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Moretti hatte eine durchwachte Nacht hinter sich. Der Fall ging ihm an die Nieren und begann ihn auch gesundheitlich zu schädigen. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, die von seinem Schlafmanko zeugten. Trotzdem war er sauber rasiert und hatte sich ein frisches, gestärktes Hemd angezogen. Als warte er auf etwas, war er bereits seit einer Stunde wieder im Präsidium zurück und tigerte mit den Händen auf dem Rücken unruhig auf dem Korridor auf und ab.

Die Beamten von der Nachtschicht fragten sich, warum er nicht in sein Büro ging, sondern nervend vor dem Empfang herumlungerte. Es sah aus, als wollte er die Tagschicht empfangen, um sich mit ihr gleich wieder ans Werk zu machen oder als erwarte er sonst jemanden, der hätte kommen sollen aber nicht kam. Die Beamten warfen ihm ab und zu ein paar fragende Blicke zu, doch keiner sprach ihn darauf an, was er um diese Zeit, wo die Stadt noch schlief, bereits hier auf dem Posten suchte.

Als frühmorgens das erste Telefon einging, zuckte er zusammen und wandte sich wie in Erwartung heftig um, als sei der Moment gekommen, auf den er gewartet hatte. Sekunden später stürzte ihm Dieter Ruch auch schon vor den Augen der verdutzten Kollegen aus dem Büro entgegen. „Chef, wir haben einen neuen Fall!“, rief er aus. Seine Miene war aufgewühlt, um nicht zu sagen bestürzt.

Moretti sah, wie heftig er atmete. Das fing ja gut an! Beunruhigt runzelte er die Stirn, schlagartig beschlich ihn ein ungutes Gefühl, das der Beamte sogleich bestätigte: „Im Rosengarten! Und das Opfer sieht genauso aus wie unser letztes!“

Der Zusammenhang war Moretti sofort klar. Der Stadtpark war ein beliebtes Ziel für verliebte Pärchen, er war weitläufig und lag über mehrere hundert Meter abseits jeglicher Zivilisation. Selbst jemand, der schrie, konnte unter Umständen nicht gehört werden! So wie die bedauernswerte Person, die es diesmal getroffen hatte! Moretti fühlte, wie seine Wut aufloderte. Verdammt!, fluchte er im Stillen, es war wirklich der perfekte Ort für jemanden wie den Schlächter von Bern, wenn er Abgeschiedenheit und Stille für sein unheimliches Werk suchte!

„Schlagen Sie Alarm und kommen Sie mit! Ich sage Renoir Bescheid!“ Im Laufschritt stürzte er an Dieter Ruch vorbei durch den Korridor hinüber zum gemeinsamen Büro und trat ohne zu klopfen beinahe die Türe ein.

Charles Renoir hob überrascht den Kopf von seiner Schreibtischarbeit. „Paolo? Was tust du denn um diese Zeit schon hier?“, fragte er erstaunt.

Moretti schüttelte abwehrend den Kopf. Vielleicht war es genau das gewesen, das ihn nicht hatte schlafen lassen, eine unbestimmte Ahnung oder die unterschwellige Angst vor dieser, nun begangenen neuen Tat! „Frag’ nicht, Charles! Ein weiteres Opfer vom Schlächter!“ 

„Wo?“ Der hagere Mann fuhr wie von der Tarantel gestochen aus seinem Sessel hoch und kam um den Schreibtisch herumgeschossen.

„Im Rosengarten.“

„Dann los! Ich nehme an, dass du mit dabei sein willst.“ Es war keine Frage, lediglich eine Feststellung.

Moretti nickte. „Natürlich.“

„Es gibt Arbeit, Jungs!“, stürmte er hinter ihm auf den Korridor hinaus. Im Laufen warf er sich seine Uniformjacke über.

Dieter Ruch und seine Kollegen waren bereits aufbruch- und marschbereit, und es war geklärt, wer die Stellung auf dem Revier halten musste.

„Was wissen wir schon über den neuen Fall?“, erkundigte sich Renoir, während er neben Ruch gegen den Aufzug eilte. Statt den Lift nahmen sie jedoch die Treppe hinunter ins Untergeschoss, das ging schneller.

„Diesmal ist’s eine Frau, spärlich bekleidet.“

„Wer hat sie gefunden?“

„Max Reinhard, ein Jogger.“

„Der ist aber früh dran.“ Der Ausspruch deutete darauf hin, dass Renoir dies ziemlich verdächtig fand.

Ruch zuckte nichtssagend mit der Achsel. „Er sagt, er muss um Sieben zur Arbeit. Er ist immer so früh unterwegs.“

„Da sind wir ja mal gespannt auf den Typen!“

Das Gespräch versandte, weil sie kaum nebeneinander auf der Treppe Platz fanden und ihnen durch die Eile der Atem zum Reden ausging. Zudem war bereits genug gesagt. Die Männer fragten sich, was sie wohl antreffen würden. Nach den Fotos, die ihnen Moretti und seine Leute von Hesse ins Präsidium gebracht hatten, mussten sie ein grässliches Schlachtfeld erwarten und davon ausgehen, dass es eine weitere, abstoßende Szene war, die sich ihnen darbieten würde.

Moretti folgte den beiden schweratmend und schweißgebadet zwischen den anderen Beamten hinterher. Er keuchte heftig, weil er vor lauter Anstrengung unter Atemnot litt, die sein Asthma noch verstärkte, aber er hätte um keinen Preis darauf verzichtet, mit der Nachtschicht mit auszurücken. Mit hochrotem Kopf langte er unten in der Einstellhalle an und eilte hinüber zu seinem Einsatzwagen, den diesmal Renoir und Ruch mit ihm teilten. Aus dem Labor kamen ihnen der Pathologe Jens Smith und die Forensikerin Rebecca Neidhart entgegen, die sich ihnen anschlossen, um am Tatort die ersten Spuren aufzunehmen.

Ruch lächelte der jungen Frau entgegen. „Hallo, Becky, schön, dich zu sehen, auch wenn die Art des Treffens wenig erfreulich ist.“

Sie nickte und strich sich ihr langes, brünettes Haar hinters Ohr zurück. „Der Schlächter hat ein neues Opfer zurückgelassen?“, erkundigte sie sich, als wenn sie es nicht schon gehört hätte. 

Ruch nickte. „Eine Frau.“

„Verdammter Dreckskerl!“, stieß sie ungalant aus. Sie warf ihre Jacke auf den Sitz, ehe sie hinter ihm einstieg und die Wagentüre zuknallte.

„Wer hat sie gefunden?“, erkundigte sich Moretti, der die Frage und die Antwort darauf nicht mitbekommen hatte.

„Ein Jogger. Er wartet mit den Kollegen vom Notruf auf uns.“

Moretti nickte. Er hatte keine weiteren Fragen, sie würden ja jeden Augenblick selbst zu Gesicht bekommen, was der Schlächter ihnen hinterlassen hatte. 

Mit Blaulicht und Sirenen donnerten sie in aller Herrgottsfrühe vom Waisenhausplatz über die Brunngass- in die Postgasshalde und nach einer langgezogenen s-Kurve über die Nydegggasse gegen die Nydeggbrücke aus der Stadt hinaus. Nur von ein paar Straßenfunzeln spärlich beleuchtet, lag der Lauf der Aare schwarz und fast bedrohlich unter ihnen. Dann waren sie über die Brücke hinweg und nahmen Anlauf den Aargauerstalden hinauf.

Ruch hatte das Gaspedal voll durchgedrückt, trotz der Steigung war kaum eine Tempoabnahme festzustellen. Niemand sprach. Mit verbissenen Mienen warteten die Mitfahrer auf den Augenblick, wo sich das Geschehene vor ihren Augen darbieten würde.

Sie fuhren neben der Mauer her, die den Rosengarten umgab, dann tauchte vor ihnen im Scheinwerferlicht des Polizeiwagens endlich das breite, schmiedeeiserne Tor des Stadtparks auf, der Besuchern bei Tageslicht einen wunderbaren Ausblick auf Berns Altstadt und die Aareschlaufe bot. Um 1913 war der frühere Friedhof zu einer idyllischen Naherholungsstätte umgestaltet worden, die seither mit ihrer üppigen Blütenpracht aus 220 verschiedenen Rosensorten, 200 Irisarten und Moorbeeten mit 28 verschiedenen Rhododendren, Azaleen und einer Teichanlage Touristen wie auch Einheimische wie ein Magnet in Scharen anzog.

Ruch drosselte die Geschwindigkeit erst kurz vor dem Tor, trotzdem knirschten die davonspritzenden Kiesel unter den Rädern, als er den Wagen nun fast gemächlich durch die Einfahrt und dann den hochstämmigen Laubbäumen entlang über den Kiesweg durch den Park weiter rollen ließ. Erst inmitten des Geländes waren das blinkende Blaulicht und das Fahrzeug der Notfallpatrouille sowie mehrere schattenhafte, schwarze Gestalten und die von hohen Scheinwerfern auf dreiteiligen Standbeinen ausgeleuchtete Umgebung zu erkennen.

Von dichtem Buschwerk und Bäumen den Blicken der Ankömmlinge anfangs noch entzogen, sahen sie auf der Liegewiese hinter der Brunnenteichanlage moderne Metallskulpturen in den Himmel ragen, die wohl für eine Sonderausstellung aufgestellt worden waren. Vom Licht der Lampen angestrahlt, warfen sie lange Schatten auf das Gras und das kleine Wäldchen dahinter und verliehen der Szenerie etwas sehr Bizarres. Es war der perfekte Hintergrund, um ein Bild des Verbrechens zu präsentieren, dachte Moretti, und weit und breit der einzige, relativ geschützte Ort, um so eine grausige Tat ungesehen begehen zu können!

Morettis Herz klopfte bereits heftig vor Anspannung. Wenige Meter vor dem Wagen der Autopatrouille, rollte der Einsatzwagen aus und die Beamten der Kripo stießen ihre Türen auf. Ruch drehte den Zündschlüssel und stellte den Motor ab. Er hatte die 2,1 Kilometer lange Strecke von der Hauptwache an der Waisenhausstraße 32 bis zum Fundort in drei Minuten zurückgelegt.

Fröstelnd schob Moretti die Fäuste in die Manteltaschen seines Wollmantels. Er trug noch nicht mal Polizeiuniform. Um die Muskeln vor der Kühle der Nacht zu schützen, hatte er sich einen Schal um den Nacken geschlungen, dessen Enden ihm auf die breite Brust hinunter hingen. Neben seinem großen Kollegen Renoir marschierte er zielstrebig auf die herumwuselnden Beamten zu, die die Fundstelle wie Techniker auf einer Bühne ausleuchteten und die wenigen, vorhandenen Spuren zu sichern versuchten, indem sie erst mal verhinderten, dass Unbefugte die Stelle betreten konnten. Doch von denen gab es außer dem jungen Mann, der die Leiche gefunden hatte, glücklicherweise noch keine. Es war noch viel zu früh, als dass sich bereits Zaungäste eingefunden hätten.

„Charles Renoir. Mein Kollege, Kommissar Moretti, guten Tag“, stellte der Dienstchef der Spezial Fahndung III sie beide vor, als sie heran waren, und streckte dem breitschultrigen Polizisten mit Oberlippen- und Backenbart die Hand zum Gruß entgegen.

„Jacques Federer, guten Morgen“, antwortete der Teamleiter der Notrufpolizei und drückte sie, dann begrüßte er Moretti.

An dem Morgen ist gar nichts gut!, dachte dieser sauer. Er nickte. „Morgen, Jacques.“

„Ist das Zufall, dass du hier bist?“, erkundigte der sich mit einem prüfenden Blick.

„Nicht wirklich, ich konnte nicht schlafen.“ Moretti schüttelte müde gähnend den Kopf, bevor er gleich zur Sache kam: „Wo liegt sie?“

Korporal Federer deutete mit dem Arm ein paar Meter seitwärts, derweil er seufzend warnte: „Macht euch auf was gefasst! Es ist kein schöner Anblick.“

„Wenn’s der Schlächter war, dann weiß ich, wie sie aussieht!“, knurrte Moretti grob. Ohne durch Höflichkeitsfloskeln Zeit zu verlieren, walzte er an Federer vorbei unter den gelben Absperrbändern hindurch, die die mobile Streife rund um die Leiche angebracht hatte, hinüber zur Fundstelle.

Der Polizist warf Renoir einen beunruhigt fragenden Blick zu. Dieser zuckte entschuldigend mit einem schwachen Lächeln die Achsel. „Der Schlächter ist sein Fall“, antwortete er knapp, ehe er mit ihm hinter Moretti nachfolgte. „Wo ist der Mann, der sie gefunden hat?“

„Da drüben.“ Federer deutete mit dem Arm auf einen sehr jungen, sportlich aussehenden Mann in dunkelblauem Jogginganzug und weißen Turnschuhen. Er führte Renoir zu ihm hinüber, um sie einander vorzustellen. „Max Reinhard“, sagte er.

Der junge Mann reichte ihm die Hand. Sie fühlte sich eiskalt und kraftlos an. Er atmetet noch immer heftig, als wäre er vor noch nicht allzu langer Zeit schnell gerannt. Er war nicht sehr groß, aber schlank, schon fast schlaksig und mager. Über seinem schmalen Gesicht besaß er einen nur noch spärlichen Haarwuchs, der sich in tiefen Geheimratsecken aus dem Staub machte. Als Rothaariger hatte er schon von Natur aus einen hellen Teint, doch jetzt war er weiß wie ein Laken, seine Haut wirkte beinahe durchsichtig, so dass die blauen Venen zwischen Augen und Nase durchschimmerten und die Sommersprossen nur noch andeutungsweise zu sehen waren. 

„Guten Morgen“, grüßte Renoir dienstlich.

„Hallo.“ Reinhard war noch immer außer Atem und kaum imstande, richtig zu sprechen, er hauchte lediglich.

„Sie haben sie gefunden?“

Er nickte schwach und blickte kläglich drein, dabei schluckte er schwer und versuchte zu antworten: „Ja. Ich bin fast über sie gestolpert, weil ich mit niemandem hier gerechnet habe.“

Renoir runzelte beunruhigt die Stirn. „Haben Sie sie bewegt?“ Wenn er über die Tote drübergefallen war, hatte er ihnen unter Umständen die schönsten Beweise vernichtet! Er atmete auf, als Reinhard protestierte.

„Nein, natürlich nicht! Das mit dem Drüberstolpern war doch nur bildlich gemeint!“, erklärte er mit hastigem Kopfschütteln. „Ich schwöre, ich habe sie nicht berührt! Ich war etwa drei Meter von ihr entfernt, ungefähr so wie jetzt, als ich sie da liegen sah. Es ist furchtbar!“ Als er erneut zu ihr hinübersah, schauderte er zusammen und wandte sich rasch ab.

„Sie sind aber früh dran, Reinhard“, bemerkte Renoir spitz, so dass der junge Mann den Stachel sofort bemerkte und den Ausspruch darauf hindeutete, dass ihn der Kommissar deswegen ziemlich verdächtig fand.

Schwach schüttelte er den Kopf, um zu protestieren, doch sein Einwand klang nicht wirklich kraftvoll: „Ich bin immer so früh unterwegs, ich muss um sieben zur Arbeit!“

Renoir legte dem zitternden Mann freundschaftlich die Hand auf den Arm. „Ich denke, das wird wohl heute nichts“, erklärte er.

Reinhard machte erschrocken einen Schritt zurück und schüttelte dabei seine Hand ab. „Warum?“, fragte er mit geweiteten Augen entsetzt. Er sah sich schon verhaftet und mit Handschellen um die Gelenke abgeführt.

Renoir lächelte beruhigend. „Ich denke, dass Sie psychologische Betreuung brauchen. Unser Team wird sich um Sie kümmern.“

Er sah, wie Reinhard sich erleichtert entspannte. Mit einem verkrampften Lächeln versuchte er zu nicken. „Ja, gern, vielen Dank“, hauchte er.

Jacques Federer ließ sie stehen und ging zu Moretti hinüber. Er hatte sich kaum zu ihm gesellt, als hinter ihnen nacheinander Sutter und Scherrer in ihren Privatfahrzeugen eintrafen. Sie waren zuhause angerufen worden und sofort zum Tatort geeilt, deshalb waren sie noch unrasiert, als sie sich nach dem Ausweisen unter den Absperrbändern hindurch schoben und auf ihren Chef und den Einsatzleiter der Notrufpolizei zueilten.

Die beiden standen nebeneinander zwischen einer der modernen Skulpturen, die im Stadtpark verteilt zu finden waren. Sie hatten ihnen den Rücken zugewandt, doch schon von Weitem war zu erkennen, dass Morettis Schultern bedrückt nach vorne hingen.

Von den Scheinwerfern angestrahlt, starrte der Polizeichef zwischen Wald, Gestrüpp und sich selbst auf die Stelle, an der die Tote zwischen Gebüsch nur halb verdeckt im knöchelhohen Gras lag. Im Osten begann es langsam zu tagen. Wenn er den Kopf ein wenig zur Seite drehte, konnte er die Spitze des Münsters sehen. Tiefseufzend kehrte sein Blick zurück auf die bedauernswerte Person, die hier in ihrem eingetrockneten Blut lag! Er schluckte leer und fühlte sich vor Entsetzen so mies wie sein Magen, der ungehalten knurrte, hatte Moretti doch seit zwei Tagen kaum mehr eine richtige Mahlzeit zu sich genommen. Mit einem Blick nahm er die blutige Szenerie in sich auf. Diesmal war es eine junge, blonde Frau, die dem Mörder zum Opfer gefallen war.

„Definitiv nichts für schwache Gemüter!“, bemerkte Federer, weil ihm sonst nichts Schlaueres als Diskussionsgrundlage einfiel.

Moretti nickte zur Bestätigung, seine Stimme klang durch die am Gaumen klebende Zunge teigig, als er bestätigte: „Das muss der Schlächter gewesen sein!“ Seine Stimme klang tonlos, und dennoch schien sie über dem Platz zu hallen. Die Tatsache, dass es einen zweiten, so grausigen Mord gegeben hatte und es sich scheinbar doch um einen Serientäter handelte, wie Custer prophezeit hatte, machte den Vorfall umso schockierender.

Als die beiden Ermittler heran waren, prallten sie ebenso fassungslos wie beim ersten Mal zurück. Es war, obwohl seine Handschrift unverwechselbar war und sie es schon mal gesehen hatten, noch immer genauso scheußlich und der Gedanke daran unvorstellbar, wie grausam der Schlächter seine Opfer leiden ließ. Beide würgten, als sie die Frau in ihrem Blut liegen sahen.

Erschüttert wandte sich Moretti neben ihnen ab. „Ein Jogger hat sie in der Früh so gefunden“, erklärte er, um die Situation kurz zu erläutern.

Hinter ihnen fuhr ein Taxi mit quietschenden Reifen heran, dem Custer eilig entstieg und mit Wucht die Wagentüre zuknallte.

Die Beamten drehten sich genervt und sich lange beredte Blicke zuwerfend, nach ihm um und sahen ihm entgegen.

„Weiß jemand, wer sie ist?“, erkundigte sich Moretti, der vom Ankömmling keine Notiz mehr nahm.

Federer schüttelte verneinend den Kopf. „Wir haben weder ihre Brieftasche noch einen Ausweis gefunden.“

„Er lässt uns rätseln!“, knurrte Moretti unwirsch.

Die Männer um ihn herum nickten. Mit starren Mienen blickten sie Custer entgegen, der mit wehendem Trenchcoat auf sie zugeeilt kam. Trotz der frühen Uhrzeit sah er aus wie aus dem Ei gepellt.

„Entschuldigung“, rief er schon von Weitem keuchend. „Was ist passiert?“ Er sah gehetzt aus, obwohl er gerade keine sieben Meter zu Fuß gegangen war.

Moretti deutete nur wortlos mit dem Kinn über die Schulter zurück auf die Stelle, an der das Opfer lag.

„Weiblich. Und nicht mehr sehr attraktiv“, schilderte Sutter abstrakt.

Custer blieb schweratmend vor ihnen stehen. Über ihre Schultern hinweg blickte er auf die halbnackte Leiche einer spärlich bekleideten, jungen Frau hinab. Der karmesinrote Lippenstift war verwischt und zog sich als Schliere vom Mundwinkel bis über die Hälfte ihrer Wange. Mit zur Seite abgewinkeltem Kopf lag sie mit leeren Augen, Arme und Beine ausgestreckt, das eine Knie halb angewinkelt, rücklings im Gras. Ihr blondes Haar war auf der entgegen geneigten Seite vom Schussloch in ihrer Stirn mit Blut verkrustet. Das rote Lackbustier um ihre kleinen Brüste war nur wenig verrutscht, ihr enger Mini hingegen rumpfig und bedeckte ihre Blöße nur notdürftig, der Slip lag achtlos neben der Leiche.

„Sie sind das von Ihrer Schlachterei her ja schon gewohnt, oder, Custer?“, spottete Scherrer, um seine Übelkeit zu übertünchen. Es war nicht eigentlich das Aussehen der Toten, das ihm das Essen bis vor den Ausgang trieb, sondern vielmehr sein Bedauern und der Gedanke an das unsägliche Leiden, das sie hatte ertragen müssen.

Auf die dämliche Frage nickte er lediglich gelassen, der Anblick schien ihm wirklich nicht ausgesprochen viel auszumachen.

„Welcher Irrer macht so was?“, knurrte Federer wütend.

Beleidigt trat Custer einen Schritt zurück. „Warum sehen Sie mich an?“, keifte er verdrossen.

Sutter zuckte an seiner Stelle mürrisch die Achseln: „Vielleicht wissen Sie darauf ja auch wieder so eine brillante, neunmalkluge Antwort!“

Er warf ihm einen beleidigten Blick zu und schüttelte bedauernd den Kopf. „Nein, tut mir leid, diesmal nicht! Diesmal muss ich Sie enttäuschen, mein Freund, mir sind die Ideen ausgegangen!“ Und dazu bedurfte es, wie die Polizisten inzwischen schon bemerkt hatten, ziemlich viel!

„Sie hat fast identische Verletzungen wie unser Politiker im Münster“, erklärte Profiler Hans Mäder hochblickend, der neben der Leiche auf den Fersen hockte und die ersten forensischen Untersuchungen an der Toten vornahm. Sie war nicht wirklich so jung, wie sie auf den ersten Blick aussah.

Federer blickte abwartend von einem zum anderen.

„Was sagt uns das?“, warf Moretti fragend in die Runde. Er wäre nicht überrascht gewesen, hätte Custer darauf geantwortet, stattdessen war es Franz Scherrer.

Die Worte klangen monoton und waren von tiefem Widerstreben begleitet: „Dass wir es mit demselben Täter zu tun haben.“

„Ganz genau.“

Sutter nickte. „Du hast recht. Mit Ausnahme, dass er ihr Gesicht nicht auf so bestialische Weise entstellt hat wie beim ersten Mal.“

„Für sie war es brutal genug!“, knurrte Moretti.

Scherrer nickte. „Ja. Und er hat sie erschossen.“

„Erstaunlich.“

„Ob vorher oder nachher, wird Marti feststellen müssen!“, verwies Mäder auf später. Er wollte sich persönlich nicht festlegen, schließlich war beides möglich.

„Ein glatter Kopfschuss“, stellte Custer unnötigerweise fest, um doch auch noch etwas zu sagen.

Sutter drehte den Ellbogen aus und berührte seinen Freund am Arm. „Franz, erinnerst du dich noch, was du im Münster gesagt hast?“

„Nein, was?“ Scherrer drehte ihm fragend das Gesicht zu.

„Eine gewisse Ahnung von Anatomie.“

„Ja, die hat unser bestialischer Killer ganz gewiss!“, fauchte Scherrer frustriert.

Sutter verzog das Gesicht zu einer wütenden Grimasse. „Dieses Schwein! Warum konnte er es nicht bei dem ersten Mal belassen?“ Er schrie seine Wut beinahe hinaus. Die Ungeheuerlichkeit und das Ausmaß an Gewalt, das der Fall angenommen hatte, raubte ihm fast den Atem.

„Ich hatte recht, es ist also doch ein Serienkiller!“, stellte Custer mit sichtlicher Genugtuung fest, dass er richtig gelegen hatte.

„Ein verdammtes Ungeheuer!“

„Oder ein Trittbrettfahrer!“, konterte Sutter auf Custers Plagiat, weil er ahnte, dass ihm sein Widerspruch nicht schmecken würde. Es sprach einiges zwar für den Schlächter, aber nicht alles.

Wie von der Tarantel gestochen, fuhr der amerikanische Blondschopf auf und bellte: „Wie kann es ein Trittbrettfahrer sein, wenn die junge Dame dieselben Verletzungen wie beim ersten Mal aufweist?“

„Junge Dame ist gut!“, knurrte Scherrer. „Sie ist unter ihrer Schminke mindestens um die 40!“

„Ist doch egal!“, fauchte Moretti wild. „Bringt mir diesen Kerl! Tot oder lebendig! Das ist kein Mensch! Den sollte man auf dieselbe bestialische Weise leiden lassen, wie er seine Opfer umbringt!“ Der Kommissar hatte einen hochroten Kopf und vor Wut einen dicken Hals, der aussah, als würde er demnächst platzen.

„Aber, Chef!“ Mäder war ganz baff, weil er so einen Ausbruch bei Moretti zum ersten Mal erlebte; das hatte es noch nie gegeben, dass er sich nicht mehr in der Gewalt hatte und Dinge aussprach, die er bei jedem anderen sogleich scharf gerügt hätte. Aber dieses war auch kein gewöhnlicher Fall!

„Custer hat recht, es muss derselbe Kerl sein!“, gestand ihm Sutter für einmal, wenn auch notgedrungen zu. „Die Verletzungen sind örtlich zu identisch, zudem wurden sie in den Medien nirgends so erwähnt! Es müsste sich sonst schon um jemanden handeln, der den Toten vor oder nach uns gesehen hat!“, versuchte er die Situation ins rechte Licht zu rücken.

Scherrer sah ihn mit offenem Mund entsetzt  an. „Du meinst, außer dem Mörder?“

Auch Moretti blickte ihn fast ebenso schockiert an, bevor er abwehrte: „Das wollen wir doch nicht hoffen!“

„Der Kerl müsste ja extrem abgebrüht sein!“, stellte Custer fest, um sie auf die schiere Unmöglichkeit ihrer Bemerkung hinzuweisen.

„Dann gibt es vielleicht einen heimlichen, unbekannten Zeugen?“

Custer schluckte perplex. An diese Möglichkeit hatte er nicht gedacht.

„Was halten Sie von der Idee eines Zeugen?“

„Der dann auf dieselbe Weise mordet?“

Sutter nickte.

„Ziemlich unwahrscheinlich.“

„Aber möglich, falls es sich um einen Feind des Täters handeln würde.“

„Was ziemlich an den Haaren herbeigezogen ist!“

„Ich tippe auf denselben Mörder!“, blieb Custer bei seiner Version. 

Moretti schüttelte ratlos den Kopf. „Dann verstehe ich nicht, dass er zahmer geworden ist. Meistens ist es ja gerade umgekehrt!“

„Vielleicht hat er sie gekannt“, war Sutters neue Idee.

„Oder er war nicht wütend?“

„Was die Frage ausschließen dürfte, ob sie eine Zeugin gewesen sein könnte.“ 

„Warum?“

Aller Augen richteten sich fragend auf Scherrer. Dieser zuckte verständnislos mit den Achseln, weil sie auf den Gedanken nicht auch schon selbst gekommen waren: „Weil ich auf einen Zeugen stinkwütend wäre und wahrscheinlich an seiner Stelle durchdrehen würde.“

Moretti nickte. Scherrers Erklärung klang plausibel. „Die Frage ist, was bringt ihn dazu, so bestialisch zu töten?“

Custer verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust, als wollte er seine Worte damit absegnen, derweil er erklärte: „Ich halte es für ein Muster, eine Art Erkennungszeichen, damit wir wissen, dass er das ist!“

„Gleich und trotzdem nicht gleich!“ Scherrer seufzte unter konstantem Kopfschütteln. „Die Tatsache verwirrt mich. Ehrlich Leute, aus dem Kerl werde ich einfach nicht schlau!“

Moretti war das hingegen ziemlich egal. Er wollte sich den Kopf nicht über das Warum zerbrechen, sondern über das: Wie fange ich den Scheißkerl? „Überprüft Hesse! Ob er Kontakt zu ihr hatte, ob er sie kennt! Am besten bringen wir ein Foto von ihr in der Zeitung, vielleicht bringt uns das was!“

Abteilungsleiter Franz Scherrer nickte. „Gute Idee. Hoffentlich hilft uns das weiter!

Sobald Marti sie ein bisschen zurechtgemacht hat, bereite ich unser Statement vor.“

„In Ordnung.“

Custer wandte sich von der Gruppe ab und den Ermittlern zu, um von dem unmöglichen Gedanken eines möglichen Zeugen oder eines zweiten Killers abzulenken. „Haben Sie schon irgendwelche Hinweise auf den Mörder gefunden, Sir?“, fragte er an Mäder gewandt.

Aller Augen richteten sich auf den Forensiker, der mit Bedauern in der Stimme seinen silbernen Haarschopf schüttelte: „Leider nein. Bisher nichts, das wir nicht schon wüssten und Sie nicht selbst sehen könnten.“

„Und unter ihr?“, fragte Moretti. „Haben Sie sie schon umgedreht?“

Er schüttelte den Kopf und stand auf, um seine Position dafür zu korrigieren. Durch den veränderten Lichteinfall wurden die sanften Dellen am Boden sichtbar, die auf Höhe ihrer Kniekehlen und der Fußfesseln in den grasbewachsenen Boden gedrückt waren.

„Da! Seht ihr das auch?“, rief Sutter mit ausgestrecktem Arm warnend aus.

„Was denn?“ Von weiteren Vermutungen abschweifend, wandten sich die Männer wieder vollumfänglich der Leiche zu.

Sutter deutete mit dem Finger auf die besagten Stellen. „Diese Vertiefungen hier. Und da, und da! Und da neben ihrem Nacken.“

Dort war das niedere Gras niedergedrückt, einige Halme geknickt und angequetscht.

„Was ist das?“, fragte Custer mit zusammengezogenen Brauen stirnrunzelnd.

„Als wenn jemand hier gekniet und sich mit der Hand aufgestützt hätte!“, sinnierte Scherrer nachdenklich.

„Das können Sie an diesen Beulen sehen?“, fragte Custer verblüfft.

Sutter nickte. „Wie sieht’s aus, Hans? Liege ich richtig? Wurde sie vergewaltigt?“

Mäder leuchtete ihr mit einer Taschenlampe zwischen den leicht gespreizten Beinen unter den Rock. „Die Schamlippen sehen ziemlich geschwollen aus. Kein Hinweis auf Sperma. Aber es ist durchaus möglich, dass sie Sexualverkehr hatte.“

„Vergewaltigt?“

„Werden wir erst im Institut feststellen können.“

„Gut. Dann tun Sie das!“

„Dann trug der Scheißkerl einen Gummi?“

„Das kann uns Marti nachweisen.“

„Und er soll verdammt gründlich bei ihr sein! Und Fiala auch!“, knurrte Moretti ungehalten. Ihm ging es verdammt gegen den Strich, dass der Scheißkerl scheinbar an alles gedacht hatte.

Custer blickte fragend von einem zum anderen: „Was können die noch sehen, wenn er ein Kondom benutzt hat?“

Die Männer warfen dem Frischling einen giftigen Blick zu und blieben ihm die Antwort schuldig. Er konnte daraus entnehmen, dass sie nicht erwarteten, etwas zu finden.

„Packt sie in Cellophan ein, Hans!“, wies ihn Moretti an, „damit uns kein Staubkorn entgeht!“

Mäder nickte. Scherrer streckte ihm eine Rolle Frischhaltefolie entgegen, mit der er als erstes ihre Hände umwickelte.

Custer wurde abgelenkt, als Moretti sich umwandte und seine Befehle erteilte: „Franz, du bleibst hier und hilfst Mäder und den anderen hier am Tatort mit der Leiche! Ich will, dass hier jeder Stein umgedreht und jeder Halm darauf untersucht wird, ob uns der Mann unfreiwillig doch was hinterlassen hat! Seht euch auch die umliegende Gegend an! Irgendwoher muss er mit ihr gekommen sein!“

„Dem Blut nach zu schließen, hat er sie hier ausgeschlachtet“, hielt Mäder fest.

Moretti nickte. „Ja. Aber dennoch müssen sie irgendwoher gekommen sein! Ich will wissen woher, ob sie beisammen waren oder sich hier getroffen haben! Ob sie sich gekannt haben, was sie gegessen haben... Ich will alles wissen, was es über sie zu wissen gibt, alles, was ihr in Erfahrung bringen könnt, verstanden?“

Scherrer und Mäder nickten.

„Wenn ihr fertig seid, bringt sie zum Pathologen!“, wies er seine Leute an. „Macht euch auf die Suche! Es darf nicht noch einen dritten Mord geben!“

Wieder wie auf Kommando nickten sie.

Moretti seufzte, als er mit verbissener Miene verkündete: „Und wir fühlen dem jungen Hesse nochmal auf den Zahn!“

Custer warf ihm einen schnellen, verwunderten Blick zu. „Sie glauben immer noch, dass er etwas damit zu tun haben könnte?“

„Wieso nicht?“

Er zuckte mit der Achsel. „Warum sollte er eine Nutte umbringen?“

„Woher wollen Sie wissen, dass sie eine Nutte war?“

Unter den Blicken der Polizeibeamten fühlte sich Custer plötzlich unwohl. Niemand hatte davon gesprochen, dass sie eine Prostituierte war. Doch er war wie meist nicht um eine Antwort verlegen: „Bin ich denn der einzige, der das aus ihrem Mangel an Kleidung schließt?“, stellte er keck eine Gegenfrage, und fuhr erklärend fort: „Bei uns tragen nur die Nutten so wenig Stoff mit Lack und Leder, jedenfalls hauptsächlich. Sagen Sie mir, wenn ich falsch liege.“

Moretti fiel mit einem tiefen Seufzer in sich zusammen. „Nein, wahrscheinlich haben Sie recht, ich habe sie auch für eine Nutte gehalten.“

Sutter pflichtete ihnen nickend bei. Er sah, wie der Ami erleichtert aufatmete.

„Sie halten mich für einen schlechten Ermittler, nicht wahr?“, fragte er, während sie zum Streifenwagen hinübergingen.

Moretti warf ihm einen genervten Blick zu und knurrte ihn an: „Das habe ich nicht gesagt!“

„Aber für einen Gefühlsdussel“, korrigierte Sutter witzelnd, während er die Wagentüre aufriss.

Custer öffnete den Mund, um zu fragen, was das war...

...als Moretti nickte und sich aus dem Stand in der offenen Türe nach ihm umdrehte. „Was mich wieder auf die Frage zurückbringt, was Sie für einen Narren an Hesse gefressen haben?“

Morgan zuckte fast entschuldigend die Achseln, dann stieg er hinten neben Moretti ein, bevor er sich zu erklären versuchte: „Eigentlich keinen. Wir haben ja schon darüber gesprochen, und ich habe es Ihnen zu erklären versucht. Ich mag ihn einfach. Trotz des Reichtums seiner Familie scheint er ein armer Tropf zu sein. Und er sagte, er sei von seinem Vater nie ernst genommen worden.“

„Mit Bedauern kommen wir nicht weiter!“

„Wenn wir den Falschen verdächtigen auch nicht!“, konterte er fast hitzig.

Moretti seufzte. „Eins zu null für Sie. Trotzdem fahren wir jetzt da hin. Ich will wissen, wo er gestern Abend zwischen elf und drei Uhr morgens war!“

„Ich finde auch, Hesse und die zwei Morde – irgendwie passt beides nicht zusammen“, sinnierte Sutter, während er den Wagen aus dem Rosengarten gegen die Schosshalde hinüberlenkte. Er tendierte eher wie Custer auf eine gänzlich außenstehende Person.

„Wieso denn?“, nahm Custer den Faden neugierig auf.

„Nach meiner Befragung der Familienmitglieder, die Fragen über den neuen Clanchef mit einbezogen haben, hält ihn keiner für fähig genug, die Macht durch einen so grotesken Mord an sich zu reißen. Fast alle haben ausgesagt, dass der junge Hesse viel lieber im Hintergrund agiert und es tunlichst zu vermeiden versucht, in irgend einer Weise aufzufallen. Das Letzte, was er gewollt haben soll, seien die Geschicke der Familie und die Führung der Firma zu übernehmen!“

„Wir werden sehen!“, knurrte Moretti wenig überzeugt.

Custer ärgerte sich über ihn, wie verbohrt er in seiner Überzeugung war. Er seufzte tief, aber er enthielt sich für einmal eines Kommentars. Moretti würde es schon sehen, und die observierenden Beamten konnten es bezeugen, dass Frank August Hesse den ganzen Abend über zu Hause gewesen war!

Der Kommissar versank in dumpfes Brüten, und die beiden Männer zogen es vor, ihn nicht noch mal anzusprechen.