Im Münster war es düster, das Oberlicht durch die farbigen Scheiben diffus. Im Innern gab es lange Schatten und dunkle Ecken. Forsch trat Mäder ein und durchschritt den langen Raum durch die Mitte der Basilika. Custer folgte ihm etwas langsamer über das Seitenschiff. Er ging dem Gang entlang mehrere Meter hinter ihm.
Mäder entnahm seiner Tasche eine lange dünne Stablampe. Als er sie einschaltete, leuchtete das Licht neonblau. Tief gegen den Boden gebeugt, bewegte er die Lampe mit ausschweifenden Armbewegungen über den Klinkerboden und die beiden Stufen hinauf zum Altar, dann hinüber zur Türe, die hinunter in die Krypta führte.
Custer warf dem Forensiker einen düsteren Blick zu, während er sich in seinem Rücken befand. Mit seiner Blaulicht-Handstablampe leuchtete er jeden Zentimeter des Bodens ab. Die Strähnen seines silbergrauen Haars, die ihm vor der Stirn hingen, wirkten fast weiß.
Custers Herz begann heftig zu klopfen. Er spürte, wie das Adrenalin durch seine Adern schoss und ihn nervös machte. Er blieb ihm Seitenschiff stehen, um zu beobachten. Ob Mäder damit etwas finden und den Weg würde nachweisen können?
Im Dunkeln der Kirche löste sich eine dunkle Gestalt aus den Schatten der Alkoven. Sie war groß und schlank, an den Händen trug sie Handschuhe. Die langgliedrigen Finger streckten sich und ballten sich zur Faust. Vom Bord eines altersschwarzen Holzmöbels ergriff sie einen langstieligen, fein ziselierten Kerzenleuchter. Die weichen Ledermokassins verursachten auf dem Klinkerboden keinen Lärm, als sie sich hinter den massigen Säulen, die die Spitzbögen zwischen Mittel- und Seitenschiff trugen, hervorschob, und damit einen Schritt auf Mäder zumachte.
Das Knirschen eines Kiesels unter der Sohle ließ den Beamten herumfahren. Er sah echt erschrocken und schockiert aus, als er sich mit wachsbleichem Gesicht umdrehte und gleichzeitig aus seiner gebeugten Stellung hochfuhr.
Custer stand keine zwei Meter hinter ihm und ließ die Hand mit dem Leuchter langsam sinken.
„Ach, Sie sind’s!“, stieß Mäder zutiefst erleichtert aus. Mit einem Seufzer entwich die angehaltene Luft aus seinen Lungen.
Der Amerikaner starrte ihn aus den blankpolierten Kieseln seiner blau-schwarzen Augen einschüchternd an. „Haben Sie sich diese Feinarbeit schon mal angesehen?“, fragte er so beiläufig, als würde er übers Wetter sprechen.
Mäder schluckte. Und er ärgerte sich. Hatte der Kerl denn nicht gemerkt, dass er sich seinetwegen vor Angst beinah in die Hose gepisst hätte? Sein Herz pochte noch immer heftig und schmerzhaft gegen die Rippen, sein Brustkorb fühlte sich viel zu eng an und er hatte den Eindruck, als bestünde sein hochroter Kopf aus einem Dampfkessel. Einen schrecklichen Augenblick lang hatte er sich echt verfolgt und bedroht gefühlt! Mit einem Kloß im Hals schüttelte er mechanisch den Kopf. „Nein, noch nie. Bin kein großer Kirchengänger“, brachte er krächzend und fast tonlos heraus.
Custer lächelte ihm spöttisch zu. „Ich auch nicht. Aber ansehen kann man ja mal. Schon was gefunden, Kollege?“, erkundigte er sich dienstlich und überging den Vorfall, als hätte er seinen Fehler gar nicht bemerkt.
Mäder schüttelte frustriert seufzend den Kopf. „Nein. Fehlanzeige. Weiß der Himmel, wie der Kerl hier reinkam. Ich dachte, ich würde auf dem Weg zur Krypta was finden.“
„Wie kann man Blut mit dieser blauen Lampe sehen?“
Mäder fragte sich, wieso Custer dies als abgehender Polizist nicht wusste, verfolgte den Gedanken jedoch nicht weiter. Stattdessen beantwortete er ohne Argwohn die Frage: „Weil das Eisen im Blut blau leuchtet. Aber nicht der kleinste Spritzer!“, seufzte er betrübt. „Moretti wird aus der Haut fahren, wenn wir es ihm berichten.“
Custer zuckte gleichgültig die Achsel und versuchte sein Grinsen hinter einem Seufzer zu verbergen: „Ja, es wird ihm nicht gefallen. Schon wieder eine Sackgasse. Was wollen Sie ihm sagen? Wie könnte der Schlächter reingekommen sein?“
„Woher soll ich das wissen?“, fauchte Mäder leicht unkontrolliert zurück, der seinen Schreck noch immer nicht verdaut hatte. „Wenn er den Mann hier auf der Treppe zerstückelt hätte, wäre alles viel einfacher! Aber wie kommt man mit einer bluttriefenden Leiche in einen Raum...“ Er machte unvermittelt eine Pause, als ihm das entscheidende Puzzleteil dazu einfiel: die Leiche musste umwickelt gewesen sein, um die Schweinerei zu verhindern! „...in den man nicht hineinkommen kann?“, vollendete er mit einem Stirnrunzeln nachdenklich den Satz.
Custer sah ihn mit durchdringendem Blick aufmerksam an. „Woran dachten Sie eben?“
Angewidert schüttelte Mäder den Kopf, als müsste er sich die Bilder aus dem Sinn schlagen. „Ich habe ihn mir nur gerade vorzustellen versucht“, sagte er und brach ab, ohne seine Vorstellung weiter zu erläutern. Stattdessen knurrte er: „Aber ich kann es nicht! Ich kann es mir einfach nicht vorstellen!“, wiederholte er, als wollte er sicher gehen, dass er Custer mit seiner Antwort überzeugte.
Dieser nickte leicht. „Suchen wir weiter?“, fragte er.
Der gestandene Forensiker schüttelte schaudernd den Kopf. Lieber nicht, dachte er. Wenn du das nochmal machst...! „Es hat keinen Sinn. Gehen wir zurück.“
Die minimale Andeutung eines spöttischen Grinsens umspielte Custers Mundwinkel.
Demnach hatte dieser den Vorfall doch realisiert und machte sich aus seiner Angst ein Vergnügen daraus! Mäder kochte vor Wut.
„Kein neuer Versuch?“
Er schüttelte beinahe heftig seinen silbernen Schopf. „Reine Zeitverschwendung!“, erklärte er bestimmt. „Fahren wir zurück ins Präsidium.“
„Moretti wird toben, wenn wir ihm keine gute Nachricht bringen können!“
„Was können wir dafür?“, fauchte Mäder mit unwillig gefurchter Stirn ungehalten zurück.
Custer zuckte lediglich die Achseln und stellte den schweren Kerzenständer an seinen Platz zurück. Ihm war es recht, wenn es wieder zurück ging.