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Zu Herrn von Hesse!“, sagte Sutter zum jungen Portier, der das Tor bewachte. Er zeigte ihm seine Marke.

Der livrierte Mann beugte sich hinunter, um einen Blick in den Wagen zu werfen, ehe er nickte und die Schranke öffnete. „Bleiben Sie auf dem Weg bis zum Haupteingang. Ich werde Sie anmelden“, erklärte er.

„Danke, wir kennen den Weg“, nickte Sutter grüßend. Sein Fuß betätigte das Gaspedal. Er fuhr die Einfahrt hoch bis vors Haupthaus und brachte den Dienstwagen direkt vor dem Portal zum Stehen.

Der livrierte Butler trat ihnen bereits aus dem Eingang entgegen, als sie ausstiegen und die Wagentüren zuwarfen. „Herr von Hesse befindet sich gerade in einer Sitzung!“, erklärte Johann fast schroff.

Moretti nickte. Der Mann gehörte scheinbar schon fast zum Inventar! „Dann sagen Sie ihm, dass wir auf ihn warten. Es wird ihn sicher interessieren, was wir ihm zu sagen haben!“

Johann schüttelte seinen eisgrauen, kurzgeschorenen Schädel. „Er kann jetzt unmöglich gestört werden!“, beharrte er und versuchte sie abzuwimmeln.

„Das werden Sie wohl müssen, James!“, erklärte Sutter ebenso schroff. Unaufgefordert pflügte er als erster an ihm vorbei in die Eingangshalle hinein.

Hastig folgte ihm der Butler hinterher, um ihn zu stoppen, doch drinnen war es dafür schon zu spät. „Mein Name ist Johann, nicht James!“, reklamierte er.

Moretti pflanzte sich demonstrativ mit seiner größtmöglichen Größe neben ihm auf: „Also gut, hören Sie...!“

Als sich die Türe nach einem kurzen Klopfen ohne Aufforderung öffnete, wandte sich Frank August von Hesse mit einem energischen Ruck genervt nach seinem Butler um: „Ich sagte doch...!“, schnauzte er ihn unbeherrscht an.

Johann nickte unbehaglich und schluckte heftig. Er fühlte sich elend, weil er gegen diesen klaren Befehl verstieß und seinen Arbeitgeber trotzdem in der Sitzung störte. Mit eiligen Schritten trat er hinter Hesses Stuhl und beugte sich zu ihm hinunter, um ihm ins Ohr zu flüstern: „Die Herren von der Polizei für Sie, Herr von Hesse“, erklärte er seinen Ungehorsam.

Hesse runzelte missmutig die Stirn. „Was wollen die denn noch?“, fragte er verärgert.

Der Butler zuckte hilflos die Achseln. „Sie lassen sich nicht abwimmeln. Es tut mir leid, Herr von Hesse.“

Dieser stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. Er wusste, dass er nicht darum herum kommen würde, also brachte er es am Besten gleich hinter sich. Er erhob sich und blickte seufzend auf seine Gesprächspartner nieder, während er den Knopf seines Jacketts schloss. „Wenn Sie mich bitte einen Moment entschuldigen wollen. Ich hoffe, es wird nicht allzu lange dauern. Johann wird Ihnen in der Zwischenzeit eine kleine Aufmerksamkeit des Hauses servieren.“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, wandte er sich um und schob sich an seinem Butler vorbei. Mit raschen Schritten eilte er hinüber in die hohe Eingangshalle.

„Sie schon wieder?“, fragte er aus Nervosität etwas ungehalten, als er mit düsterer Miene auf sie zukam.

Moretti ließ sich von seinem auffahrenden Gehabe nicht einschüchtern. Nickend trat er ihm mit ausgestreckter Hand entgegen. „Tut mir leid, dass wir Sie schon wieder belästigen müssen.“

„Das hoffe ich! Ich habe es mit diesen Geschäftspartnern ohnehin nicht leicht! - Was gibt es, dass Sie mich so dringend stören müssen?“

„Wir haben Ihnen eine traurige Mitteilung zu überbringen...“

„Ja, und ich einen Einbruch zu melden! Der Dieb hat sich an unserer Familienkiste zu schaffen gemacht!“, erklärte von Hesse mit vorgerecktem Kinn auffahrend.

„Hmm“, sann Moretti nachdenklich nach. „Was für ein merkwürdiger Zufall.“ Aber war es das? Was hatte das eine mit dem anderen zu tun, wenn überhaupt? „Haben Sie die Polizei schon verständigt?“

„Ja natürlich, die war heute morgen schon hier!“

„Sonderbar“, wiederholte er.

Frank August nickte, er wirkte aufs Heftigste gekränkt: „Ja, wirklich! Das hat es in unserer Geschichte noch nie gegeben! Es ist einfach ungeheuerlich!“

„Tut mir leid für Sie“, murmelte Moretti unwohl, ehe er sich auf das gestrige Gespräch und die Beteuerung über die Sicherheitsvorkehrungen des Hausherrn besann: „Wie kam er denn an den Hunden vorbei?“

Hesse warf ihm einen langen, vernichtenden Blick zu.

„Sind sie tot? Hat er sie getötet?“ Irgendwie war es naheliegend, dass er an einen Mann dachte.

Hesse schüttelte halb verzweifelt den Kopf. Die ganze Angelegenheit machte sich nicht gut! „Ich kann es mir nicht erklären! Heute morgen, als ich sie sah, waren sie wie betrunken!“

„Er hat sie betäubt?“, fragte Moretti stirnrunzelnd.

„Ja, irgendwie. Dabei reagieren sie nur auf meine Familie! Und sie würden nie von einem Fremden etwas zu Fressen annehmen!“

„Hmm.“ Das war in der Tat mehr als merkwürdig. „Was ist mit der Alarmanlage?“

Nach dem ersten ratlosen Anheben fielen seine Schultern und Hände vor Hilflosigkeit wie kraftlos herab. „Wenn ich das wüsste! Dann wäre mir um Vieles wohler!“

„Jemand von der Familie?“, erkundigte sich Sutter dienstlich.

Betrübt schüttelte Hesse den Kopf. „Niemanden, den ich verdächtigen würde! Ich kann es mir beim besten Willen nicht erklären!“

Neugierig trat Custer, der sich bisher diskret im Hintergrund gehalten hatte, einen Schritt näher. „Und wieviel hat er gestohlen?“

Dass von Hesse daraufhin mit den Schultern zuckte, irritierte ihn. „Ein paar hunderttausend Franken.“

„Ziemlich viel!“, konstatierte Moretti.

Hesse zuckte erneut die Achseln und nickte. Für seine Verhältnisse zum Reichtum der Familie war es nicht so viel und der Schaden gering. Der Schaden am Vertrauen jedoch zerrüttet!

„Was hat er sonst noch gestohlen?“

„Soweit ich feststellen konnte, fehlt sonst im ganzen Haus nichts. Er war nur drüben in der Gruft, als ob er davon gewusst hätte!“ Er warf Moretti einen langen, verdrossenen Blick zu. „Wenn Sie nicht von der Polizei wären, hätte ich Sie in Verdacht!“

„Danke für die Blumen!“ Moretti räusperte sich vor Verlegenheit lautstark und wurde rot. Das war ihm in seiner gesamten Laufbahn noch nie unterstellt worden! „Sie setzen nicht gerade sehr großes Vertrauen in mich!“

„Tut mir leid.“ Von Hesse gab sich etwas zerknirscht. Wie ehrlich es war, konnte Moretti nicht erkennen. „Es ist wirklich ein bissen viel auf einmal.“

Er nickte gnädig und besänftigt. „Schon gut, kann ich verstehen.“

Hesse nickte und kam auf den Grund ihres Besuches, weswegen sie ihn gestört hatten, zurück: „Was kann ich also für Sie tun?“

„Wo waren Sie gestern zwischen 23 und drei Uhr nachts?“

„Wie bitte?“ Die unerwartete Gegenfrage irritierte ihn.

Moretti brachte den Hausherrn, der eine Antwort erwartet hatte, mit seiner Gegenfrage sichtlich aus dem Konzept. „Beantworten Sie bitte einfach nur meine Frage.“

„Ich war hier, zusammen mit meiner Familie. Um etwa elf Uhr hat uns Johann noch einen Schlummertrunk serviert, bevor wir gegen Mitternacht zu Bett gegangen sind. Weswegen ist das wichtig? Das hat sicher nichts mit der Ermordung meines Vaters zu tun, dass Sie mich fragen, wo ich war! Was ist passiert?“

Wie Moretti feststellte, hatte er eine überraschend schnelle Auffassungsgabe. Er begegnete offen seinem Blick. „Der Killer hat wieder zugeschlagen! Es hat ein weiteres Todesopfer gegeben!“

Schockiert machte von Hesse einen Schritt rückwärts, ehe er festhielt: „Und Sie verdächtigen mich, es gewesen zu sein?“ Seine Stimme klang leicht schneidend, er fühlte sich hörbar brüskiert über die ungerechtfertigte Anschuldigung.

Dadurch, dass er ihn durchschaut hatte, war Moretti durch die Situation nun doch etwas mulmig zumute. In seinem Eifer, den Killer zu schnappen, war er wohl doch etwas zu weit gegangen.

„Der Kommissar musste Sie das fragen, Herr von Hesse. Wir tun nur unsere Pflicht“, kam ihm Custer mit einer schnellen Antwort zu Hilfe.

Sutter und Moretti nickten beipflichtend und, wie es schien, ziemlich erleichtert. „Wir haben soeben eine Frau gefunden.“

„Eine Dirne!“, warf Custer erklärend ein.

Als wenn das nötig gewesen wäre! Moretti seufzte frustriert. So detailliert hatte er keine Erklärung abgeben wollen. „Karl, zeigen Sie ihm bitte das Foto. Sie wurde auf dieselbe Weise umgebracht und aufgeschlitzt wie Ihr Vater.“

„Oh mein Gott!“ Der große Mann wurde blass bis unter die Haarwurzeln, als Sutter sein Handy zückte und ihm das Portrait der Frau unter die Nase hielt. „Was für ein Tier!“

„Ein Serienmörder vielleicht“, stellte Custer wieder einmal seine Behauptung in den Raum.

„Jemand, den Sie kennen? Haben Sie sie vielleicht schon mal gesehen oder sich mit ihr getroffen?“, erkundigte sich Moretti dienstlich.

Auf Hesses Miene wurde erkennbar, dass er sich über seine Hintergedanken ärgerte. Während er kaum zu sprechen in der Lage war, schüttelte er den Kopf und presste ein belegtes: „Nein! Nein, natürlich nicht!“, hervor. „Weder gesehen, noch getroffen! Ich kenne sie nicht! Es ist furchtbar! Wie kann ein Mensch einem anderen so etwas antun! Und das in unserer Stadt!“

Wäre es in Zürich oder Genf gewesen, wo alles viel größer und Amerika mit seinen schlechten Seiten viel näher war, hätte er es allenfalls verstehen können. Aber dass das Verbrechen, dieses schlimme, scheußliche Verbrechen auch noch so wahnsinnig nahe stattfand, das raubte ihm vor Sprachlosigkeit und Angst beinahe den Verstand. Zuerst hatte es seinen Vater getroffen! Und auch wenn er die unbekannte Schöne nicht kannte, so stellte sich ihm dennoch die Frage: Wer von uns ist der Nächste? Was hatte es... hatte es überhaupt etwas mit seiner Familie zu tun? Und wenn ja, weshalb? Oder war doch alles nur ein furchtbar schrecklicher Zufall?

Auf seine Bemerkung hin nickte Moretti zustimmend. Auch ihm wäre das sichtlich lieber gewesen. Nach einem tiefen Seufzer zuckte er schließlich die Achsel, als hätte er sich zu einem Entschluss durchgerungen. „Jedenfalls wollten wir es Ihnen mitgeteilt haben, Herr von Hesse. Ich denke, es ist wichtig für Sie, dies zu wissen.“

Dieser sog tief die Luft ein. „Dann nehme ich an, sind Sie mit Ihren Ermittlungen noch nicht weiter gekommen!“, hieb er mit seiner Feststellung in eine äußerst empfindliche Kerbe.

Die Polizeibeamten schüttelten fast synchron die Köpfe. „Leider nein, wir bewegen uns noch immer am Anfang. Wir hoffen, dass uns die tote Frau etwas mehr Aufschluss geben kann.“

Custer warf Moretti überrascht einen fragenden Blick zu. „Wirklich?“

Dieser nickte. „Wenn wir Glück haben, hat er uns diesmal mit ein paar Anhaltspunkten seine Visitenkarte hinterlassen!“

Hesse wäre froh gewesen, endlich zu seinen Besuchern zurückkehren zu können. Ungeduldig trat er von einem Fuß auf den anderen und warf einen ungemütlichen Blick über die Schulter in Richtung seines Sitzungszimmers. Zumindest für den Moment hielt er das Thema für erledigt, entsprechend ungnädig knurrte er seine Beleidigung heraus: „Na dann, viel Glück! Brauchen Sie mich noch, Kommissar, oder kann ich...?“ Nachdrücklich drehte er sich bereits um, um ihnen die Dringlichkeit vor Augen zu führen.

Moretti nickte abwesend, er war in Gedanken schon ganz woanders. „Ach ja, natürlich. Nein, vorläufig wäre das alles, danke.“

„Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mich benachrichtigt haben.“

„Aber selbstverständlich.“

Hesse streckte ihm die Hand entgegen, um sich zu verabschieden, konnte es dann aber doch nicht unterlassen, nachzuhaken: „Wissen Sie schon, wer sie war?“

Tief bekümmert seufzte Moretti auf. „Nein, noch nicht, leider! Meine Männer arbeiten noch daran. Ich werde Sie wissen lassen, wenn sich was Neues ergibt. Bis dahin...“

Frank August nickte angespannt. „Fassen Sie den Scheißkerl, Kommissar! So schnell wie nur irgend möglich!“

Moretti nickte und Sutter bestätigte an seiner Stelle hastig: „Wir tun alles, was in unserer Macht steht!“

„Das hoffe ich!“ Hesse konnte es nicht unterlassen, ihnen doch auch noch einen provozierenden Wink zu verpassen, nachdem sie ihn schon des Mordes verdächtigt hatten. Über die Schulter hinweg nickte er ihnen mit einer knappen Kopfbewegung nur noch ungnädig zu, nachdem er sich schon umgedreht hatte, derweil er mit fast lautlosem Schritt über die Fliesen der Tür zueilte, die in unbekannte andere Räume hinüberführte, und verschwand in seinem Sitzungszimmer.

Hinter dem Hausherrn klappte die Türe mit einem energischen Geräusch zu.

„Meine Herren!“ Die Hand provokativ gegen den Eingang gestreckt, deutete ihnen Butler Johann mit unbeweglicher Miene an, dass der Besuch nun vorbei war. Danach marschierte er an ihnen vorbei und öffnete demonstrativ die Haustüre, um ihnen ohne Worte klarzumachen, dass sie nicht mehr erwünscht waren. Sichtlich enttäuscht über ihre Erfolglosigkeit, setzten sich die Polizeibeamten in Bewegung und verließen im Gänsemarsch das Herrschaftshaus.