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Gefasst und ruhig, die goldenen Knöpfe an seiner Jacke zugeknöpft und gerichtet, trat er der Meute der Medienschaffenden würdevoll entgegen. Sofort war er von ihnen umringt, die Mikrofone wurden ihm fast in die Nasenlöcher gebohrt, und ein Journalist, der direkt neben ihm stand, fragte ihn mit triefenden Augen und nasaler Stimme: „Wie ich hörte, hat es einen neuen Mord gegeben. Was macht den Schlächter von Bern so speziell, dass Sie ihn noch nicht fassen konnten? Ist er zu gut für Sie, Kommissar?“

Morettis Kopf schnellte in die Höhe, er warf ihm einen giftigen Blick zu. „Der Mistkerl ist in keiner Weise gut oder speziell!“, fauchte er schlagartig genervt zurück. „Er ist lediglich ein psychopathischer Massenmörder, der aus einem niedrigen Instinkt heraus seine Opfer sadistisch zu Tode quält! Ein Fall für die Klapse, wenn wir ihn fangen!“

„Falls Sie ihn fangen“, wiederholte der Reporter seinen Schlusssatz mit veränderter Betonung treffend.

Moretti bedachte ihn mit einem empörten Blick, den er mit einem heftigen Nicken untermalte, und während er ihm die Worte entgegenschleuderte, steigerten sich hörbar seine Emotionen: „Glauben Sie mir, junger Mann, wir werden ihn fassen! Diese Typen sind berechenbar! Wir werden ein Haar in dieser grausigen Suppe finden, und ich werde ihn daran an die Wand nageln!“

„Dann gehen Sie davon aus, den Fall bald abschließen zu können?“, fragte der Mann.

Moretti wunderte sich, dass die anderen ihn so lange allein reden ließen und seufzte innerlich. Er hätte ihm gerne zugestimmt, aber so einfach war es leider nicht. Und er wollte keine leeren Versprechungen abgeben, die ihm später nachteilig hätten ausgelegt werden können, deshalb war es besser, bei der Wahrheit zu bleiben! Er begann mir regloser Miene ruhig zu antworten: „Ich wünschte, ich könnte dazu ja sagen, aber wir müssen zuerst unsere Untersuchungen abwarten. Das wird eine Weile dauern. Aber was ich Ihnen jetzt schon sagen kann...“ Seine vorgetäuschte Ruhe war bald dahin; mit jedem Wort redete er sich mehr in Wut, bis er sich schlussendlich ganz vergaß und mit verkniffenem Blick ausstieß: „Der gemeine Mörder soll sich vorsehen! Ich hefte mich an seine Fersen, und wenn ich mich erst einmal festgebissen habe, dann bin ich wie ein Pitbull, der an deinem Arsch hängt!“, wandte er sich mit vorgerecktem Kinn direkt an den Schlächter von Bern. Seine Stimme wurde bei der Drohung immer lauter und schwoll zu einem gefährlichen Knurren an. Wenn der Mistkerl die Sendung sah, was er mit ziemlicher Sicherheit tat, weil er ein in sich selbst verliebter Scheißkerl war, dann wusste er, dass er gemeint war.

„Meinen Arsch? Warum meinen Arsch?“, unterbrach der Reporter Morettis abschweifende Gedankengänge.

Ungehalten schüttelte er den Kopf über den Idioten, der noch nicht einmal gemerkt hatte, dass er nicht mehr mit ihm sprach! „Natürlich nicht Ihren! Der Mistkerl, den ich meine, weiß, dass ich von ihm rede! Ich möchte ihm dazu nur noch Folgendes sagen: Verlassen Sie auf der Stelle meine Stadt und retten Sie Ihren Arsch, solange Sie es noch können, Mann, denn sonst wird es zu spät sein!“

Ha! Unbeweglich, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, verharrte der hagere Mann mit der Schulter an die kalte Betonwand gelehnt, während er die Übertragung am Bildschirm schräg vor sich mitverfolgte. Hämisch lachte er in sich hinein, seine Mundwinkel zogen sich verächtlich nach unten, derweil sich in seinen Gedanken unaussprechliche Gedanken bildeten, die er Moretti gerne an den Kopf geworfen hätte, und es ärgerte ihn und machte ihn traurig, dass er das nicht tun durfte. Seine Blicke waren wie giftige Pfeile, die er via Bildschirm auf den Kommissar abfeuerte, während er ihm in Gedanken zuschrie: Was du dir einbildest, Moretti! Dieser Versuch mich zu ärgern ist ja so was von lächerlich! Du hast es noch immer nicht begriffen! Ich bin viel zu schlau für dich! Wenn er gekonnt hätte, hätte er ihm den Stinkfinger gezeigt und ihn öffentlich für seine Blödheit ausgelacht! Aber natürlich konnte er auch das nicht tun, ohne seine Deckung auffliegen zu lassen! Und das war das Bedauernswerteste daran, dass kein Mensch wusste, wer er wirklich war, und ihm für seinen gloriosen Coup persönlich Bewunderung zollen konnte!

Custer eilte Moretti aus dem Empfangsbüro entgegen, als dieser nach seinem Statement, das er zwischen Sutter und den anderen am Bildschirm im Büro mitverfolgt hatte, zu ihnen zurückkehrte. „Glauben Sie, er wird aus Ihrem Revier verschwinden?“, erkundigte er sich mit fragendem Blick angespannt.

Moretti zuckte mit den Achseln und seufzte abgrundtief, bevor er den Kopf schüttelte und seine Wut wieder hochkommen ließ: „Das hoffe ich, aber ehrlich gesagt, nein. Aber ich bin von Staates wegen beauftragt, meine Schäfchen zu beschützen, das ist mein Job! Und bei Gott, das mache ich!“, stieß er überzeugend hervor, während er sich an ihm vorbeischob.

„Wo gehen Sie hin, Chief?“

„In mein Büro! Und ich möchte nicht gestört werden!“, knurrte dieser ohne sich umzusehen über seine massigen Schultern zurück.

Dort rangelte er sich in seinem Sessel zurecht und versuchte sich zu entspannen. Es nützte niemandem etwas, wenn er sich den Fall und die Morde derart zu Herzen nahm, dass er darob krank wurde! Er fragte sich verzweifelt, ob er vielleicht doch einen Fehler gemacht hatte. Wenn Wolfgangs These stimmte, würde es nur seinetwegen ein neues Todesopfer geben! Und doch hoffte er durch einen unkontrollierten Auftritt neue Erkenntnisse zu gewinnen! Andererseits mussten sie auch ohne seine Intervention irgendwann zu einem späteren Zeitpunkt mit einem weiteren Toten rechnen! Aber hatte er das Recht, dies herauszufordern? Er war dazu da, um Verbrechen aufzuklären und die Bevölkerung zu schützen, nicht um sie in Gefahr zu bringen! Aber es gab nur die Variante Handeln oder Warten. Es war ein zweischneidiges Schwert, und das einzige, was er mit Bestimmtheit sagen konnte war, dass ihm beides nicht gefiel!

Er nahm seine Tasse aus dem Regal und schenkte sich heißes Wasser aus der mitgebrachten Thermosflasche ein. Mit leerem Blick starrte er aus dem Fenster hinaus auf die verwitterten Sandsteinfassaden der Altstadthäuser, beobachtete das Spiel der Baumblätter im Wind und folgte dem Fluss des Wassers, das die Aare hinab rauschte, während er gedankenverloren seinen Teebeutel im heißen Wasser schwenkte.

Er erwartete nicht, an diesem Tag noch mehr und vor allem etwas Positives zu hören. Das Statement mit seiner Behauptung und das Foto des zweiten Opfers waren jetzt sicher raus und er musste jeden Moment darauf gefasst sein, dass das nächste Telefon die Mitteilung sein konnte, dass ein weiteres Opfer des Schlächters gefunden worden war!

Als die Gegensprechanlage klingelte, hatte er kaum mehr als ein paar Tropfen seines Tees zu sich genommen. Durch die Abkühlung verzog sich auch der beruhigende Duft der Kräuter. Verschreckt zuckte er zusammen. Heftig atmend, musste er sich zuerst zusammenreißen, ehe er in der Lage war, das Gespräch entgegenzunehmen, obwohl er sah, dass es aus dem eigenen Haus stammte. Er drückte auf den leuchtenden Knopf der Gegensprechanlage, um die Verbindung herzustellen. „Marti, was gibt’s? Was haben Sie?“, erkundigte er sich mit vor Unruhe kratzender Stimme.

„Kommen Sie runter, dann sag’ ich’s Ihnen“, antwortete der Chefpathologe anstelle auf die Fragen zu antworten und machte ihm damit klar, dass er nichts weiter sagen würde.