Der Kommissar warf Custer einen düsteren Blick zu. Sie befanden sich unten in der Pathologie, um sich die neuesten Informationen des Chefpathologen anzuhören. Der Ami ging ihm auch heute schon wieder mit seiner ewigen Besserwisserei auf die Nerven, denn natürlich waren sie bereits am Morgen früh aneinandergeprallt! Aber vielleicht war es schon allein sein Anblick, der ihn aus dem Ruder laufen ließ, dachte Moretti, um sich zu beruhigen, weil er sich daran erinnerte, dass ihm Sam Mosley ihn quasi wie ein Kuckucksei untergejubelt hatte, dabei war er doch mit seiner Mannschaft vollauf zufrieden gewesen! Nun war er ein Störfaktor, der nicht gerade zum guten Klima beitrug. Entsprechend versuchte er ihn durch einen Außer-Haus-Job möglichst lange loszuwerden, als er ihm den Auftrag erteilte: „Custer, fahren Sie mit Mäder nochmals zurück an unseren ersten Tatort! Suchen Sie mit Infrarotlicht nach Blutspuren. Irgendwie muss der Kerl mit seiner Leiche ins Münster reingekommen sein! Irgendwo muss doch eine Spur zu finden sein! Außer, der Kerl wäre reingeflogen!“
„Ist gut, Chief.“ Merklich unzufrieden zog Custer von dannen. Er wäre lieber bei Moretti geblieben, wo er alle Neuigkeiten aus erster Hand erfahren und so gesehen alles unter Kontrolle gehabt hätte. Ob Moretti in der Zwischenzeit an Informationen gelangen konnte, die er ihm vorenthalten würde? Wohl oder übel konnte er sich über die Anweisung nicht hinwegsetzen, ohne seinen neuen Job zu gefährden. Mit mürrischer Miene fuhr er mit dem Lift in den oberen Stock hinauf, um Mäder aus dem Büro zu holen.
Aufatmend wandte sich Moretti wieder seinem Pathologen zu. „Was haben Sie für mich, Marti? Hat sich wenigstens bei Ihnen was Neues ergeben?“, fragte er angespannt.
Dieser schüttelte den Kopf. Unter den buschigen Brauen hervor, blickten ihn seine braunen Augen bedauernd an, derweil er erklärte: „Sie wurde zwar vergewaltigt, wie Sie richtig erkannt haben, aber der Kerl war vorsichtig und trug ein Kondom. Außerdem Lederhandschuhe.“
„Dann gibt es nirgends Fingerabdrücke?“ Moretti seufzte schon zum Vorneherein vor Enttäuschung.
Bedauernd schüttelte Marti den Kopf. „So, wie’s aussieht, leider nein.“
„Scheißkerl! Wenigstens ein klitzekleines Schamhaar?“
„Nein. Ich vermute, der Kerl war rasiert und nackt wie ein Baby.“
„Himmeldonnerwetter nochmal!“, fluchte Moretti unflätig. Sein gedrungener Körper zog sich zusammen wie unter einem Hieb. „Wie ist es möglich, dass uns der Schlächter außer seiner Sauerei keinen einzigen Hinweis auf sich hinterlässt?“
Marti zuckte die Achseln. „Er versucht das perfekte Verbrechen.“
„Es gibt nur ungelöste Fälle!“, korrigierte Moretti mit barschem Widerspruch scharf.
Marti nickte. „Irgendwann wird er einen Fehler machen, Chef“, versuchte er ihn zu beruhigen.
Doch dieser war weit davon entfernt. Angesichts der Unfähigkeit der Polizei, die Bevölkerung zu schützen, und der Angst, dass jederzeit ein neues Opfer gefunden werden konnte, steigerte sich sein Stresspotential ins Unermessliche. Es gab nichts, das ihn hätte beruhigen oder freundlich stimmen können. „Ja, sicher, aber wann? Und wie viele Menschen wird er bis dahin noch abschlachten?“, stöhnte er.
„Bringen Sie mir mehr, und ich werde ihn festnageln!“
„Was zum Beispiel?“
„Ein Haar vielleicht. Ein Haar würde schon genügen.“
„Sofern er in der Datenbank steht!“, knurrte Moretti.
Marti nickte. Das war das Problem. Zum Haar, das sie an der Brosche gefunden hatten, brauchten sie ein Gegenstück, und sei es auch nur, um zu beweisen, dass es derselbe Täter gewesen war. Ein Unbekannter, der zum ersten Mal auftrat, blieb solange nicht greifbar, bis man ihn mit etwas Persönlichem identifizieren und damit überführen konnte. „Fragen Sie mal bei Wolfgang nach, vielleicht hat er besseren Bescheid für Sie“, schlug er ihm ratlos vor.
Moretti nickte und zottelte niedergeschlagen und ohne Hoffnung davon. Zwei brutal abgemurkste Tote und keine einzige, verdammte Spur! Dafür den Staatsanwalt und die Medien im Nacken! Er verfluchte den Umstand, dass ihm das ausgerechnet zwei Jahre vor der Pensionierung passieren musste. Er winkte dem Pathologen zutiefst enttäuscht kurz zu, dann machte er sich auf den Weg ins Labor.