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Am nächsten Morgen begann Kriminalkommissar Moretti seinen Tag nicht wie gewöhnlich im Büro, sondern im Gericht, wo er wegen eines anderen Delikts als Zeuge auftreten musste. Als er nach seiner Beweisführung fertig war und das Gericht verlassen konnte, war es kurz vor neun, und bis er von dort wieder im Präsidium war, dauerte es weitere zehn Minuten.
Er hatte es eilig, der Fall vom Vortag ließ ihn nicht los. Statt hinauf in sein Büro, eilte er stattdessen von der Einstellhalle direkt hinüber zur Pathologie. Halb außer Atem durch sein Asthma und vom schnellen Laufen war er noch nicht mal durch die Türe, als er bereits ungeduldig von weitem rief: „Marti, wie sieht’s aus?“
Der hagere Pathologe unterbrach seine Arbeit und wandte sich nach ihm um, derweil er herantrat und auf den toten Adligen niederblickte, der inzwischen zur Eruierung der Todesursache vom Gerichtsmediziner aufgeschnippelt worden war. Er sah ziemlich schlimm aus, das war aber nichts im Vergleich zum Vortag.
„Morgen, Chef.“ Marti sah leidlich zufrieden aus, zumindest lächelte er ihm kurz zu, als er ihn begrüßte, bevor er dann gleich mit seinen Ausführungen begann: „Ich konnte die Schnitte in etwa den möglicherweise benutzten Waffen zuordnen - bis auf dieses Muster hier.“ Mit dem Finger deutete er auf die aufgerissenen, meist mehrere Zentimeter tiefen Löcher in der Haut des Toten, aus denen teilweise minimale Fleischfetzen und Muskelfasern herausragten und aussahen, als hätte der Patient die Masern. Stellenweise ergaben sie ein regelmäßiges Muster, dann war es abgesetzt, bevor es wieder von vorne begann, andernorts lagen die Löcher eng ineinander, ergaben aber beim Verfolgen der Linien wieder dasselbe Muster, das über die ganze obere Körperhälfte und die Oberschenkel verteilt war. Hans Marti zeichnete für Moretti die einzelnen Muster mit dem Finger nach.
Dieser sah ihn gedankenversunken an. „Scheint ein regelmäßiges Muster zu sein. Was halten Sie davon? Können Sie es zuordnen?“
Marti zuckte mit der Achsel, um anzudeuten, dass er mit seiner Aussage nicht sicher war: „Ungefähr. Ich halte es für einen Nagelknüppel, jedenfalls irgend ein Ding, das mit Nägeln bespickt ist und mit dem er geschlagen wurde.“
„Sie meinen, wie im schwarzen Mittelalter?“, fragte Moretti überrascht.
Wieder hob Marti die Schultern. „Meines Wissens werden damit auch in Chinas Gefängnissen Häftlinge gefoltert. Ziemlich schmerzhaft, fürchte ich.“
„Großer Gott, so sieht’s auch aus! Dieser Bastard! - Was haben Sie sonst noch? Irgendwelche Hinweise auf den Täter?“, forschte Moretti weiter.
Bedauernd schüttelte der Pathologe den Kopf. „Nein, tut mir leid, im Moment kann ich mit nichts anderem dienen. Sieht so aus, als hat der Täter keinerlei Hinweise von sich am Toten zurückgelassen.“
„Fuck! Scheiße!“ Morettis Gesicht verzerrte sich vor Wut und Verzweiflung. Es war ungewöhnlich, dass er sich derart vergaß und wie ein Droschkenkutscher fluchte, aber angesichts des brisanten, schwierigen Falls sah Marti es ihm nach.
Nach seinem Ausrutscher stieß der kleine Mann einen verzweifelten Seufzer aus. „Suchen Sie bitte weiter.“
„Natürlich, Boss.“ Hans Marti nickte, während er wieder an Hesse herumzuwerkeln begann. „Ich melde mich, falls ich doch noch was finden sollte.“
Sichtlich enttäuscht wandte sich Moretti langsam zum Gehen. Was nützte es ihm, wenn auf die Art der Waffen geschlossen werden konnte, wenn nichts auf den Täter hindeutete? „Ist gut, ja, tun Sie das, danke“, murmelte er betrübt. Sehr viel langsamer als bei seiner Ankunft begab sich Moretti mit gebeugtem Haupt hinüber zum Lift.