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Durch die geöffnete Tür betrat Sutter fast eingeschüchtert den Salon. Der große Raum war noch viel imposanter als die Bibliothek. Einmal mehr hielt sein wacher Verstand fest, dass er sich als Kind oder Jugendlicher in diesem Haus nie wohlgefühlt hätte.

Schlagartig war die Aufmerksamkeit von Jung und Alt auf ihn gerichtet.

„Guten Tag, meine Herrschaften“, grüßte er höflich. Man merkte ihm kaum an, wie unwohl er sich in diesem düsteren, seiner Meinung nach eher unheimlichen Wohnzimmer fühlte, wo die Augen so vieler Menschen auf ihm ruhten. „Ich muss Ihnen leider in dieser unangenehmen Situation und schweren Stunde ein paar Fragen stellen. Bitte entschuldigen Sie, wenn Sie teilweise sicher indiskret und nicht sehr taktvoll sein werden, aber beantworten Sie sie bitte trotzdem aufrichtig. Sie haben meine aufrichtige Anteilnahme, aber ich tue nichts anderes als meinen Job. Sie würden mir sehr helfen, vielleicht etwas Licht ins Dunkel zu bringen, um den Fall aufzuklären. Je kooperativer Sie sind, desto schneller sind Sie mich wieder los. Alles klar?“ Er blickte in die Runde und sah, dass die meisten nickten. Viele Gesichter waren ausdruckslos und abwartend auf ihn gerichtet. Er holte tief Atem und trat mit dem gezückten Notizblock auf die erste Person zu.

Frank August von Hesse eilte den Polizisten voran zur Türe, als Custer seine Frage von vorher ungezwungen wiederholte, ehe sie die Bibliothek verließen: „Was ist eine Familienkiste, Sir?“

Von Hesse blieb stehen und drehte sich wieder nach ihnen um. Indem er die Finger vor der Körpermitte ineinander verhakte und seine Haltung gleichzeitig etwas von ihrer Steifheit verlor, sah er aus, als wäre es ihm nicht unlieb, die Abfahrt noch etwas hinauszögern zu können. Obwohl er sich gern so schnell wie möglich Gewissheit über das Ableben seines Vaters verschafft hätte, fürchtete er sich genauso sehr vor der Endgültigkeit, die ihm mit der Bestätigung des Todes auf einen Schlag sämtliche Pflichten und Bürden auferlegte, obschon er von den meisten nicht die geringste Ahnung hatte. „Eine alte Familientradition, die seit Jahrhunderten von unserer Familie gepflegt wird und die letzten Jahrzehnte immer von meinem Vater geleitet wurde.“

„Um was handelt es sich denn? Ich habe noch nie von so was gehört.“ Custers Interesse daran war offensichtlich. Mit seinem Blick und seiner Haltung hechelte er wie ein Hund nach dem Knochen neugierig um die Einführung in diese uralte Tradition, die selbst Moretti nur andeutungsweise vom Hörensagen her bekannt war.

„Wenn Sie wollen, kann ich es Ihnen erklären. Wie sieht’s mit Ihrer Zeit aus, Herr Kommissar?“

Da es diesen ebenfalls interessierte und Pathologiechef Marti für die Kosmetikkorrekturen des Gesichts vielleicht noch etwas länger als üblich benötigte, nickte er. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

„Nein.“ Hesse schüttelte den Kopf. Er war im Gegenteil sogar ziemlich erleichtert, weil es ihn vielleicht ein bisschen von seinen Gedanken und Problemen ablenken, aber jedenfalls den Moment der Wahrheit noch etwas verdrängen würde. Seine Bewegungen waren fahrig, als er sich zu entschuldigen versuchte: „Bisher hatte ich damit nur am Rande zu tun, eigentlich eher weniger, mein Vater hat alles gemanagt. Mal sehen, ob ich es auf die Reihe kriege. Kommen Sie mit.“

Ohne nachzudenken, führte er sie durch ein paar ebenso ungewöhnlich reichhaltig ausgestattete Räumlichkeiten bis in den Westflügel, wo sie das Herrschaftsgebäude verließen und durch einen grottenähnlichen Gang hinter der Familienkapelle in die Totengruft hinabstiegen. Unter der Krypta, an die sich die Mausoleen der Verstorbenen anschlossen, stand in deren Mitte eine Truhe aus altersschwarzem Holz mit schweren Eisenbeschlägen.

„Das ist unsere Familienkiste“, erklärte er mit einer deutenden Geste auf die alte Truhe, „sozusagen ein von unseren Toten, Gott hab sie selig, bewachter Geldtresor.“

Morgan Custers Augen weiteten sich und wurden vor Staunen immer größer, sein Mund klappte auf. „Sie bewahren Geld bei sich zuhause auf?“ Dem Ausmaß der Truhe nach zu schließen, musste es ein Haufen Geld sein, der hier drin Platz fand!

„Natürlich, warum nicht?“ Custers Entsetzen trieb von Hesse ein schwaches Grinsen ins Gesicht. Mit einem Schulterzucken überging er den Einwand und fuhr mit seiner Darlegung fort.

Ganz ungezwungen ließen sie sich vom Hausherrn die Geschichte der Familienkiste erklären. Mit nachdenklich geneigtem Nacken und schräggestelltem Kopf lauschte Custer der monotonen Stimme, die die faszinierende Idee erläuterte: „Wir kommen jedes Jahr hier zusammen, um Geld zu zusammenzulegen, das dann Jugendlichen aus unserer Familie für Schulen und Ausbildung zugute kommt, wenn die Eltern dies finanziell nicht zu tragen in der Lage wären. Im Namen der Familie wird ein großer Teil auch für Entwicklungsprogramme, vor allem in der dritten Welt, an Altersheime oder andere gute Zwecke gespendet.“

„Was für eine tolle Idee.“ Moretti war beeindruckt von der gegenseitigen Unterstützung der Familienangehörigen und dem wohl zwangsläufig bestehenden, guten Familienzusammenhalt.

„Yeah, wirklich, phänomenal!“, stieß Custer begeistert aus. „Dieses Zusammenspielen in Ihrer Familie“, begleitete er mit dem Ineinanderhaken seiner Finger vor der Brust, um eine Kette darzustellen, „das wäre etwas, das auch in manch anderer Familie gut wäre!“

Hesse nickte leidenschaftslos. Für ihn war das nichts Ungewöhnliches, da er seit seiner Kindheit nichts anderes kannte, allerdings teilte er in diesem Punkt Custers Meinung.

Dessen Miene wechselte schlagartig von Begeisterung in tiefste Bestürzung: „Und all das bewahren Sie hier einfach so zuhause auf?“

Frank August nickte bestätigend mit einem ungerührten Schulterzucken. „Kaum jemand außerhalb der Familie, wie jetzt Sie, weiß etwas davon. Und es gibt meines Erachtens kaum jemanden, der so abgebrüht wäre, im Angesicht der Toten einen Raub zu begehen. Es wäre ja auch nichts Nennenswertes da.“

Ja, für dich vielleicht!, dachte Custer mit nachdenklich gerunzelter Stirn, und Moretti seufzte, was er so interpretierte, dass dieser wahrscheinlich ähnliche Gedanken hegte.

„Zudem bestehen natürlich schon gewisse Sicherheitsmaßnahmen“, räumte Hesse beruhigend ein.

„Gott sei Dank! Es wäre sonst wirklich ziemlich leichtsinnig von Ihnen!“

Er warf Custer einen belustigten Blick zu. „Ich danke Ihnen für Ihre Warnung, Herr Custer. Aber an den Hunden und der Alarmanlage beim Tor kommt niemand vorbei.“

„Und wenn doch jemand aufs Grundstück gelangen könnte?“

„Das können Sie definitiv ausschließen. Die Hunde hören nur auf Angehörige meiner Familie.“

„Na dann“, etwas ungemütlich wandte Moretti sich zum Gehen, „ich danke Ihnen, dass Sie so freimütig waren und uns eingeweiht haben. Bleiben Sie trotzdem vorsichtig. - Sind Sie bereit, wenn wir jetzt gehen?“ Er wollte nicht unhöflich erscheinen, aber die Angelegenheit nun trotzdem zügig hinter sich bringen, um sich endlich des Falls anzunehmen.

„Ich denke, zu so was kann man nie wirklich bereit sein, oder?“, erkundigte sich Hesse mit einem fragenden Seitenblick, während er auf dem Absatz kehrtmachte und ihnen wieder voranging.

Moretti pflichtete ihm bei. „Sie haben natürlich recht, die Frage ist absolut falsch gestellt. Ich danke Ihnen, dass Sie das auf sich nehmen und Ihre Zeit dafür opfern.“

„Es geht auch um unsere Gewissheit, nicht wahr?“

Es war ein sinnloses Wortgeplänkel, und doch half es ihnen, nicht die ganze Zeit an das schreckliche Ereignis, den Verlust – und in Hesses Lage, nicht an die Folgen zu denken.

Moretti hoffte, dass es Marti in der Zwischenzeit gelungen war, das Gesicht des Toten zumindest einigermaßen wieder etwas herzustellen. Es war unnötig, dass Frank August von Hesse das volle Ausmaß der Zerstörung des Täters an seinem Vater zu Gesicht bekam! Und er fürchtete sich schon jetzt vor der möglicherweise zu beantwortenden Frage, ob und wie lange er gelitten haben musste! Manchmal – insbesondere in diesem äußerst brutalen Fall, wo der Täter so ausgesprochen niederträchtig vorgegangen war, hasste er für eine kurze Zeit seinen Beruf. Es war das Undankbarste der Welt, Angehörige auf das Ableben, die schreckliche Tragödie und die Art und Weise vorzubereiten, und dann daneben zu stehen, wenn Worte keinen Trost mehr zu spenden vermochten.

Sie verließen die Kapelle durch den Hauptausgang und umrundeten das Herrschaftshaus über den schmalen Kiesweg, der zwischen den Rabatten und Rasenflächen angelegt war.

Der livrierte Butler trat mit Hesses Mantel über dem Arm aus dem Portal auf sie zu. „Roberts hat den Wagen schon vorgefahren, Herr von Hesse“, erklärte er, während er ihm dienstbereit in den langen Wollmantel half.

Frank August nickte. „Danke, Johann. Bitte seien Sie so gut und helfen Sie Selena und Christina mit den Gästen. Ich hoffe, ich bin bald zurück.“

„Natürlich. Machen Sie sich bitte keine Sorgen, wir stehen das schon durch. Ihr Onkel Theo versucht sie bereits ein bisschen mit seinen zweifelhaften, alten Witzen aufzuheitern.“

Frank August warf ihm mit hochgezogenen Augenbrauen tief seufzend einen eigenartigen Blick zu. Allem Anschein nach schienen Onkel Theos Witze nicht überall gut anzukommen, und was der Butler als zweifelhaft bezeichnete, ließ den Schluss zu, dass sie sich möglicherweise unter der Gürtellinie befanden.

„Ich fahre Ihnen hinterher, Kommissar“, erklärte Hesse kurz angebunden, indem er sich vom Butler abwandte und zu seinem Range Rover hinüberging, der mit laufendem Motor auf ihn wartete. Der Bedienstete, Roberts mit Namen, wie sich Moretti erinnerte, hielt ihm pflichtbewusst die Türe auf.

Der Kommissar nickte dem Butler kurz zu, dann klaubte er die Fahrzeugschlüssel aus der Uniformtasche und setzte sich hinters Steuer seines Dienstwagens.

Neben ihm schlug Custer die Türe zu und warf einen abwartenden Blick in seine Richtung. „So was habe ich ja noch nie erlebt“, sagte er, und es schien ihn wirklich beeindruckt zu haben, „die ganze Familie spendet Geld für mittellose Angehörige oder wohltätige Zwecke. Das ist grandios! Das Beispiel sollte wirklich Schule machen.“

Moretti nickte unbeeindruckt, während er den Wagen zurücksetzte und dann vor dem Range Rover das Hessische Anwesen über die aufwändige Zufahrt durch das prächtige schmiedeeiserne Tor wieder Richtung Bern verließ. Er hielt es nicht für nötig, dem Grünschnabel mit mehr als einem Nicken seine Aussage zu bestätigen.