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Moretti verfluchte sein Asthma; ihm war die Puste ausgegangen, als er keuchend und schnaufend wie ein Nilpferd das Labor erreichte. Er knallte die Türe auf, bevor er zwischen rasselnden Atemzügen bereits von Weitem durchs Labor rief: „Wolfi, was hast du für mich?“

Eine Pipette und ein Glasplättchen in den Händen, das er soeben unter dem Mikroskop hatte untersuchen wollen, drehte sich Wolfgang Fiala überrascht nach ihm um. Das Tageslicht, das durch die Fenster eindrang, warf einen Schatten auf seinen gepflegten Dreitagebart. „Guten Morgen“, machte er ihn darauf aufmerksam, dass er das Grüssen vergessen hatte.

„Ja, ja, guten Morgen!“, knirschte Moretti ungeduldig. Sein Versuch, sofort zu einer Antwort zu kommen, war kläglich gescheitert.

Der Laborchef klemmte das Plättchen in die Halterung unter der Linse und tröpfelte aus der Pipette eine durchsichtige Flüssigkeit darauf, bevor er ihnen seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit schenkte. „Wovon sprichst du?“ Obwohl er es sich denken konnte, spannte er den kleinen Mann gern auf die Folter.

„Na, von dem Knopf natürlich!“, drängte Moretti ungeduldig.

„Ach das.“ Fiala lächelte leicht, als hätte er es eben erst begriffen, wovon Paolo sprach. „Es ist eigentlich kein Knopf, sondern eher eine Art Brosche. Sie gehört zu einem Hemd – wahrscheinlich dem des Toten, nicht das des Täters.“

Scherrer nickte. „Sie lag abgerissen unter ihm, deshalb war sie vermutlich noch da.“

„Halleluja!“ Morettis Ausbruch war diesmal positiver Art. Der kleine Kommissar schien über sich hinauszuwachsen, als er erfreut die Augenbrauen anhob und den Hals vorstreckte, als gäbe es etwas zu sehen. „Gibt es Fingerabdrücke? Kannst Du ihn identifizieren?“, fragte er mit heftigem Kribbeln im Bauch aufgeregt vor Nervosität.

Der Forensikwissenschaftler nickte. „Ja und nein. Die gute Nachricht ist, dass ich jede Menge Fingerabdrücke darauf gefunden habe. Die meisten stammen vom Verstorbenen selbst, aber die anderen von niemandem aus der Kartei. Diese Person ist uns noch nicht bekannt.“

„Also ein unbeschriebenes Blatt?“, fragte er mit gerunzelter Stirn ungläubig, ehe er entschieden den Kopf schüttelte. „Unmöglich! Nicht mit der Art, wie er gemordet hat!“

Wolfgang Fiala zuckte tief seufzend und fast entschuldigend mit den Achseln. „Tut mir leid. Etwas anderes habe ich zurzeit nicht.“

„Verdammt! Es kann doch nicht sein, dass ein Mörder gleich beim ersten Mal so brutal mordet!“

„Wieso nicht? Wenn er den Mord zum Voraus plante?“

Moretti war davon keineswegs überzeugt; meist steigerte sich der Mörder in der Grausamkeit seiner Tötungen, bevor er ein Opfer auf diese Weise zurichtete, wie sie von Hesse im Münster gefunden hatten. Mit blitzenden Augen warf er Fiala einen giftigen Blick zu, bevor er wütend seine Aggressionen ausspuckte: „Ich hasse den Scheißkerl!“

„Reden Sie von mir?“, erkundigte sich Custer irritiert, der mit seinen Znünisäcken in beiden Händen gerade unten bei ihnen im Labor eintraf und die Szenerie mit einem einzigen Blick in sich aufnahm: Auf einem schmalen, weißen Bord inmitten des Raumes befanden sich drei Mikroskope; an den weißgetünchten Wänden stand ein abschließbarer Medizinschrank mit Reagenzgläsern in ihren Halterungen, Gummihandschuhen, Pipetten und sonstigen Arbeitsgeräten, daneben waren überall im ganzen Raum verstreut halbhohe Schubladenstöße vorhanden, auf denen nebst Computer, Bildschirm, Tastatur und Drucker seine verschiedenen Apparaturen angebracht waren, die er zur Eruierung seiner Resultate benötigte. Die hinteren Regale waren angefüllt mit wissenschaftlichen Büchern und Abhandlungen, zwischen denen herabhängendes Grünzeug und blühende Topfpflanzen standen. Der Laborchef Wolfgang Fiala schien allem Anschein nach ein Naturliebhaber zu sein.

Die Männer drehten sich mit einem freudlosen Seufzer nach Custer um. So schnell hatten sie den unliebsamen Kollegen nicht zurückerwartet.

Anstelle einer Antwort streckte ihm Sutter die Hand, die das Plastikbeutelchen mit dem untersuchten Artefakt enthielt, wie einen Rammbock entgegen. „Wir haben was Hochinteressantes gefunden!“, brüstete er sich mit dem entdeckten Fund, den er zum Beweis in die Luft hielt, um aller Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, der er ohnehin schon sicher war.

Custer hielt den Atem an und runzelte die Stirn. Er sah aus, als bräuchte er eine Brille, dann trat er zu ihm, um das geheimnisvolle Kleinod von Nahem betrachten zu können. Mit dem Gesicht dicht davor, zog er aufmerksam eine Augenbraue in die Höhe und wiegte den Kopf von einer Seite auf die andere.

Sutter und Scherrer waren gleichermaßen enttäuscht, dass er nicht stärker auf das kleine Geheimnis reagierte, das sie ihm vorenthalten hatten. Aber er konnte ja auch vermuten, dass Scherrer es gefunden hatte, nachdem er mit Moretti das Münster verlassen hatte.

„Einen Knopf?“, fragte er schließlich geringschätzig; es klang keineswegs überrascht, schon eher bemitleidend.

Sutter nickte irritiert; weil er ihm damit den Rang ablief, hatte er mit einer anderen Reaktion gerechnet.

Kopfschüttelnd stellte Custer fest: „Enttäuschend. Aber es ist nicht eigentlich ein Knopf, oder? Es ist eher eine Brosche.“ Scheinbar suchend sah er sich um, bevor er seinen Satz mit einem impertinenten Grinsen vollendete: „...und sie passt an den Jackenaufschlag des Toten!“, stellte er richtig, während er auf das zerschlissene Jackett auf der Ablage deutete, wo auf der einen Seite des unteren Kragens tatsächlich der ziselierte Goldknopf fehlte.

Sutter verzog sauer das Gesicht, weil es ihm nicht gelungen war, dem Scheißkerl den Rang abzulaufen und ihm etwas zu präsentieren, zu dem er mal nicht seinen Senf dazu beitragen konnte. Aber er verbarg seinen Groll und lächelte stattdessen überheblich, weil das noch nicht alles an Geheimnissen war, die er Moretti und Custer dank Wolfgang Fiala kundtun konnte: „Das weiß ich auch. Aber das Interessante daran ist nicht der Knopf selbst.“ Grinsend machte er eine Kunstpause, um sich der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu versichern.

Custer streckte seinen Hals, als könnte er damit besser auf das Artefakt sehen.

„Ach nein?“ Auch Moretti horchte überrascht auf und fuhr zu ihm herum. „Was dann?“

Wie erwartet, hingen die Augen der Männer lechzend an seinen Lippen, um endlich die Erklärung zu hören, die er ihnen absichtlich länger vorenthielt, als nötig gewesen wäre, um die Spannung zu erhöhen.

Sutter und Scherrer grinsten einander verschwörerisch an, als der Abteilungsleiter sich schließlich zuerst erbarmend erklärte: „Bei der Untersuchung fand Wolfgang daran ein blondes Haar.“ Es handelte sich dabei lediglich um ein winziges Teilstück, das sich an den feinen Häkchen des ziselierten Schmuckstücks verfangen hatte und möglicherweise die Mitschuld daran trug, dass der Knopf abgerissen worden war.

Moretti warf Sutter verletzt einen düsteren Blick zu. „Ich dachte, ihr wüsstet nichts davon?“, knurrte er vor Ärger darüber scharf, dass sie ihm diese wichtige Information vorenthalten hatten.

„Vom Mörder?“, erkundigte sich Custer vor Aufregung nervös.

Der Kommissar zuckte die Achseln: „Oder von jemandem, der dem Toten nahe stand“, relativierte er. Es konnte genauso gut jemand gewesen sein, der von Hesse umarmt oder sogar den Kopf an seine Brust gelegt hatte.

„Ist gut möglich“, murmelte Custer scheinbar nachdenklich, ehe er die alles entscheidende Frage an Wolfgang Fiala stellte, die auch Moretti auf der Zunge brannte: „Haben Sie das Haar schon untersucht, Sir? Jemand aus Ihrer Kartei?“

Missmutig schüttelte Sutter für den Chefforensiker den Kopf: „Leider wieder Fehlanzeige! Nada! Aber es war ein Kerl!“

„Also doch sein Mörder?“, forschte Custer hartnäckig.

Moretti zuckte genervt die Achseln: „Meinetwegen von dem! Solange wir keine Übereinstimmung haben, können wir nichts aussagen!“

„Shit!“ Custer lächelte: „Wir bewegen uns in einer Sackgasse. Der Mörder war klug genug uns keine Hinweise auf ihn dazulassen.“

Sutters Augen blitzten, trotzig schob er das Kinn vor: „Der Kerl soll sich vorsehen! Wir drehen jeden Stein im Münster um! Wir werden etwas finden!“

„Und wir werden den Mörder finden!“, nickte Moretti zähneknirschend. „Also, fahren Sie nochmals hin!“

Sutter nickte, er schien erleichtert, aus Custers Nähe verschwinden zu können. Er reichte den Beutel an Wolfgang Fiala zurück und marschierte aus der Tür. Er nervte sich darüber, dass es ihnen nicht gelungen war, den Sch...ami wenigstens dieses eine Mal auszustechen.

„Das Haar ist blond“, wiederholte Scherrer zur Erinnerung, während sein Kollege verschwand, „wir suchen also nach einem blonden Mann!“

„Das schließt unseren Adligen aus dem Kreis der Verdächtigen eindeutig aus“, nickte Custer befriedigt.

Doch Moretti reklamierte prompt: „Aber nicht als Auftraggeber!“

Custer warf ihm einen düsteren Blick zu. „Warum sind Sie nur so versessen darauf, von Hesse ihm Kreis Ihrer Verdächtigen zu sehen?“

„Weil er am meisten vom Tod seines Alten profitiert!“

„Aber der Mann kann doch keiner Fliege was zuleide tun!“, beschwerte er sich.

„Und warum versuchen Sie ihn dann ständig zu schützen?“, knurrte Moretti verdrossen.

Custer seufzte. Friedfertig hob er die Hände, um halbwegs ein entschuldigendes Nachgeben anzudeuten. „Weil er mir irgendwie leid tut. Trotz seines Standes musste er nur unter seinem Alten leiden! Ich bin nicht hochwohlgeboren, aber ich hatte wenigstens einen Vater, der sich um mich gekümmert hat! Und jetzt hat er eine Familie und eine Firma am Hals, von denen er nicht weiß, wie er sie leiten soll! Der Arme ist doch nur zu bedauern!“

„Ihre Meinung!“, schnaubte Moretti uneinsichtig.

Morgan Custer nickte ruhig. Er hielt dem wütenden Blick seiner Augen ohne mit der Wimper zu zucken stand. „Yeah, meine! Und ich bin sicher, dass meine die richtige ist! Der arme Mann ist unschuldig, und Sie verdächtigen den Falschen!“

Moretti lief aus Wut auf Hochtouren. Dass sich der ausländische Schnösel herausnahm, ihm seine Objektivität schon wieder abzusprechen, ließ den sonst so besonnenen Mann die Beherrschung verlieren. Seine Stimmlage erhöhte sich um eine halbe Oktave, während er ihm keifend entgegenspuckte: „Meinetwegen! Dann liefern Sie mir den Richtigen! Dann werde ich Ihnen recht geben!“

Custer funkelte ihn verärgert an. „Als wenn ich das könnte!“

Moretti nickte etwas ruhiger und senkte seine Stimme, als er bestimmte: „Also, sehen Sie! Somit bleibt er in der engeren Auswahl, und damit basta!“

Custer stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. „Und ich sage Ihnen, Sie liegen falsch! Sie werden es schon sehen!“

„Wenn wir den Kerl überhaupt je finden!“, warf Franz Scherrer ablenkend ein.

Moretti nickte ihm dankbar seufzend zu. „Stimmt. Zur Zeit sieht es gar nicht danach aus! Wir haben nichts, weniger als nichts! Aber auch gar nichts! Und dann kommen Sie mir mit irgendwelchen Haarspaltereien! Sie können in keinen Menschen hineinsehen! Und oft sind gerade diejenigen, von denen wir es am wenigsten erwarten würden, diejenigen mit den schwärzesten Seelen! Also kommen Sie mir nicht mit unschuldig oder nicht! Er hat genügend Geld, und er hat ein Motiv! Oder jemand anderer aus dem verdammten Clan! Ist doch egal! Irgendjemand wird vom Tod des Alten profitieren, und den müssen wir ausfindig machen und schnappen! Etwas anderes steht außer Frage!“

„Würden Sie auch einen Menschen, den Sie nur durch Vermutungen und Indizien belasten können, als Täter ins Gefängnis schicken?“, fragte Custer sauer.

Moretti nickte bestimmt. Die Fäuste in die Hüften gestützt, reckte er das Kinn weit vor; er sah aus, als wollte er dem jungen Mann gleich an die Kehle fahren, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Wenn Sie es so genau wissen wollen: in diesem speziellen Fall gewiss, ja! Und was auch immer Sie dagegen vorbringen wollen, Sie werden mich nicht davon abhalten, den Teufel zu schnappen!“

„Das werde ich bestimmt nicht, wenn ich überzeugt wäre, dass er der Richtige ist!“

Moretti hätte vor Ärger über die Hartnäckigkeit des Dussels am liebsten laut aufgeheult. „Vielleicht schreibt er Ihnen ja eine Karte und erklärt, dass er es gewesen ist!“

Custer versank in düsteres, dumpfes Brüten. „Spotten Sie ruhig weiter!“, knurrte er. Zwischen zusammengebissenen Zähnen presste er zischend hervor: „Vielleicht ist es ja noch nicht vorbei!, und er wird weitermorden!“ Seine Kinnmuskeln zuckten vor unterdrückten Emotionen, während er verärgert im Stillen düstere Gedanken wälzte und unfroh seufzte.

Und dann werde ich Moretti beweisen, wie falsch er mit seinem Verdacht liegt!, dachte er von Wut zerfressen, ehe er seinen Vorgesetzten auf eine intelligente Spur hinwies: „Auch wenn ich Gefahr laufe, Sie wieder zu ärgern, Chief...“ Er machte eine winzige Pause, um sich zu versichern, wie der Kommissar darauf reagierte. Als er sah, dass er ihn abwartend musterte, fuhr er fort: „Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, dann lassen Sie Frank Hesse doch überwachen! Vielleicht kommt der Täter zurück, um abzukassieren!“

Was als Stachel gedacht war, nahm Moretti als Tipp dankbar zur Kenntnis. Er nickte und war plötzlich wieder völlig ruhig. Der Gedanke an den rettenden Strohhalm erfüllte ihn mit freudiger Erwartung. „Gar nicht so blöd, mein Junge. - Also, Franz, du hast’s gehört! Schick’ mal ein paar Streifen raus! Die sollen das Anwesen rund um die Uhr beschatten und vor allem den Juniorchef observieren! Ich will über alles Bescheid wissen: wann er wohin geht, wann er telefoniert, meinetwegen auch, wenn er aufs Scheißhaus geht! Aber ich will alles von und über ihn, einfach alles, was es über ihn zu wissen gibt!“

„Ist okay, Chef, ich kümmere mich drum“, erklärte der Abteilungsleiter nickend. Er hängte sich an die Strippe, um zwei Streifenwagen zur Observierung loszuschicken. Den Supporter vom IT-Center, den Computerspezialisten Arno Gonzalo, beschäftigte er damit, sich in von Hesses Daten einzuhacken, um seinen Lebenslauf einzusehen und seine Telefone und Mails zu überprüfen.