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Als er oben im Büro anlangte, gaben seine Beamten vor, sich intensiv mit etwas zu beschäftigen. Jeder kritzelte an irgendwelchen Dokumenten herum oder las in einem Dokument, das extrem wichtig zu sein schien. Moretti seufzte tief bedrückt auf. Nachdenklich fuhr er mit den Fingerbeeren über die kunststoffbedeckte Patte des Empfangstresens, während er laut genug murmelte, dass ihn alle verstehen konnten: „Ich frage mich, warum oder von wem unsere Schöne erschossen wurde!“

Wie auf Kommando hoben alle die Köpfe.

„Du denkst, dass es nicht unbedingt der Schlächter gewesen sein muss?“, erkundigte sich Scherrer hellhörig.

Moretti nickte. „Vielleicht doch ein zweiter Täter, den wir noch nicht kennen“, stellte er diese These erneut in den Raum. „Vielleicht jemand, der ihr Leiden beenden wollte.“

Sutter wiegte bedächtig seinen Kopf. „Ja, warum nicht, das wäre durchaus denkbar.“

„Aber wieso denn? Das Einschussloch liegt mitten zwischen den Augen, dazu braucht es keinen zweiten Täter!“, reklamierte Custer zu ihrem Missfallen einmal mehr. Nachdem ihm sein Bürokollege Wilhelm Krämer geraten hatte, sich in alte Fälle einzulesen, um sich besser in die hiesige Polizeiarbeit einarbeiten zu können, bog er, mit einem Stoss Akten auf den Armen, die er sich aus dem Archiv geborgt hatte, gerade aus dem Korridor um die Ecke.

Die Männer fragten sich inzwischen schon, wie der Kerl es schaffte, immer dann aufzutauchen, wenn es etwas zu reklamieren gab!

„Vielleicht ist er doch nur ein Trittbrettfahrer!“, zog ihn Scherrer bösartig auf.

Custer fuhr auf, als hätte man ihn selbst beleidigt: „Oh nein! Mr. Marti sagte doch...! Vielleicht zeigt uns der Täter eine neue Facette! Er will uns beweisen, dass er ein Meisterschütze ist!“

„Oder feige, da er vermutlich aus dem Hinterhalt abgedrückt hat!“, grunzte Moretti verärgert.

„Das denke ich gar nicht!“, wehrte sich Morgan vehement. „Er könnte ihr genauso gut direkt gegenüber gestanden und beim Abdrücken in die Augen geblickt haben!“

Seine Rechthaberei ging Moretti auf die Nerven. Er hasste und verachtete diesen Mistkerl, der Menschen so brutal verstümmelte und dann wie Schlachtvieh ausbluten und verenden ließ! „Wie dem auch sei – auf jeden Fall ein eiskalter Killer!“, konstatierte er kochend vor Wut.

„Mit dem ist sicher nicht gut Kirschen essen!“, warnte Fritz Morand mit einem ernsten, dann verächtlichen Seitenblick auf Custer, der auf diesen gemünzt war. „Also seid auf der Hut!“

Dieser fand die Diskussion zunehmend interessant. „Ein richtiger Künstler!“, hielt er das Gespräch fast erheitert am Laufen.

Die Kollegen warfen ihm pikierte Blicke zu. „Bewundern Sie ihn etwa?“, stieß Morand entsetzt aus.

„Sie nehmen den Mistkerl schon wieder in Schutz!“, konstatierte Moretti böse.

Unter seinen Sommersprossen wurde Custer um eine Nuance blasser. Den Anschein hatte er nicht erwecken wollen. Mit heftigem Kopfschütteln korrigierte er: „Selbstverständlich nicht! Aber ich finde es faszinierend.“

Sutter runzelte mit offenem Mund ungläubig die Stirn. „Faszinierend? Was denn?“, schnauzte er, weil er glaubte, sich verhört zu haben.

Custer zuckte leicht mit den Achseln. „Na, den Fall. Als ich hierher kam, konnte ich nicht damit rechnen, mit etwas so Speziellem konfrontiert zu werden.“

„Speziell ist gut!“, knurrte Scherrer mit verkniffener Miene.

In hilflosem Nichtbegreifen, dass die Kollegen anderer Meinung waren, hob er die Hände. „Aber sehen Sie doch mal die Regelmäßigkeit seiner Einstiche und anderen Verletzungen! Alle gegenseitig am genau gleichen Ort!“

Sutter nickte: „Bis auf diese hier!“ Mit dem Finger tippte er sich an die Stelle des Einschusslochs an seine Stirn. Custer konnte es auch so verstehen, dass er ihn für dumm verkaufte.

Doch er nickte. „Wenn es nicht so pietätlos wäre, würde ich mit jedem von euch wetten, dass ich recht und ihr unrecht habt! Wer außer dem Schlächter von Bern könnte so töten und auf die haargenau gleiche Art vorgehen?“

Darauf gab es keine wirklich passende Antwort. Die Kollegen warfen sich lange Blicke zu und blieben ihm die Antwort schuldig.

Moretti stieß sich vom Tresen ab, um zu seinem Büro zurückzukehren. „Ihr habt es gehört! Gebt euch Mühe, das herauszufinden!“, ordnete er entnervt an, bevor er den Gang hinunter watschelte.