image
image
image

37

image

Während auf dem Polizeiposten die Nachtschicht übernahm, glitt der Finger seines schwarzen Lederhandschuhs den Annoncen der Boulevardzeitung entlang, bis er auf einem der Inserate verhielt. Nach ein paar hektischen Schritten war er an die Bar zurückgekehrt, um das zu finden, was er brauchte. Er vermisste die alten dicken Telefonbücher, wie es sie früher in den Telefonzellen gegeben hatte und wie es sie in Amerika gab, wenn die Ganoven in den Filmen darin blätterten und ihre behandschuhten Finger wie jetzt seiner den Zeilen und Namen entlang fuhren, um sich einen daraus herauszupicken. So war er gezwungen, in einem öffentlichen Lokal das Benötigte zu suchen. Das war nicht gut. Er scheute die Öffentlichkeit wie der Teufel das Weihwasser. Öffentlichkeit war gefährlich. Jeden Augenblick konnte jemand auftauchen, der ihn beobachtete! Oder ihn sprechen hörte! Aber das Risiko musste er eingehen. Es hatte sogar etwas Kribbelndes, einen aufregenden Aspekt, sich dessen bewusst zu sein! Wenn jemand ihn hörte, welche Schlüsse würde er wohl daraus ziehen? Er verzog den dünnlippigen Mund über dem kantigen Kinn zu einem verächtlichen Grinsen. Niemand würde etwas Verdächtiges daran finden. Er war hier sicher! Und er fühlte, wie er sich entspannte, wie sich seine Verkrampfung löste. Auf dem i-phone tippte er die Touch-Screen-Tasten an, öffnete die Leitung und wartete auf eine Verbindung.

„Ich bin Madeleine, wer bist du?“, erklang die sympathisch-erotische Stimme einer aufgeweckten jungen Frau.

Einen kurzen Augenblick lang stockte dem Anrufer der Atem, er schluckte und führte sein Glas zum Mund, das noch nicht abgeräumt worden war, ehe er ohne Begrüßung monoton in die Muschel raunte: „Ich suche für heute Abend eine Begleiterin. Wären Sie disponibel?“ Er stellte sich vor, dass sie nickte und sich bereits ausmalte, wie viel Geld er ihr in die Hand drücken würde.

„Aber ja, natürlich“, lautete ihre unverzügliche Antwort. „Wann und für wie lange?“

Lautlos lächelte er vor sich hin. „Treffen wir uns um halb elf beim Kindlifresserbrunnen, dann machen wir eine Reise durch die Stadt.“

„Eine Stunde kostet 80 Mäuse, wenn Sie mich die ganze Nacht wollen...“

„Geld ist kein Problem“, flüsterte er rau. „Seien Sie pünktlich, ich warte nicht gern!“ Damit hängte er grußlos auf. Mit der behandschuhten Linken zog er den Ärmel hoch und warf einen Blick auf die Armbanduhr. Mit einem schmalen Lächeln steckte er das Handy wieder ein.

Er wartete im Schatten der Häuserzeilen auf sie und stellte mit Genugtuung fest, sie war pünktlich! Etwas zu aufreizend vielleicht, aber schließlich war die Prostitution und die Aufgeilung der Freier ihr Geschäft. Ihr Gesicht war ebenmäßig und ansprechend, goldblonde Wellen umrahmten es und erinnerten in ihrer Art an Marilyn Monroe, ein Look, der auch in Europa immer mehr wieder aufkam. Obwohl sie keine Stöckelschuhe trug, war sie groß. Ihre schlanke Gestalt  steckte in einem Nichts aus rotem Lack, Leder und Rüschen, das ihre Blößen notdürftig bedeckte und dabei mehr Haut zeigte als verbarg. Einen knapperen Minijupe hatte er noch kaum je gesehen. Um den Mangel an Stoff etwas zu überdecken, trug sie ein passendes Lederjäckchen, an den Handgelenken und um den Hals hing billiger, für seinen Geschmack viel zu großer Schmuck, ihre Ohrgehänge wurden vom Haar fast verdeckt. Ihre rot geschminkten Lippen waren voll und sinnlich, die großen Augen mit einem dichten Wimpernkranz und schwarzem Kajal betont. Er stellte fest, dass sie hübsch war. Fast zu hübsch für das, was er mit ihr vorhatte.

Madeleine schob ihr dünnes Lederjäckchen über dem Handgelenk zurück und blickte auf ihre modische Armbanduhr. Der Kerl ließ sie bereits seit fünf Minuten warten! Mehrere Männer gingen an ihr vorbei, darunter waren sicher auch ein paar potenzielle Freier und zwei, die sie bereits kannte; sie drehten sich nach ihr um, machten Avancen oder riefen ihr anzügliche Spöttereien zu, die sie mit einem entschuldigenden Achselzucken quittierte: „Sorry, bin schon verabredet. Gerne ein anderes Mal. Wie wär’s mit morgen?“ Mehr als einer ging darauf ein und deutete an, dass er damit einverstanden war, so dass sie sich überlegte, morgen wieder hierher zu kommen. Ungeduldig wechselte sie das Gewicht von einem Fuss auf den anderen.

Er sah, wie sie tief seufzte und ihre Brust sich dabei hob und senkte. Er schluckte und spürte, wie sich seine Männlichkeit begehrlich regte. Das war nicht das, weswegen er sie angerufen hatte, aber er würde sich nehmen, was sich ihm bot. Er scheute sich davor. Es kostete ihn Überwindung, aus der Statistenrolle und damit aus dem Dunkel seiner Tribüne ans Licht der Öffentlichkeit zu treten, doch er musste es tun, wenn er sie sich nicht wegschnappen lassen wollte!

Madeleine begann unruhig zu zappeln, je länger er sie warten ließ. Es war etwas gänzlich anderes, eine verhasste Person zu töten als einen unschuldigen Menschen! Aber als der nächste Freier, ein junger Mann mit dunkler Afrolook-Mähne, sie ansprach und sie abzuschleppen versuchte, trat er kurzentschlossen aus dem Schatten der Nacht heraus und legte ihr besitzergreifend die Hand auf die Schulter.

Die Frau schrak zusammen, als hätte ein Geist sie berührt, und fuhr mit weit aufgerissenen Augen und zum Schreien geöffneten Mund zu ihm herum. „Gott, haben Sie mich jetzt erschreckt!“, stieß sie ausatmend aus, als sie, aus welchem Grund auch immer, ihn als ihre Verabredung erkannte.

„Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe“, nuschelte er mit monotoner Stimme. Er trug einen schwarzen, breitkrempigen Hut, der in der Dunkelheit die obere Hälfte seines Gesichts verbarg, und einen dunklen Trenchcoat, der ihm bis zu den Knien reichte und seine Gestalt und Kleidung bedeckte.

Dem jungen Mann kam der Kerl suspekt vor, zudem hatte er Madeleine zuerst entdeckt! „Hau ab, Mann! Ich war vor dir hier!“, fuhr er den Schattenmann aufbegehrend an.

Madeleine schluckte. Ihr hätte der farbige Bursche auch besser gefallen, aber sie hatte sich mit dem Kerl telefonisch verabredet. „Tut mir leid, vielleicht ein nächstes Mal. Das hier ist meine Verabredung“, bedauerte sie mit einem sinnlichen Schrägstellen des Kopfes und einem entschuldigenden Hochziehen der Schulter.

Die Lippen des dunklen Mannes verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen. „Ja, vielleicht ein nächstes Mal“, feixte er mit seiner monotonen Stimme. „Können wir gehen?“ Er bot ihr seinen Arm, und sie nickte.

Jens Wyss warf ihm einen düsteren Blick zu und trollte sich.

„Da lang“, nuschelte er und deutete mit dem Kinn zu den Häuserzeilen hinüber. Er führte sie eilig unter den Alkoven hindurch und dirigierte sie dann in die nächste dunkle Gasse hinein. „Da hinten steht mein Auto“, sagte er.

Es drang nur wenig Licht in die Sackgasse. Ganz hinten stand ein kleiner, alter Fiat mit bordeauroter Farbe.

Madeleine blieb daneben stehen und drehte sich nach dem Mann um, der gerade die Hand aus der Manteltasche zog. Das Letzte, was sie sah, war der Revolver mit verlängertem Lauf, den er in der Faust und auf sie gerichtet hielt. Sie kam nicht einmal dazu, zu schreien.

Außer einem dumpfen „Blupp!“, war vom Schuss durch den Schalldämpfer nichts zu hören. Er packte sie unter den Achseln und fing sie auf, als sie sich um die eigene Achse drehte, in den Knien einknickte und ihm rücklings entgegen fiel. Mit dem Revolver noch in der Hand, riss er den Wagenschlag auf, schob sie hinein und hob ihre Füße nach, bevor er die mitgebrachte Wolldecke vom Fußraum in die Höhe zog und die Frau damit bis über die Brust zudeckte, so dass sie das Blut aufsog, das aus der Kopfwunde floss, danach warf er die Türe zu und setzte sich hinters Steuer. Es gab keine verdächtigen Geräusche und keine Augenzeugen.

Er setzte den Wagen rückwärts aus der Gasse zurück und fuhr über die gepflasterten Strassen aus dem Stadtzentrum zuerst nach Norden, dann über die Kornhausbrücke über die Aare und weiter über die Viktoriastrasse nach Südosten ans andere Ende der Stadt zum Rosengarten. Auf dem weitläufigen Gelände aus Liege- und Spielwiese, einem von einer Hecke umzäunten riesigen Park mit Blumenrabatten, lauschigen Schattenplätzen und hohen Bäumen, fand er im Dunkeln einen etwas entlegenen Platz, der sich hervorragend für ein Schäferstündchen eignete.