Ich bitte euch, sie ihm wahrheitsgetreu zu beantworten, auch wenn sie unter Umständen vielleicht nicht angenehm sein werden. Ich hoffe, dass ihr euch trotz allem euren Appetit bewahrt habt, damit nicht zuviel weggeworfen werden muss. Christina und Selena werden um euer leibliches Wohl besorgt sein, bis ich wieder zurück bin.“

Die beiden jungen Frauen nickten ihm beruhigend zu.

Auch der ältliche Mann, mit dem er sich zuvor unterhalten hatte, bestätigte heftig: „Ja, ja, geh nur, Frank, wir kriegen das schon hin.“ Etwas umständlich, weil er aus Eitelkeit keinen Stock benutzte und deshalb nur langsam vorwärtskam, erklomm er die zwei Tritte nach oben. Hilfreich streckte ihm Frank August die Hand entgegen, um ihn vor einem allfälligen Stolpern zu bewahren, doch Onkel Theo war sicherer auf den Beinen, als er befürchtet hatte. Mit einem Augenzwinkern, weil er sich zuviel Sorgen um ihn gemacht hatte, legte er seinem Neffen mitfühlend die zittrige Hand auf die Schulter. Für seine Größe war der Großonkel viel zu mager, so dass er Hosenträger benötigte, die seine Hose oben hielten, und seine knochigen Schultern beinah durch das beige Wolljackett stachen, das er trug, weil er ständig fror.

Mit einem bekümmerten Blick wandte ihm Frank August das Gesicht zu. „Danke, Onkel Theo.“

Dieser nickte und versuchte ein beruhigendes Lächeln, das in seinem runzligen Gesicht eher zu einem Mundwinkelzucken geriet. „Wir werden dir auf deinem schweren Weg beistehen, mein Sohn. Wir sind alle für dich da und helfen dir, den Karren aus dem Sumpf zu ziehen, schließlich sitzen wir alle im selben Boot, nicht wahr.“

Frank August nickte, seine Stimme klang belegt, als er sich für den gutgemeinten, aufrichtigen Zuspruch bedankte. Er war gerührt über die Hilfsbereitschaft des alten Mannes. Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Salon.

Als sich die Türe wieder hinter ihm schloss, schwoll lautes Gemurmel an, mit dem sich die Familienmitglieder, jung und alt, ihre Fragen über das Warum und Wie von der Seele redeten und sie trotz der Unkenntnis der Lage zu beantworten versuchten, warum es ausgerechnet August Heinrich, den Patriarchen und mit ihm das Familienoberhaupt getroffen hatte. Sie unterhielten sich so laut, dass es selbst nebenan in der Bibliothek noch diffus zu vernehmen war. Obwohl auch die Frage erörtert wurde, ob es etwas mit der Familie zu tun haben könnte oder vielleicht doch reines Zufallsprinzip war, wusste niemand eine schlüssige Antwort darauf zu geben.