Die Nachricht von Frank Augusts Ankunft verbreitete sich rasch. Neugierig wurde er von den Familienmitgliedern im großen Salon erwartet, wo das Mittagessen noch immer in vollem Gange war. Von Hesse war leicht außer Atem, als er das Wohnzimmer durch die Bibliothek betrat und dann oben auf der Erhöhung erschien. Sofort hielten alle inne mit dem, was sie soeben getan hatten, die Teller, Snacks oder Gläser in den Händen blieben in der Schwebe, die Gespräche verstummten schlagartig, als sich aller Augen ihm zuwandten und sich sämtliche Köpfe nach ihm umdrehten. Schützend von ihren Töchtern Selena und Christina flankiert, begab sich Catherine von Hesse sicherheitshalber in die Nähe eines Sessels aus Angst, falls ihr die Knie je nach Nachricht den Dienst versagen würden.
Frank wäre es lieber gewesen, wenn sie sich gleich gesetzt hätte, weil auch er angesichts der Information, die er für sie hatte, um ihre Sicherheit bangte, doch er wollte ihr den Beweis ihrer Standhaftigkeit auch nicht nehmen, indem er sie vielleicht unnötigerweise darum bat.
Durch die ungeteilte Aufmerksamkeit der Familienmitglieder fühlte er sich unwohl, er war es noch nicht gewohnt, in so intimem Rahmen zu so vielen Leuten zu sprechen, das hatte in all den Jahren immer das Oberhaupt erledigt und ihm dabei nie eine Chance gelassen, um sich zu beweisen. Doch nun war der alte Hesse nicht da, der ihm hätte aus der Patsche helfen können, es oblag ihm allein, ihnen diese ungute Nachricht möglichst schonend beizubringen! Um sich von den vielen Gesichtern abzulenken, hielt er den Blick lediglich auf seine Mutter gerichtet. Mit erhitzten Wangen begann er ohne Umschweife, um es möglichst schnell hinter sich zu bringen: „Ich muss euch leider mitteilen, dass ich meinen Vater identifizieren musste. Unser Patron wird nicht mehr zu uns zurückkehren!“
„Oh mein Gott!“ Catherine von Hesse wurde trotz ihrer Schminke leichenblass.
„Maman!“ Die beiden Frauen an ihrer Seite hatten ihre Hände längst geleert, um der Mutter notfalls beizustehen. Sie drehten sich eilig nach ihr um und streckten ihr hilfreich die Hände entgegen.
Der ältlichen Dame schwindelte, so dass sie sich hinsetzen musste. Sie knickte in den Knien ein, warf die Arme rudernd in die Luft und taumelte rückwärts. Sie war froh um den Stuhl in ihren Kniekehlen, der sie vor einem Sturz bewahrte.
„Maman!“ Erschrocken streckte Frank August seine Arme aus und machte unbewusst einen Schritt nach vorn, um sie aufzufangen, bis er sah, dass sie mit der Hilfe der beiden Frauen sicher auf dem Sessel gelandet war.
Obwohl sie, wie alle anderen, extrem unter ihrem untreuen und tyrannischen Ehemann gelitten hatte und trotz der an sich bereits negativen Erwartungen, wurde ihr, ähnlich wie ihrem Sohn nach Morettis Verkündung, bei dieser Nachricht doch irgendwie der Boden unter den Füssen weggezogen. Wie alle anderen wusste sie, dass alles mit ihm stand und fiel, weil er nie an eine Nachfolge gedacht und nichts geregelt hatte.
Auch aus dem Kreis der Familie waren erneut erschrockene Rufe und Mitleidsbekundungen zu hören. Catherines Schwägerin legte ihr bedauernd den Arm um die schmalen Schultern und kondolierte ihr. Ein paar Männer traten die zwei Stufen zu Frank August nach oben, um ihm die Hände zu reichen und ihr Beileid auszudrücken. Frank August stand oben auf der Erhöhung vor der versammelten Familie, er stand nur da, nahm ihre Mitleidsbekundungen stoisch zur Kenntnis und nickte mechanisch. Schließlich schluckte er, weil er wusste, dass sie noch ein paar Worte von ihm zu hören erwarteten.
Als er sich räusperte, machten alle, die bei ihm standen, automatisch einen Schritt zurück, und er begann mit zuerst leiser, mit zunehmender Wut dann aber immer stärker werdender Stimme zu sprechen: „Der Mörder hat zwar unseren Ring durchbrochen, doch unsere Traditionen bricht er nicht! Wir haben unseren geliebten Vater, Bruder und Mentor und was er alles für uns war, durch diese abscheuliche Tat verloren, doch wir wollen nicht nur an uns denken, sondern wie jedes Jahr unserer Verpflichtung gegenüber unserer Jugend und der Notdürftigen gedenken. Unser Ziel bleibt auch dieses Jahr trotz allem unsere Familienkiste...!“
Abwartende Augen waren auf ihn gerichtet. Sie wollten wissen, wie er alles weiterzuführen gedachte.
„Trotz, oder gerade weil uns der Verbrecher unseren Vater mit Gewalt entrissen hat, sind wir verpflichtet, ihm zu Ehren unsere langjährige Tradition fortzuführen! Vater hat sich stets vehement dafür eingesetzt, dass unsere Familie sich für Hilfsbedürftige und soziale Projekte stark machen und mittellose Angehörige finanziell unterstützten konnte. Ich glaube, es wäre ein Affront gegen ihn, wenn wir die Familienkiste aufgrund seines Todes zum Anlass nehmen würden, um auf die Spenden zu verzichten! Ich hoffe, dass ihr das auch genauso seht!“
Zustimmendes Gemurmel und Geflüster wurde laut, die vergesslichen Urgesteine der Familie ließen sich von den anderen in kurzen, abgehackten Sätzen die schreckliche Geschichte nochmals erzählen.
Frank August stand vor der versammelten Familie und redete sich heiser. Sie spürten, dass es ihm ein Anliegen war, den Tod nicht gerade zu übergehen, aber doch so etwas wie Normalität aufrecht zu erhalten. Mit seinem schon fast flammenden Plädoyer versuchte er dem Familienanlass trotz allem so etwas wie Normalität zu verleihen, obwohl jeder, und er wohl am besten wusste, dass es nicht so war und nie mehr sein würde. Die Augen der Anwesenden hingen an seinen Lippen. Er wusste von den wenigsten, wie oder was sie über seinen Vater dachten. Einige waren möglicherweise erleichtert, den Familientyrannen loszusein, andere bedauerten sein Fehlen, weil er trotz gravierender Fehler, zwischendurch zumindest, ein guter und vor allem großzügiger Mäzen gewesen war. Frank selbst fehlte er zumindest jetzt, weil er von einem Augenblick zum anderen ins einskalte Wasser geworfen wurde und notgedrungen plötzlich schwimmen musste.
Während er in die bestürzten und traurigen Gesichter blickte, standen Onkel Theo und seine Mutter Catherine plötzlich auf und klatschten ihm Beifall. Er wunderte sich darüber, doch allem Anschein nach war das, was er gesagt hatte, nicht so verkehrt gewesen, und es wirkte sogar ansteckend. Einer nach dem anderen fiel ins Klatschen ein, und plötzlich standen sie alle, selbst die, die vorher noch gesessen hatten, und riefen: „Bravo!“, und: „So ist’s recht, mein Junge!“, und zollten ihm Beifall für etwas, das er als Selbstverständlichkeit empfand. Trotzdem lächelte er. Es war ein Zeichen, dass sie gleicher Meinung mit ihm waren. Dabei hatte er schon befürchtet, sie würden ihn für geldgierig und pietätlos halten. Mit Erleichterung nahm er zur Kenntnis, dass dem nicht so war. Er zwang sich ein Lächeln auf die Lippen, während er spürte, wie die Verkrampfung in seinem Innern allmählich nachließ.
„Ich danke euch, meine Freunde. Ihr dürft mir glauben, dass mir das Ganze nicht leicht fällt. Vater ist in keiner Weise durch mich zu ersetzen!“
„Mach dich nicht herunter, Junge!“, schrie Onkel Theo in seiner wie immer offenen und manchmal nicht immer gern gesehenen Art. Doch diesmal hatte sein Aufruf wertvolle Wirkung. Onkel Theo wusste nur zu gut, dass Frank August von seinem Vater nie für das gerühmt worden war, was er für ihn, die Familie und die Firma geleistet hatte, und es war an der Zeit, dem Jungen auch einmal in aller Öffentlichkeit zu verstehen zu geben, dass er seinen Wert nicht unter den Scheffel stellen musste!
Frank August seufzte erleichtert auf. Überrascht sah er, wie viele nickten, die für einmal mit Onkel Theo gleicher Meinung waren. „Du machst das gut, Frank“, nickte ihm Cathérine aufmunternd lächelnd zu und schickte eine Kusshand zu ihm hinauf.
Er nickte dankbar und weil er nicht anders konnte, bedankte er sich schon wieder: „Danke für eure Akzeptanz. Ich verspreche euch, mein Bestes zu geben, um die Traditionen, die Firma und die Familie...“ Er stockte. ...im Sinne meines Vaters, wollte er sagen, verschluckte es aber dann und fuhr stattdessen mit einem erzwungenen Lächeln fort: „...weiterzuführen. Natürlich wird es nicht mehr gleich sein wie früher. Wir werden uns auch innovative Schritte überlegen und sicher auch neuzeitlicher denken müssen. Vater hat dem Fortschritt selten Raum gelassen, aber es ist wichtig, dass wir mit der Zeit gehen und uns nicht durch unsere konservative Haltung gegen außen abschotten. Es wird für uns alle eine große Umstellung und Neuausrichtung geben. Aber mit etwas Hilfe, Verständnis und Geduld werden wir es meistern und gemeinsam werden wir es schaffen, die Maschine am Laufen zu halten! Wie Vater schon immer sagte: Stillstand ist Rückschritt! Aber auch am alten Zopf festzuhalten, ist Rückschritt! Deshalb wollen wir versuchen, jetzt trotz allem mit positiven Gedanken vorwärts zu schauen! Und wir beginnen damit, dass wir unseren Umzug jetzt endlich hinunter in die Gruft unserer Ahnen beginnen, um sie und unsere Familientradition zu ehren!“
Während die Leute um ihn herum und unten im Salon noch klatschten, wandte er sich um und ging ihnen voran, denselben Weg, den er mit den Polizeibeamten gegangen war, um ihnen die Familienkiste zu erklären. Er führte sie durch die reichhaltig ausgestatteten Räumlichkeiten bis in den Westflügel, wohin sie ihm in einer schnatternden Prozession folgten. Ihre Schritte, Gespräche und Gelächter klangen hohl in den halbdunklen Wandelhallen, in denen jetzt überall in den Halterungen die Fackeln brannten, die durch ihr elektronisch-künstliches Flammenzüngeln nun keinen beißenden Petrolgeruch mehr verbreiteten und so auch den jahrhundertealten wertvollen Gemälden und Kunstgegenständen nicht mehr schadeten.
Christinas Ehemann Siegfried von Lanthen verlängerte seine Schritte, um seinen Schwager zu erreichen und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. „Das hast du gut gemacht.“
Franz August warf ihm müde einen dankbaren Blick zu. „Danke.“ In seiner Stimme und seiner Miene lag keine Freude.
„Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, dir zu kondolieren, Frank.“
Dieser nickte abermals, eher mechanisch, während ihm Sigi, wie ihn die Familie nannte, in aufrichtiger Anteilnahme die Hand schüttelte, und er war froh, als er ihn in ein belangloses Gespräch über sein Hobby Polospielen und Pferde verwickelte, von denen auch ein Dutzend guter Reit- und Sprungpferde in den Boxen von Gut Maierhofen standen.
Er führte die Familie zum Westflügel, wo sie das Herrschaftsgebäude verließen und durch den grottenähnlichen Gang hinter der Familienkapelle in die Totengruft hinabstiegen. Als sie die Krypta erreicht hatten, an die sich die Mausoleen der Verstorbenen anschlossen und in deren Mitte die uralte Holztruhe mit den schweren Eisenbeschlägen stand, war die Gruft fast zu klein, um die zahlreiche Verwandtschaft aufzunehmen. Aus diesem Grund hatten sie sich angewöhnt, die Verstorbenen in einer vorüberziehenden Prozession zu ehren. Vor jedem Sarkophag und jedem Ahnengemälde kam sie ins Stocken, jedermann hielt ein kurzes Zwiegespräch mit dem Verstorbenen ab, ehe es um ein paar Zentimeter weiterging. An der Familienkiste trug sich jeder Spender mit der Höhe des Betrages in ein altehrwürdiges Buch ein, das schon während vieler Jahrzehnte zum selben Zweck benützt worden war. Dann holte der Spender das vorbereitete Kuvert mit seinem Beitrag aus der Brusttasche seines Jacketts und bückte sich, um es in die Kiste zu legen. Auf diese Weise wusste jeder, wie viel die anderen gespendet hatten und fühlte sich vielleicht dazu angespornt, nächstes Mal etwas mehr zu geben, andererseits wussten alle am Schluss, wie viel Geld zusammengekommen war. Aufgrund der Höhe des gesammelten Betrages wurden nach der Rückkehr von der Ahnenehrung in den Salon die Angehörigen und Projekte bestimmt, die in diesem Jahr mit finanziellen Beiträgen unterstützt werden sollten, und im Anschluss daran endete die Feier in einem großen Gelage mit mehrgängigem Festmahl. Dieses zog sich dann meist noch über Stunden hinweg, weil die Zusammenkunft auch dazu genutzt wurde, um alte Erinnerungen auszutauschen, Freundschaften zu pflegen und ganz allgemein den Speisen und dem Alkohol zu frönen, dem insbesondere, aber nicht allein, auch Onkel Theo gerne zusprach und dann in voller Fahrt seine meist schon bekannten Unter-der-Gürtellinie-Witze an den Mann brachte.