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Custer rutschte unruhig auf seinem Stuhl in der Kantine herum und wandte sich immer wieder nervös gegen die Türe um, woher er Moretti erwartete, doch der Chef kam nicht. Seine Kollegen warfen sich vielsagende Blicke zu, die er scheinbar gar nicht sah oder, wenn er sie aus den Augenwinkeln bemerkte, achtlos überging, bis er es vor lauter Neugier doch nicht mehr aushielt und schließlich fragte: „Wo bleibt Moretti denn so lange?“
Mit gleichgültiger Miene zuckte Scherrer die Achseln. „Keine Ahnung. Hat wohl wieder mal keinen Hunger.“
„Er versucht ab und zu mal abzunehmen“, witzelte Sutter mit einem amüsierten Grinsen und einem versteckten Zwinkern in Scherrers Richtung.
„Er sagte doch, er würde uns hier treffen!“, maulte Custer beleidigt. Seine Tonlage klang gepresst und seine Miene war alles andere als erfreut.
Scherrer klopfte ihm beruhigend mit der Hand auf die Schulter: „Warum so nervös, mein Freund? Befürchten Sie, der Chef löst den Fall ohne uns?“
Custer schüttelte verstimmt den Kopf. „Das ist es doch nicht! Es ist nicht richtig, wenn wir ohne ihn zu essen beginnen!“
„Sie meinen, es ist nicht richtig, dass er uns hier warten lässt! Tja, das ist nicht das erste Mal, so ist Moretti nun halt. Kein Verlass, dass er sich mit uns Untertanen abgibt.“
Die Männer lachten über den Witz. Custer blickte konsterniert von einem zum anderen, er konnte ihn nicht nachempfinden. Es kostete ihn sichtlich Überwindung, sein Mittagsmahl ohne seinen Chef zu beenden, von Genießen konnte schon gar keine Rede sein.
Bevor sie aufbrachen, stand Scherrer auf und holte sich eine große Papptasse Kaffee und ein Schinkensandwich. Custer blickte ihn überrascht an. „Noch Hunger?“, erkundigte er sich.
Scherrer nickte grinsend. „Na klar.“ Er sagte nichts weiter dazu und ließ Custer in diesem Glauben zurück. Er ging ihnen voran zur Tür.
Oben klopfte er an Morettis Bürotüre. Obwohl er von ihm nicht hereingebeten wurde, öffnete er und trat unaufgefordert ein.
Moretti hob den Kopf und warf ihm einen müden Blick zu. „Ach, du bist es, Franz.“
Scherrer sah, wie der Freund seufzend die Luft ausstieß und in seinem Sessel dasaß wie ein Häufchen Elend. „Ich habe dir Kaffee und Sandwich mitgebracht, Paolo, damit du auch was zwischen die Zähne bekommst“, sagte er aufmunternd. Den Pappbecher in der einen, das Eingeklemmte in der anderen Hand, warf er die Türe mit dem Ellbogen zurück ins Schloss, ehe er zwischen den beiden Schreibtischen auf seinen Vorgesetzten zutrat.
Moretti nickte ihm zu, als er beides vor ihn hinstellte und bot ihm den Sessel an. „Danke dir, Franz. Setz dich, ich könnte etwas Gesellschaft und Zerstreuung brauchen.“
„Das dachte ich mir, deshalb bin ich hier.“ Scherrer nickte mit einem verständnisvollen Lächeln, bevor er wieder ernst wurde und der Aufforderung nachkam, während er ihm ins Gewissen redete: „Du darfst den Fall nicht so persönlich nehmen, Paolo; der Kerl macht das nicht deinetwegen!“
Morettis Brust entrang sich ein tiefes Knurren: „Ich weiß. Natürlich hast du recht. Aber ich hasse es, dass er sich dafür ausgerechnet mein Revier ausgesucht hat!“
„Ich verstehe dich sehr gut. Und dass er sich lustig über uns macht, fuxt uns genauso!“
Moretti genehmigte sich einen Schluck Kaffee. Einen Augenblick lang wusste er nicht, was er darauf sagen sollte. Als er absetzte und den Freund über den Rand der Papptasse hinweg müde anblickte, stellte er selbstanklagend fest: „Ich befürchte, ich bin nicht mehr so belastbar wie früher.“
Scherrer spürte, wie Moretti in Selbstmitleid badete. Zustimmend nickte er und seufzte ebenfalls. „Wir werden älter, Paolo, das ist alles. Die Männer und ich stehen nach wie vor hinter dir. Wir ziehen das gemeinsam durch – als Team, wie bisher. Lass dich von dem Scheißkerl nicht unterkriegen! Der ist es nicht wert!“, redete er ihm eindringlich ins Gewissen.
Moretti sah ihn an und seufzte, dann knurrte er entschlossen: „Du hast recht. Ich kann hier nicht in Selbstmitleid zerfließen, nur weil sich das Schwein mein Revier für seine Sauerei ausgesucht hat! Konzentrieren wir unsere Energie darauf, den Bastard zu schnappen!“
Scherrer nickte. Erleichtert stemmte er sich aus dem Sessel in die Höhe, um an seine Arbeit zurückzukehren. Nachdem er Moretti wieder einigermaßen aufgerichtet hatte, gab es Wichtigeres zu tun, als mit dem Chef beim Kaffee herumzutrödeln – er musste mit seinen Leuten einen Mörder fassen! Bevor er sich umdrehte und ging, lächelte er ihm noch einmal zu. „So gefällst du mir schon besser, mein Freund. Wir erwischen ihn, dafür geben wir alles!“, versprach er.