Er brauchte die Zeitung nicht mal aufzuschlagen, sie lag mit der Titelseite auf der Tischplatte seiner kleinen, italienischen Bar. Madeleine Zahnds Bild befand sich verkleinert bereits auf der Frontseite. Der Schlächter hat wieder zugeschlagen!, stand in dicken Lettern darunter. Sein Schritt stockte, ein zufriedenes Grinsen huschte über seine strengen Züge. Fast hastig griff er nach dem Boulevardblatt und trug es hinüber ins Halbdunkel der Bar, wo die farbigen Fensterscheiben ihr diffuses Licht verbreiteten und ihn das Hängegestell mit den Schnapsflaschen beim Lesen besser gegen die zwar wenigen, aber doch potentiell gefährlichen Besucher schützte, die ihn allenfalls beim Lesen und seine Emotionen hätten beobachten können. Er war froh, hatte die kleine italienische Bar noch nicht viele Gäste, und die wenigen waren damit beschäftigt, sich trotz der frühen Abendstunde bereits das Nachtessen hinter die Kiemen zu schieben oder sprachen beim Aperitif eifrig den beigelegten Knabbereien zu.
Er fühlte, wie ihm das Herz heftig klopfte. Mit neugierig verzerrter Miene beugte er sich über das Fettgedruckte: Schon wieder ein Opfer des Schlächters von Bern! Heute Morgen fand die Kriminalpolizei Bern unter der Leitung von Kommissar Paolo Moretti die Leiche dieser jungen Frau im Rosengarten. Die Polizei bittet um Ihre Mithilfe. Sie sucht nach Zeugen und Personen, die die Frau kennen. Hinweise über sie sind erbeten auf...
Seine dünnen Lippen zogen sich zu einem breiten Lächeln auseinander. Das war genau die Publicity, die er sich gewünscht hatte, eine schonungslose Darstellung dessen, was er getan hatte. In fliegender Eile übersprang er die restlichen Nachrichten, blätterte hastig von einer Seite zur anderen, um zu jener zu gelangen, wo Moretti über ihn sprechen und sein Opfer in Großformat nochmals dargestellt sein würde. Es war sexy gewesen, Madeleine in den Armen zu halten und den Geruch ihrer Haut zu riechen. Sie zu töten hatte ihn bis zur Schmerzhaftigkeit angetörnt und zur Erektion gebracht. Als er sie aus dem Wagen gezogen und zu der Stelle getragen hatte, an der es passiert war, hatte er es einfach tun müssen!
Höhnisch lachte er in sich hinein. Er hatte sie gevögelt, sie hatten es gemerkt, aber sie konnten kein einziges Indiz auf ihn finden! Wieder einmal war er schlauer gewesen als sie! Halb in Verzückung strich er die Seiten glatt und beugte sich mit kindischem Kichern über die ausgebreitete Zeitung.
Aber mit einem Schlag zuckte er zurück. Seine Augen überflogen den abartigen Text nochmals. Wortwörtlich ließ Moretti darin verlauten: „Die junge Frau hatte Glück, dass sie einem Nachahmungstäter zum Opfer gefallen ist. Sie wurde erschossen und sexuell missbraucht, was beim ersten Opfer nicht der Fall war. Schon von daher gehen wir von einem anderen Täter aus. Und zu dem Kerl, den Sie den Schlächter nennen, sage ich Ihnen folgendes: Der Schlächter ist nichts weiter als ein billiges Abbild Dutzender, ja Hunderten von ausgestrahlten Fernsehkrimiserien missbrauchter Killerfiguren! Was er gebracht hat, ist nichts Neues! Wenn wir ein x-beliebiges Buch aufschlagen, werden Sie diese Art der Abschlachtung sicher irgendwo beschrieben finden. Seine Art von Morden ist geschmacklos und zeugt von absolut schlechter Fantasie!“
Er warf den Kopf in den Nacken zurück und lachte stumm in sich hinein, aber er war wütend bis ins Mark. Sie hatten nichts davon geschrieben, wie er sie verstümmelt und ihr das Herz herausgeschnitten hatte! Sie glaubten nicht, dass er es getan hatte! Zumindest versuchten sie dies der Bevölkerung weiszumachen! Moretti machte ihn schlecht, obwohl er wusste, dass er Madeleine auch aus diesem Grund getötet hatte, wenngleich sein Hauptgrund ein ehrbarer gewesen war! Er würgte an seiner Wut. Mit geschlossenen Augen verharrte er einen Augenblick und versuchte sich zu beruhigen. Als er den Kopf wieder gerade richtete, sah er ein klares Bild vor sich: Sie versuchten ihn zu ködern! Sie versuchten ihn so wütend zu machen, dass er ausrastete und einen weiteren Mord beging! Moretti hatte es auf einen weiteren Toten angelegt, um ihm näher zu kommen!
Seine Hand schloss sich über dem Zeitungspapier und ballte sich zur Faust, seine Kiefer knirschten hörbar, weil er die Zähne mit solcher Kraft zusammenpresste. Am liebsten hätte er wie ein waidwundes Tier vor Wut und gleichzeitiger Heiterkeit laut aufgeheult. Aber er beherrschte sich, wie er sich sonst schon immer beherrschen musste, während es in seinem Innern schrie: Moretti, was glaubst du denn? Ich bin doch kein Idiot! Du wirst sehen, ich bin dir immer noch einen Schritt voraus!, dachte er. Sein Mund verzog sich zu einem zynischen Grinsen, seine Wut konnte er damit allerdings nicht übertölpeln. Es ist pure Taktik, nicht mehr und nicht weniger!, redete er sich ein. Moretti, du willst gar keinen neuen Mord! Du willst nur mich! Du wartest darauf, dass ich dir ein weiteres Indiz auf mich liefere! Aber die Weigerung zu glauben, er sei es gewesen und die Aussage, er hätte eine schlechte Fantasie und sei ein billiges Abbild einer x-beliebigen Killerfigur steckte wie ein Pfeil in seinem angekratzten Selbstwertgefühl. Aber dein Plan wird dir nicht aufgehen, Alter! Ich werde nicht in deine Falle tappen! Ich bin einfach zu schlau für euch!
Mit wütender Schadenfreude schmetterte er die Zeitung zu, als könnte diese etwas dafür, was Moretti über ihn hatte schreiben lassen, und stand so heftig auf, dass der Stuhl hinter ihm wackelte. „Ihr seid allesamt Idioten!“, fauchte er gedämpft, während er die Zeitung zwischen seinen Fingern und dem Tischblatt zerknüllte. Es ärgerte ihn, dass er sich ärgerte. Moretti hatte recht damit gehabt, dass er ausflippen würde, wenn sie ihm seinen Titel streitig machten! Aber noch konnte er sich beherrschen. Er wollte nicht schon wieder jemanden töten! Andererseits... Er leckte sich über die blutleeren, schmalen Lippen, ...begann ihm die totale Machtausübung über einen anderen Menschen langsam zu gefallen...
Aber noch bin ich nicht bekannt, ich stehe in keiner Kartei! Das ist doch gut für mich!, redete er sich selbst ein.
Aber es war schlecht für sein Selbstwertgefühl! Kein Mensch wird darauf kommen, dass ich der Schlächter von Bern war! Er sann dem Titel nach, den sie ihm in der Presse verliehen hatten. Eigentlich hatte der Name einen guten Klang. Und jedermann fürchtete sich vor ihm! Es stärkte sein Selbstbewusstsein, endlich jemand Bedeutender zu sein, selbst wenn es eine so negative Schlagzeile wie diese war. Der Titel machte ihn stolz! Und er frohlockte darüber, dass die Polizei seine wahre Identität niemals herausfinden würde! Er war einfach zu schlau für sie! Er dachte an alles! Er hatte Moretti zwar einen unfreiwilligen Hinweis auf sich geschenkt, der diesen frohlocken ließ, aber er verdächtigte nach wie vor den Falschen! Das war einerseits gut, weil sie nicht nach ihm suchten, aber andererseits ärgerte es ihn und das war wiederum schlecht, weil kein anderer, sondern nur er der Schlächter von Bern war! Trotz seiner Zerrissenheit lächelte er still und hämisch in sich hinein. Wenn es das perfekte Verbrechen gab, dann hatte er den Weg dazu gefunden!