Mit Genugtuung nahm er zur Kenntnis, dass ihnen problemlos Einlass in das große Haus gewährt wurde. Während sie im weitläufigen Eingang auf die Rückkehr des Butlers warteten, der nach längerem Widerstreben schließlich doch versprochen hatte, den Hausherrn zu informieren, eilten einige der noch immer anwesenden Familienmitglieder in weißem Dress und Tennisschlägern und andere in Reit- oder Freizeitkleidung mit ihren Hunden an ihnen vorbei.
„Sir.“ Dem Butler war sein Eindringen während der wichtigen Firmensitzung sichtlich unwohl.
Von Hesses Blick zeigte Erzürnung über die unliebsame Störung, doch was konnte Johann dafür, wenn die Lage so und nicht anders war?
Er neigte ihm seinen kurzgeschorenen Schädel zu, um ihm die Nachricht ins Ohr flüstern zu können, ohne von allen gehört zu werden. „Die Polizei für Sie, Sir.“
Frank August runzelte missbilligend die Stirn. „Um diese Zeit?“
Der Arme beeilte sich zu nicken.
„Was wollen die denn noch?“, zischte er.
„Sie haben noch ein paar Fragen.“
Mit einem tiefen Seufzer gab sich von Hesse einen Ruck. „Also gut, Johann. Begleiten Sie die Herren in den blauen Salon, ich komme in ein paar Minuten.“
Der Butler nickte erleichtert. Steif entfernte er sich und zog die schwere Türe hinter sich zu.
Zurück in der Eingangshalle, vertröstete er sie: „Wie ich schon erwähnte, meine Herren, Herr von Hesse befindet sich in einer wichtigen geschäftlichen Firmensitzung. Es dürfte ein paar Minuten dauern, ehe er sich für Sie freimachen kann. Er bittet Sie, in der Bibliothek zu warten.“
Moretti nickte ihm missmutig zu. Angesichts der vielen Arbeit, die auf ihn wartete, und der drängenden Hoffnung, dass die Leute bei seiner Rückkehr vielleicht schon mit irgend einer Spur oder einem Hinweis aufwarten konnten, fiel es ihm schwer, zu warten.
Johann führte sie in die Bibliothek hinüber, wo sie trotz seiner Aufforderung sich zu setzen stehenblieben. Aus dem Nebenraum hörten sie gedämpfte Stimmen zu ihnen herüberdringen.
Frank August versuchte, seinen Geschäftspartnern die Dringlichkeit seines Abgangs zu erklären. Nach ein paar Minuten trat er durch die Türe in die Bibliothek hinein.
„Bitte, entschuldigen Sie, Herr von Hesse“, murmelte Moretti gepresst, während dieser die beiden Treppenstufen herabkam und auf sie zutrat. Auch nach so langer Dienstzeit war es ihm immer noch unangenehm, fremde Menschen in gewissen Situationen zu stören. „Draußen sind uns einige Ihrer Familienangehörigen begegnet. Sie haben noch immer Besuch?“, erkundigte er sich.
Von Hesse nickte. „Ja, ein wertvoller Beistand während diesem traurigen, aber dennoch nötigen Familienanlass. Gestern ist niemand nach Hause gegangen, nachdem uns dieses schreckliche Unglück getroffen hat. Sobald Sie uns seinen Leichnam freigeben, wollen wir uns in allen Ehren von meinem Vater verabschieden. Bis dahin sind wir dabei, die Beisetzung vorzubereiten.“
„Das trifft sich gut“, lächelte Custer forsch, „wir wollten Sie gerade diesbezüglich sprechen. Und ich bedanke mich nochmals für Ihre gestrige Bereitschaft, als Sie mir Ihre DNA zur Verfügung stellten. Leider konnten wir damit zweifelsfrei belegen, dass es sich in der Tat um Ihren Vater handelt.“
Von Hesse nickte fast mechanisch. „Wie ich Ihnen sagte. War trotzdem ein netter Versuch, danke.“
Moretti blickte beide mit hochgezogener Augenbraue fragend an. „Was denn?“
„Dass Morgan daran zweifelte und ganz sicher sein wollte.“
„Was haben Sie getan?“
Custer zuckte mit unschuldiger Miene die Achsel. „Er gab mir eine Speichelprobe für die DNA-Untersuchung.“
„Aha!“, knurrte Moretti scharf. Er warf ihm einen tadelnden Blick zu. Er hasste es, wenn seine Untergebenen eigenmächtig handelten, ohne dass er zumindest davon unterrichtet war.
„Gibt es in Ihrer Familie irgendwen, der Grund gehabt haben könnte, Ihren Vater zu ermorden?“, hörte er Custer sich aufspielen und seine Ermittlungen weiterführen.
„Hatte er Feinde vielleicht sogar unter Ihresgleichen?“, fiel er ihm schnell ins Wort.
In von Hesses dunkle Augen trat ein wütendes Funkeln. Heftiger als vorgesehen schüttelte er den Kopf und ging wie ein Bulle gereizt auf den Kommissar los: „Haben Sie mich deswegen aus meiner geschäftlichen Sitzung geholt? Das haben wir doch gestern alles schon Ihrem Kollegen gesagt! Natürlich nicht! Unser Familienzusammenhalt und die Integrität jedes einzelnen Mitglieds... Wahrscheinlich können Sie das nicht verstehen, wenn Sie es selbst nicht erlebt haben! Das ist etwas, das seinesgleichen sucht! “
Moretti ärgerte sich über Custers Dreistigkeit und über das wütende Aufbegehren seines verdächtigten Kandidaten, aber er versuchte unbeteiligt zu bleiben und nickte beruhigend: „Es tut mir leid, wenn wir Sie bei etwas Wichtigem gestört haben. Ich hatte auch nichts anderes angenommen. Sie müssen schon entschuldigen, es sind halt Routinefragen. Wir müssen Sie das fragen, um uns ein Bild vom Ganzen machen zu können.“
Frank August bedachte ihn mit einem müden Blick. Eigentlich hatte er keine Lust, alles nochmal von vorne durchkauen zu müssen. „Allem Anschein nach trauen Sie Ihrem Untergebenen nicht so ganz über den Weg“, versuchte er Moretti mit aller Ernsthaftigkeit aufzuziehen.
Dieser schüttelte den Kopf. „Sie missverstehen mich, das ist es nicht. Der Fall ist schlicht zu brisant, als dass ich mich nur auf seine Aussage verlassen möchte. Es ist möglich, dass vielleicht irgend ein winziges Detail übersehen wurde oder vergessen ging... Ich kann mich nur nochmals entschuldigen, dass wir Sie schon wieder behelligen, aber ich denke, es ist auch in Ihrem Interesse...“
Mit einem tiefen Seufzer entspannte sich von Hesse endlich. Er empfand auf den Ärger plötzlich wieder eine tiefe Leere. Fast ein wenig schuldbewusst nickte er: „Ja, ich entschuldige mich auch. Es ist alles ein bisschen viel, was da über unsere Familie hereingebrochen ist! Und noch dazu auf so furchtbare Weise...!“ Er spielte auf die barbarische Zerstückelung an, die trotz des kunstvollen Zusammenflickens des Pathologen noch immer halbwegs sichtbar gewesen und ihm im Geiste immer noch quälend präsent war.
„Das verstehe ich.“ Moretti nickte. Er zeigte ein bedauerndes Lächeln.
„Morgen kommt der Notar und der Staatsanwalt... Die Bank hat Vaters Banksafe gesperrt, weil wir den Schlüssel nicht sofort gefunden haben...“
„Ja“, pflichtete Custer seufzend bei, „die wollen in solchen Fällen immer auf Nummer sicher gehen, damit nichts am Fiskus vorbeigeschleust oder allenfalls noch vom Täter gestohlen werden kann...“
„Als wenn wir das nötig hätten!“, knurrte von Hesse mit Zornesrunzeln böse.
Custer zuckte unbeeindruckt die Achseln. „Reine Routine halt. Die denken sich nichts dabei und tun es einfach.“
„Wir würden gerne etwas über die Hintergründe Ihrer Familie erfahren, Herr von Hesse“, unterbrach Moretti ungemütlich das Geplänkel. Er fand es ziemlich unverschämt von Custer, so mit dem hochwohlgeborenen Mann zu sprechen.
Dieser deutete erneut auf die hohen Sessel. „Was wollen Sie also genau von mir wissen, Kommissar?“
Dieser schüttelte den Kopf, er wollte sich nicht setzen. Die Zeit drängte, und er wollte so bald wie möglich ins Präsidium zurück. Es war ein verdammt langer und harter Vormittag gewesen, und er hatte bis obenhin genug davon. Er stellte seine Fragen, die Hesse wie am Vortag lückenlos beantwortete, nur um festzustellen, dass die Antworten identisch waren. Mit einem tiefen Seufzer gab er sich für den Moment schließlich geschlagen, obwohl Hesse es nicht fertiggebracht hatte, ihn völlig von seiner Unschuld zu überzeugen.
„Dann wären wir also fertig?“, erkundigte sich Frank August erleichtert.
Moretti nickte, nur um im gleichen Atemzug fortzufahren: „Da wäre noch was...“
„Was denn noch, Kommissar?“
Er hatte den Eindruck, als kehrte die Unruhe auf Hesses Gesichtszüge zurück. „Wäre es wohl möglich, dass ich selbst noch ein Wort mit Ihren Familienangehörigen wechseln kann? Vielleicht finden wir bei ihnen doch noch irgendwelche Hintergründe oder Hinweise, die uns auf die Spur des Täters führen könnten.“
Von Hesse zuckte genervt die Achseln. Er stand unter Zeitdruck, weil seine Kunden auf ihn warteten und das Geschäft noch nicht hatte abgeschlossen werden können. Die Befürchtung, dass sie es sich in der Zwischenzeit aufgrund seiner Abwesenheit anders überlegen könnten, stresste ihn. „Ich kann es mir zwar nicht vorstellen, aber wenn Sie meinen, dass es Ihnen etwas hilft... Vermutlich wird Ihnen jeder wieder dasselbe sagen wie ich.“
Moretti nickte scheinbar gleichgültig, aber er hoffte, dass dem nicht so war. „Das Risiko müssen wir eingehen.“
Frank August ging ihnen voran und öffnete die Türe zum nebenliegenden großen Salon.
Moretti war beeindruckt. Neben der Bibliothek befand sich nicht nur irgend ein Raum, es war im Gegenteil fast halbwegs ein Saal, der sich zu ihren Füssen ausbreitete. In die linke Wand war ein großes Wandcheminée aus gebürstetem Sandstein und Elfenbeinintarsien eingelassen, in dem ein munteres Feuer flackerte und wohlige Wärme verbreitete. Obwohl es draußen noch nicht wirklich kühl war, half es wohl, die Kälte in den Herzen zu erwärmen. Viele verschiedenartige Stühle und Sessel verschiedenster Epochen und Jahrgänge aus ebenso vielen verschiedenen Materialien wie Holz, Stoff oder Samtbezug mit Metallbeschlägen gruppierten sich um mehrere niedere Salontische aus Tropenholz. Vor den hohen Fenstern hingen dicke, dunkle Brokatvorhänge von einer hohen, schwer mit Stuck besetzten Decke herab. Andere wurden mit goldenen Spangen zusammengehalten und gaben die weißen, spitzbesetzten Gardinen frei, die darunter lagen und die Sicht nach draußen versperrten. An den Wänden befanden sich große Spiegel und überdimensionale Portraits von Männern und Frauen, die vermutlich ebenfalls zur Ahnendynastie der Familie gehörten, wie sie sie schon auf dem Weg in die Familiengruft gesehen hatten. Altmodische, bauchige Lampen, in Gold gehalten und mit zartsilbern schimmerndem Stoffbezug, verbreiteten ein angenehmes, gedämpftes Licht. In goldenen Ständern flackerten weiße Kerzen, deren tanzende Lichter sich in den Kristallen der Leuchter spiegelten und regenbogenfarbene Kringel an die Wände und auf den dunklen, gewachsten Parkett warfen, wo er nicht mit flauschigen, orientalischen Teppichen belegt war.
Custer, der hinter Moretti eintrat, fiel beinahe die Kinnlade hinunter. Er hatte sich viel vorgestellt, schließlich war hier Geld im Überfluss vorhanden, doch die Üppigkeit und Schwere des Raumes raubte ihm fast den Atem. So also lebte jemand, der Kohle hatte wie Heu...!, und dabei war es erst der zweite Raum, den er hier betreten hatte! Da kam ihm die Bibliothek nebenan reichlich fad und schmucklos vor.