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Die zurückgelassenen Männer warfen sich gegenseitig vielsagende Blicke zu und atmeten erleichtert auf, als Moretti abdampfte.

„Mann, ist der vielleicht geladen! So habe ich ihn ja noch nie erlebt!“, sprach Seematter aus, was alle anderen dachten.

Hans Mäder nickte. „Das kannst du laut sagen, und ich bin schon lange bei der Truppe dabei!“

Morgan Custer beobachtete die Szene aus seiner Ecke mit schweigsamem Interesse.

Dänzer blickte unglücklich zu seinem Vorgesetzten hoch. Er bedauerte, nicht mit Sami zum Pinkeln mitgegangen zu sein. Obwohl er sicher war, gründlich gewesen zu sein, fühlte er ein schlechtes Gewissen in sich hochsteigen, weil es keine andere Erklärung als Morettis dafür gab. Ihm war nicht wohl beim Gedanken, bei Moretti antraben und sich noch mal zur Schnecke machen lassen zu müssen. Entsprechend unglücklich klang seine Stimme, als er jetzt fragte: „Was sollen wir denn nun machen?“

Franz Scherrer drehte sich nach ihm um. „Was er gesagt hat; du musst mit Sami da noch mal durch. Und ihr anderen lasst euch was einfallen! Aber ich befürchte, dass die Nachtschicht eure heutige Arbeit noch mal wiederholen muss.“

„Mann, da könnte ich mir ja was Einfältigeres vorstellen!“, maulte Dieter Ruch, der noch immer zur Nachtschicht eingeteilt war.

Stefan Heim strich sich mit Daumen und Zeigefinger über seinen Schnauzer, während er ihn scherzend aufzog: „Jedenfalls brauchst du dann nicht auszurücken wie ich, falls der Scheißkerl wieder zuschlägt!“

Die Männer um sie herum starrten ihn mit geweiteten Augen erschrocken an. „Hoffentlich nicht!“

„Mal den Teufel nicht an die Wand!“

Heim nickte zerknirscht. „Entschuldigung, das wollte ich nicht.“

„Das will ich dir auch geraten haben!“, knurrte Stefan Brügger, der magere Riese mit schütterem Haar und Bubifrisur.

In dem Moment kehrte Sami Zemeckis von der Toilette zu seinen Kollegen ins Büro zu seiner Computeranlage zurück.

Hans Mäder nahm den kleinen Griechen gleich bei seinem Eintritt am Ellbogen beiseite, und zog ihn zu sich heran, um ihm zuzuraunen: „Mann, jetzt hast du was verpasst! Kannst froh sein, dass du beim Pinkeln warst. Der Chef war soeben hier, er war stinksauer! Mit dem ist momentan nicht gut Kirschen essen!“

Der kleine Beamte blickte fragend zu ihm hoch: „Was ist denn passiert?“

„Weil ihr noch nichts gefunden habt!“

„Tja.“ Entschuldigend zuckte er mit den Achseln und wollte hinüber zu seinem Arbeitsplatz gehen, um sich niederzusetzen, doch Mäders starke Hand an seinem Arm verhinderte das. Er warf ihm einen fragenden Blick zu.

„Der Chef erwartet Helmi und dich in seinem Büro. Er will es von dir selbst hören.“

„Okay.“ Der Kleine klang alles andere als erbaut über die Aussicht auf einen Zusammenschiss, entsprechend beunruhigt sah er ihn an.

Mäder nickte ihm auffordernd zu: „Macht euch besser gleich auf die Socken; du weißt, Moretti wartet nicht gern. Und unter diesen Umständen jetzt erst recht nicht!“

„Mach dich auf was gefasst, Kleiner!“

„Okay, danke“, wiederholte dieser mit einem Blick auf Sutter, ehe er sich an seinen korpulenten Kollegen hinter den Bildschirmen wandte: „Los, komm mit, Helmi.“

Dieser verzog sein Babyface zu einer Grimasse, so dass sein sonst schon spärlicher Bartwuchs noch kümmerlicher aussah. „Eigentlich hat mir das vorhin schon gereicht! Der Alte ist ausgerastet wie noch nie“, erklärte er mit einem tiefen Seufzer vielsagend.

Die umstehenden Beamten konnten nichts anderes, als ihm bejahend zuzunicken.

„Häkäm!“ Abteilungsleiter Franz Scherrer räusperte sich lautstark, um auf sich aufmerksam zu machen. Als sich Sami nach ihm umdrehte, meinte er drängend: „Verschwindet jetzt besser; je länger ihr herum trödelt, desto ungenießbarer wird er!“

Mit eingezogenen Köpfen trabten die beiden den Gang hinunter wie ein paar Schafe, die zur Schlachtbank getrieben wurden.

Die Kollegen von der Tagschicht folgten ihnen. Sie gaben zwar vor, auf dem Weg zu ihren Spinden zu sein, aber eigentlich kamen sie hauptsächlich mit, um zuzuhören, wie Moretti diesmal reagierte. Und vielleicht auch in der Hoffnung, dass ihre Anwesenheit den Alten diesmal etwas milder stimmen würde.

„Herein!“ Schon allein der Klang seiner Stimme tönte alles andere als friedfertig.

Mit einem tiefen Seufzer drückte Dänzer die Klinke hinunter.

Moretti blickte von seinem Schreibtisch hoch, als die beiden eintraten. Hinter ihnen im Korridor bemerkte er sich bewegende Schatten, was ihn vermuten ließ, dass sich scheinbar noch mehr seiner Beamten hinter ihnen angeschlichen hatten, um den ZS mitzuhören. Entsprechend war er bemüht, sich zusammenzureißen, um seine Emotionen diesmal im Zaum zu halten. Seine Stimme klang dennoch schneidend, während er den direkten Blickkontakt mit Zemeckis suchte: „Wie ich hörte, soll auf den Videoaufnahmen vom Eingang nichts von unseren beiden Männern zu sehen sein?“, erkundigte er sich zwar angespannt, im Gegensatz zu vorhin aber relativ harmlos.

Sami Zemeckis warf seinem korpulenten Kollegen einen ungemütlichen Blick zu, ehe er dem seufzend zustimmte: „Das stimmt, absolut nichts.“

„Wie können Sie sich das erklären?“

„Überhaupt nicht.“

Moretti stieß einen tiefen Seufzer aus, um Dampf abzulassen, dann schüttelte er den Kopf. Er bemühte sich, seine Stimme ruhig und gleichmäßig klingen zu lassen, was sich in etwa so monoton anhörte wie das Rattern eines Güterzuges auf einer langen Geraden: „Das kann nicht sein! Wir gehen im Moment davon aus, dass Hesse seinen Mörder erst im Münster getroffen hat. Er muss also da reingekommen sein!“

Dänzer öffnete den Mund, um zu widersprechen, als Moretti schneller fortfuhr: „Da ihr ihn nicht erkannt habt, trug er vermutlich einen Hut oder einen langen Mantel! Das habt ihr sicher übersehen!“, kritisierte er zähneknirschend mit zunehmender Schärfe.

Helmi Dänzer schüttelte entschieden den Kopf, und bevor der Chef noch mehr falsche Kritik an den Mann bringen konnte, kam er ihm hastig zuvor: „Nein, Chef, bestimmt nicht! Auch nicht verkleidet!“, rechtfertigte er sich.

Dass er dabei so ruhig bleiben konnte, brachte das Fass zum Überlaufen. Moretti hieb mit der Faust auf den Tisch, dass es krachte, während er nach Luft ringend ausstieß: „Hören Sie endlich auf zu widersprechen! Etwas anderes kommt gar nicht infrage!“

„Er müsste schon durchs Kirchenfenster reingeflogen sein!“, versuchte ihn Sami Zemeckis mit einem Scherz zu beruhigen, stattdessen erreichte er jedoch gerade das Gegenteil.

„Witzbold!“ Morettis Gesicht lief puterrot an.

Achselzuckend zog der kleine Grieche den Kopf zwischen den Schulterblättern ein und machte einen halben Schritt retour. „Tut mir leid“, gab er sich zerknirscht, um die Situation nicht weiter anzuheizen.

„Vielleicht doch ein Phantom!“, meinte Dänzer, der keine andere Erklärung für das Phänomen fand.

Sami warf ihm einen kurzen Blick zu. „Dann wären es deren zwei“, belehrte er ihn.

„Quatsch!“ Morettis Augenbrauen berührten sich fast, so aufgebracht war er darüber, dass sie ihm auch noch Lügen auftischten. „Irgendwas müsst ihr übersehen haben!“

Fast wie auf Kommando schüttelten beide heftig den Kopf. „Ganz sicher nicht!“, behauptete Dänzer halsstarrig weiter, aber Sami Zemeckis schlug friedfertig vor: „Wenn es Sie beruhigt, klemmen wir uns morgen nochmal dahinter. Vielleicht haben wir ja wirklich was übersehen“, gab er nach, obwohl er selbst vom Gegenteil überzeugt war.

Moretti nickte erleichtert, seine Wut fiel durch sein Einlenken wie ein Kartenhaus in sich zusammen. „Die Nachtschicht soll sich dahinter klemmen! Und ihr Schelme da draußen seht nochmal in der Kirche nach! Unter den Sitzbänken! Und vor allem bei den Scharnieren! Wenn Blut geflossen ist, wird der Schlächter zumindest hier nicht alles weggeputzt haben können!“, donnerte er.