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Moretti tobte wirklich, als die beiden unverrichteter Dinge vom Münster zurückkehrten. Custer ließ die Standpauke über sich ergehen, ohne eine Miene dabei zu verziehen, während Mäder den Kopf zwischen den Schulterblättern einzog und sich wie ein geprügelter Hund vorkam.

Nachdem Moretti sie undankbar entlassen hatte und Custer hinüber in Birchers Büro verschwunden war, klopfte der Forensiker aber wieder an Morettis Tür.

Dieser sah von seinem Bericht auf und warf ihm einen wütenden Blick zu. „Was ist denn noch?“, schnarrte er ihn erbost an.

Mäder stieß einen geplagten Seufzer aus. „Entschuldigung, Chef. Ich wollte nur sagen, ich fahre dann auf dem Heimweg nochmal am Münster vorbei und bringe es zu Ende“, erklärte er.

Moretti setzte sich irritiert aufrecht hin. Seine Miene war ein einziges Fragezeichen und er vergaß ganz, warum er den armen Mann so heruntergekanzelt hatte. „Wieso?“, fragte er nach kurzem Nachdenken, bei dem ihm keine Lösung einfiel.

„Wenn Custer nicht mit dabei ist“, erklärte Mäder nach einem raschen Blick über die Schulter halblaut, als befürchte er, dieser könnte ihn hören oder jeden Augenblick wieder den Korridor entlang kommen, was in der Tat nicht allzu abwegig war.

„Wieso?“, wiederholte Moretti verständnislos die Frage.

Mäder stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus, ehe er ihm ehrlich antwortete und seinen Schrecken offen eingestand: „Der Kerl hat mich zu Tode erschreckt! Als ich mich umdrehte, hielt er einen Kerzenständer in der Hand. Einen Moment lang dachte ich wirklich, er würde damit auf mich einschlagen!“

Moretti wunderte sich einmal mehr. „Warum hätte er das tun sollen?“, fragte er mit zusammengezogenen Augenbrauen. Er konnte sich aus der Geschichte keinen Reim machen.

„Was weiß ich!“, stieß Mäder mit ratlos zuckenden Achseln heftig aus. „Es war eine total verängstigende Situation! Ich habe an den Schlächter gedacht und dass er plötzlich hier sein könnte, und dann stand Custer da mit diesem Ding in der Hand, und er hatte den Arm erhoben, als wollte er mir damit eins über den Schädel ziehen!“

„Mein Gott, Hans! Sie sind doch ein gestandener Polizeibeamter!“, rügte Moretti verständnislos.

Hans Mäder nickte. „Mein Gott, ja! Aber wir beide gehören schon zum alten Eisen! Und ein Kerl wie der Schlächter dürfte ein junger, kräftiger Kerl sein! Was auch immer Sie mir vorwerfen, Chef, auch auf die Gefahr hin, dass Sie recht haben, aber mit dem Kerl möchte ich nie wieder allein im selben Raum sein!“, stieß er mit entschiedenem Kopfschütteln abwehrend hervor. „Ich mach’s nach Feierabend, wenn’s sein muss, allein, damit ich mich nicht wieder überraschen lassen muss!“

Oder diesmal vom richtigen Schlächter!, dachte Moretti beim Gedanken daran erschaudernd, der die Situation nun selbst bildlich vor Augen sah und sich vorstellen konnte, wie es für den Kollegen ausgesehen haben musste. „Nehmen Sie Grossenbacher mit. Der bärtige Baumstamm soll Ihnen bei der Arbeit den Rücken freihalten. Und auf alles schießen, wenn sich etwas Ungewöhnliches bewegt!“, verfügte er.

Er sah, wie Mäder sichtlich erleichtert aufatmete. „Danke, Chef.“

„Wir wollen ja nichts dem Zufall überlassen!“ Er nickte großmütig und deutete damit an, dass er Mäders Weigerungsgrund verstanden hatte. Und noch viel weniger einen meiner Beamten riskieren!, dachte er insgeheim, sprach es aber wohlweislich nicht laut aus. Mäder brauchte nicht zu wissen, dass er plötzlich selbst Angst vor dieser Möglichkeit bekam, dass der Schlächter sie auf diese Weise an der Aufdeckung seiner Person zu hindern versuchen könnte. „Sagen Sie Grossenbacher Bescheid. Wenn nichts dazwischen kommt, könnt ihr um vier Uhr gehen. Eine Stunde sollte genügen, um es euch nochmals anzusehen. Und dann erstatten Sie mir telefonischen Bericht, wenn ihr fertig seid.“

„Alles klar. Danke, Chef.“

Moretti sah, wie ihm vor Entspannung die Schultern herabfielen.

Der alte Forensiker nickte erleichtert und blieb erst mal mit einem kleinen, fast linkischen Lächeln stehen, als wüsste er nicht, dass er sich jetzt entfernen dürfte.

Mit einer kleinen Geste scheuchte er ihn hinaus.