In Windeseile trabte Moretti aus dem Büro hinüber zum Lift und konnte es kaum erwarten, bis er mit ihm in die unteren Gefilde hinabgleiten konnte.
„Ich bin da, Marti, was gibt’s?“, rief er aufgeregt, kaum war er schweratmend durch die Türe.
Der schmächtige Pathologe warf ihm einen grinsenden Blick zu. „Erinnern Sie sich, was ich Ihnen über unsere Schöne gesagt habe?“, begann er das Gespräch an einem Punkt, den Moretti nicht erwartet hatte.
Aus dem Konzept geworfen, runzelte er ungeduldig die Stirn und versuchte sich zu besinnen. „Ich weiß grad nicht, was Sie meinen.“
Marti nickte. Moretti sah sehr mitgenommen aus. „Ich habe von Ihrem Statement gehört. Wir sprachen über meine Annahme, dass sie schon tot gewesen sein könnte, bevor er sie ausweidete“, half er ihm auf die Sprünge.
Plötzlich war Moretti aufgeregt und ganz Ohr. Es war frappant, den Wandel in seinem Gesicht mitzuverfolgen.
„Das kann ich Ihnen definitiv bestätigen. Die Wundränder sind zu blutleer und kaum verkrustet. Die Kapillaren beginnen sich zu verengen, wenn jemand tot ist und das Herz nicht mehr schlägt, das heißt, dass auch kein frisches Blut mehr zu den Wunden, an die Hautoberfläche und die Extremitäten gebracht wurde. Wenn die Totenstarre bereits eingesetzt hat, zieht sich das Blut aus den äußeren Kapillargefässen in den Körper zurück, das heißt, eine Wunde blutet nicht im gleichen Masse wie bei einem lebenden Menschen, weil das Blut damit begonnen hat, zu gerinnen! Meiner Meinung nach war sie sicher mindestens schon eine halbe Stunde lang tot, bevor er sie aufgeschlitzt hat.“
„Hm. Interessant.“ Innerlich jedoch stieß er verbunden mit einen erleichterten Gott sei Dank!, einen tiefen Seufzer aus. Danach runzelte er nachdenklich die Stirn, weil er es sich selbst nicht erklären konnte: „Warum mag er das getan haben?“
Der Pathologe zuckte mit den Achseln. „Ich bin kein Hellseher. Vielleicht hat sie ihm etwas bedeutet.“
„Oder auch nicht.“
Marti nickte. „Oder auch nicht.“
„Aber es ist seltsam, dass er schwächer statt stärker reagiert.“
Marti seufzte. „Ich muss zugeben, das verwirrt mich auch. Noch habe ich keine Erklärung dafür.“
„Schade“, murmelte Moretti bedauernd. „Und sonst? Haben Sie endlich irgendwelche Hinweise auf den Täter?“
Diesmal lächelte der hagere Mann vielsagend, bevor er nickte. „Der Kerl muss entweder ein ziemlicher Riese gewesen sein, oder das Opfer stand nicht gerade vor ihm. Sicher mindestens eins achtzig groß. Ich habe die DNA für ein Gentech-Verfahren ins Institut für Rechtsmedizin geschickt. Dort können sie aufgrund von Tests Alter, Haarfarbe und manchmal sogar die Herkunft bestimmen.“
„Das klingt gut. Wie lange wird es dauern?“
Marti zuckte ahnungslos die Achseln. „Ein paar Stunden oder Tage... Ist mein erstes Mal, ich weiß es nicht.“
„Okay. Und weiter?“, erkundigte sich Moretti ungeduldig. „Haben Sie sonst noch was für mich?“
Marti nickte. „Abweichungen gibt es wieder bei der Frau: die Winkel der Einstichstellen deuten darauf hin, dass entweder die Waffe anders geführt wurde oder, das ist meine Meinung, dass ihr die Wunden im Liegen zugefügt wurden.“
„Also nachdem er sie mit einer Kugel getötet hat?“
„Genau.“
Als Morettis Miene sich aufhellte, war es wie bei einem Sonnenaufgang: er schien sogleich um zwei Zentimeter zu wachsen, sein rundliches Gesicht wurde durch das erfreute Lächeln noch pausbäckiger, während er mit Inbrunst ausstieß: „Marti, Sie sind ein Genie! Danke.“
Dieser nickte ihm mit einem zufriedenen Grinsen zu. Es war zwar sein Job, darin gut zu sein, doch Morettis Lob freute ihn trotzdem.
Dieser klopfte ihm dankbar auf die Schulter. Seine Erleichterung darüber, dass sie endlich etwas vorweisen konnten, wenn auch nicht gerade viel, ließ ihn beinahe übermütig werden. „Dann bin ich mal auf die Arbeit Ihrer Kollegen gespannt“, meinte er überschwänglich.
Marti konnte ihm da nur beipflichten.