Der junge Mann sah ihr Bild im Vorbeieilen zur Busstation im Zeitungsständer, wo die Abendnachrichten für Kunden warben. Das Portrait der Frau prangte daneben auch auf einem A-4-Plakat, das sachte im Abendwind flatterte. Er war hergehastet, weil er wie üblich eh schon knapp in der Zeit war, um den Bus noch zu erreichen. Doch jetzt stockte ihm vor dem Zeitungsstand aus vollem Lauf erschrocken der Fuß, er blieb brüsk und fast wie angewurzelt vor dem Konterfei stehen und wusste, dass er jetzt nicht einfach so nach Hause fahren konnte. Er starrte auf das Bild, über dem in großen fettgedruckten Lettern der Titel stand: Zeuge gesucht! Wer kennt diese Frau?
Sie sah nicht mehr so toll aus wie am Vorabend, aber die Visagistin hatte sich alle Mühe gegeben, sie etwas herzurichten. Trotzdem erkannte er sie sofort und fühlte sich verpflichtet, der Aufforderung der Polizei Folge zu leisten. Jens Wyss ließ den Bus fahren und besah sich stattdessen die Verbindung an den Waisenhausplatz zum Präsidium. Kurzerhand zückte er sein Handy und wählte die angegebene Nummer.
„Kriminalpolizei Bern, Jordi am Apparat“, meldete sich der junge Rotschopf mit seiner femininen Stimme.
Hinter ihm machten sich Sutter und Scherrer nach der Wachablösung als Letzte der Tagschicht auf den Nachhauseweg. Sie nahmen ihre Uniformen von den Sessellehnen und wandten sich gegen die Tür.
„Jens Wyss hier“, sagte er.
„Guten Abend.“
„Hallo.“ Danach wusste er nicht mehr, wie er beginnen sollte.
Zum Glück nahm ihm der Beamte dies mit seiner Frage ab: „Wie kann ich Ihnen helfen?“
Fast heftig schüttelte der junge Mann den Kopf, dass seine dunkle naturgelockte Afrolook-Mähne flog. „Nein, umgekehrt!“, stieß er aus. „Ich möchte Ihnen helfen! Ich habe die Frau auf dem Foto gesehen!“
Jordi wurde sofort hellhörig und stellte auf Lautsprecher um, damit die Kollegen mithören konnten. „Welches Foto?“, hakte er nach.
Sutter und Scherrer blieben beide fast gleichzeitig wie erstarrt stehen. Sie waren schon halb an der Türe, drehten sich jetzt aber hastig wieder um. Fast unnötigerweise streckte Jordi den Arm aus und winkte sie mit den Fingern zurück. Mit vor Aufregung angehaltenem Atem traten sie erwartungsvoll näher.
Die Stimme des jungen Mannes klang leicht ungeduldig, fast schon ungehalten, weil der Beamte nicht sofort kapierte, wen er meinte: „Na, das von dieser Frau in der Zeitung! Ich habe sie gestern Abend mit einem Kerl gesehen!“
Den zuhörenden Kriminalisten fiel vor Staunen und Erleichterung die Kinnlade herab. Endlich jemand, der ihnen weiterhelfen konnte! Die beiden Ermittler konnten vor unterdrückter Anspannung kaum atmen.
„Können Sie auf den Posten kommen und ihn uns beschreiben?“, erkundigte sich Jordi aufgeregt.
Wyss nickte. Der Beamte hatte nicht gefragt, wie viel er von dem Typ gesehen hatte. „Ja, natürlich. Aber ich sollte nach Hause.“
„Frag ihn, wo er steht, ich hole ihn!“, anerbot sich Sutter schnell, damit er es sich nicht anders überlegen konnte. Sie brauchten diesen Zeugen unbedingt! Er fühlte sich plötzlich aufgeregt, das Adrenalin schoss feurig durch seine Adern. Vielleicht hatte der Mann den Schlächter gesehen! Es war keine Diskussion für ihn, dass er sich anerbot, schließlich wollten sie den Killer so bald wie möglich in die Finger kriegen!