„Wo haben Sie denn Ihren amerikanischen Schosshund gelassen?“, feixte von Hesse zynisch, als die Polizei einmal mehr bei ihm anklopfte. Er empfing Franz Sutter in der hohen Eingangshalle, um ihm zu zeigen, dass seine erneute Störung mehr als unerwünscht war.
Sutter ging jedoch nicht auf die Provokation ein. „Der hat anderweitig zu tun!“, knurrte er unleidlich zurück, ehe er ruhiger erklärte: „Tut mir leid, dass er Sie gestern belästigt hat.“
Hesse schüttelte seufzend den Kopf. „Nein, schon gut, es war kein Problem. Wenn sich die Verwandtschaft mit meinem Vater dadurch bestätigt hat...“
Sutter nickte. „Ja, tut mir leid. Ich hätte Ihnen gern einen besseren Bescheid gebracht.“
„Das weiß ich zu schätzen, Herr Sutter, aber ich war mir sicher, dass er es war, es hat sich lediglich bestätigt. – Wissen Sie schon was über die junge Frau, die getötet wurde?“
Sutter schüttelte entschuldigend den Kopf. „Darüber kann ich nichts sagen. Aber wie Custer heute morgen schon angedeutet hat, sie stammte aus dem Rotlichtmilieu.“
Von Hesse zog die buschigen Augenbrauen zusammen. „Seltsam.“
„Das finden wir auch“, bestätigte Sutter. „Leider wissen wir noch nicht, in welchem Zusammenhang die beiden Morde zueinander stehen oder ob der Schlächter einfach nach Zufall und Gelegenheit mordet.“
„Dann wollen wir hoffen, dass Sie das möglichst bald herausfinden, bevor noch mehr unschuldige Menschen dran glauben müssen!“, meinte von Hesse spitz.
Sutter nickte vehement. „Sie können versichert sein, dass uns persönlich ebenfalls alles daran gelegen ist!“, knurrte er angegriffen zurück.
Frank August nickte, er hatte keine Lust, sich mit dem Beamten zu streiten, deshalb fuhr er freundlicher und das Thema erneut wechselnd fort: „Haben Sie schon was Neues über den Mörder rausgefunden?“
Sutter wich seinem starrenden Blick ungemütlich aus, ehe er mit der Katze im Sack rausrückte: „Ja und nein. Eigentlich suchen wir immer noch. Aber wir haben ein blondes Haar gefunden - von einem Mann!“
Hesse zog erfreut eine Augenbraue in die Höhe. „Immerhin etwas, nicht wahr?“
Sutter nickte und wurde rot vor Verlegenheit. „Das könnte man meinen, aber dem ist leider nicht so. Es gibt keine Übereinstimmung mit jemandem aus unserer Verbrecherkartei.“
„Das heißt?“ Erneut zog Hesse unwillig die Augenbrauen zusammen, bis sich wieder eine steile Falte über seiner Nasenwurzel bildete.
Sutter zuckte beschämt mit den Achseln: „Wir tappen nach wie vor im Dunkeln“, gab er ehrlich zu. „Alles was wir vermuten ist, dass er etwa eins achtzig groß, schlank und blond ist. Mein Chef hat mich deshalb angewiesen, Ihre Verwandtschaft um eine DNA-Probe zu bitten.“
Von Hesse runzelte missmutig die Stirn. „Sie verdächtigen also nach wie vor jemanden aus unserer Familie? Das ist absurd! Warum weiten Sie Ihre Suche nicht auf andere Leute aus und lassen uns endlich in Ruhe trauern?“
Entschuldigend stieß Sutter einen geplagten Seufzer aus: „Weil es eine Übereinstimmung mit Ihnen und Ihrem Herrn Vater gibt!“
Hesse wurde blass, der Unterkiefer sackte ihm herab. „Das ist unmöglich!“, keuchte er mit heftig abwehrendem Kopfschütteln betroffen.
Sutter stieß selbst einen tiefen Seufzer aus, derweil er beteuernd nickte. „Das hat sich leider aus der Forensik ergeben. Ich tue also nur meine Pflicht. Würden Sie bitte Ihre Verwandtschaft darüber informieren, dass sie sich zu meiner Verfügung hier einfinden soll!“
„Das ist absurd!“, murmelte Hesse kopfschüttelnd, dem es nicht in den Sinn gehen wollte, dass so etwas möglich und es jemand aus seiner Familie gewesen sein sollte. Er konnte es nicht fassen und zermarterte sich das Hirn im Versuch, sich vorzustellen, wer es sein könnte. Einen Augenblick später nickte er abwesend. Er war sich bewusst, dass er sich gegen das Ansinnen der Polizei nicht sträuben konnte - und es eigentlich auch nicht wollte! Die Anschuldigung musste bewiesen und der Killer endlich gefunden werden, egal wie viel Schaden dies dem Ruf seiner Familie zufügen würde! „Natürlich, Herr Sutter. Bitte, gedulden Sie sich. Es ist noch ein bisschen früh, und es könnte eine Weile dauern, ehe wir soweit sind. Johann wird Ihnen in der Zwischenzeit einen Kaffee servieren. Was kann er Ihnen bringen?“
„Gerne einen Espresso, bitte, heiß und schwarz.“
Hesse nickte. Er deutete auf die Sitzgruppe unter dem Ring der Treppen und wandte sich ab.
Sutter nahm Platz. Er machte es sich bequem und richtete sich auf eine längere Wartezeit ein. Allem Anschein nach war noch nicht die ganze Familie aufgestanden.
Während er seinen Kaffee schlürfte und dabei mehrmals ungeduldig auf die Uhr schaute, blätterte er zum Zeitvertreib in einer Freizeitrevue, danach in einem Buch, in dem ein Lesezeichen eingeklemmt war. Nach einer Weile kehrte der Hausherr mit der hoffnungsfrohen Mitteilung zurück: „Sie werden bald kommen, Herr Sutter.“
Dieser nickte. Er erwartete, dass sich von Hesse wieder entfernen würde, aber stattdessen blieb er abwartend mit vor dem Bauch verschränkten Händen ein paar Meter abseits zwischen Treppe und abgehender Tür mit hüftbreit gespreizten Beinen stehen. Er sah aus, als versuchte er sich im Boden zu verankern, um die mörderische Welle, die gleich über ihn hereinbrechen würde, unbeschadet zu überstehen.
„Sie schon wieder, Herr Sutter? Guten Morgen“, grüßte Christina von Lanthen mit einer kleinen Spitze höflich. Sie war die erste, die sich bei ihm einfand. „Was beschert uns die Ehre?“
Entschuldigend schüttelte Sutter den Kopf, ehe er beteuerte: „Leider keine Ehre, Frau von Lanthen. Guten Morgen.“
„Herr Sutter ist hier, weil die Polizei jemanden von uns für den Schlächter hält!“, knurrte Frank August im Hintergrund bitter.
Sie warf ihrem Bruder einen betroffenen Blick zu. „Nicht schon wieder Frank, oder?“, stieß sie mit gerunzelter Stirn beinahe ängstlich aus.
Sutter schüttelte beruhigend den Kopf. „Diesmal nicht. Wir wissen, dass er es nicht sein kann. Aber jemand anderer aus Ihrer Familie!“
Christinas Augen, die sie auf ihn richtete, wurden groß; sie schüttelte entschieden den Kopf, dass ihre Locken flogen. „Das ist unmöglich!“
Sutter bedachte sie mit einem bedauernden Lächeln, um danach seine Behauptung zu untermauern: „Doch, tut mir leid.“
„Sie haben ein blondes Haar gefunden“, erklärte Hesse säuerlich. Was eigentlich zur Aufklärung des Falles hätte dienen sollen, war für sie nun zu einem Alptraum geworden!
„Blond?“, stieß sie unerwartet entsetzt heraus. Wie zum Selbstschutz riss die kleine Frau ihre angewinkelten Arme vor die Brust und legte wie zum Beten die Hände aufeinander.
Sutter hatte den untrüglichen Eindruck, dass sie mehr wusste, als sie ausgesagt hatte. Er sah, wie sie taumelte. Unter seinem Blick wurde Christina blass wie ein Laken. Er kam gar nicht dazu, sie auszufragen, als sie schon von selbst entsetzt ausstieß: „Oh mein Gott! Ich glaube, ich habe ihn gesehen!“
Frank August fuhr wie von der Tarantel gestochen herum. „Was?“ Es klang wie ein Schrei.
Allein durch dieses einzige Wort seines lauten Ausbruchs fühlte sich Christina sofort beschuldigt. Hastig schüttelte sie abwehrend den Kopf, ehe sie erklärte: „Das war im Weinberg und vor der genannten Zeit! So gegen zwei Uhr! Und nur von hinten!“
Von Hesses Augenbrauen waren so dicht zusammengezogen, dass sie sich über der Nasenwurzel berührten und steile Falten auf seiner Stirn bildeten. Seine Miene wirkte düster, die Worte peitschten plötzlich eisig und vorwurfsvoll: „Warum hast du uns nichts davon gesagt?“
„Wir haben doch ab und zu Leute, die sich unseren Weinberg ansehen!“, rechtfertigte sie sich mit greller Stimme.
Frank versuchte sich zusammenzureißen und etwas zu mäßigen. Seine Stimme kratzte, als er ihr die drängende Frage stellte: „War er mit Vater zusammen?“
Christina von Lanthen schüttelte den Kopf. „Nein, mit Päddi. Es sah aus, als ließe er sich etwas über die Trauben und den Weinberg erklären.“
Sutter beobachtete, wie sich Frank August daraufhin sichtlich entspannte. Wenn sie nicht beisammen gewesen waren, musste er nicht zwangsläufig der Mörder gewesen sein! „Jemand aus Ihrer Familie?“, hakte er nach.
Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Nein, er war ganz sicher ein Fremder.“
„Und wie sah er aus?“
„Er kam mir groß vor...“, sagte sie, was angesichts ihrer eigenen Körpergröße, die eins sechzig wahrscheinlich nicht überschritten hatte, ein schwierig zu erfassendes Maß für sie sein konnte, doch er hörte ihr geduldig weiter zu. „...und schlank. Sein blondes Haar leuchtete an der Sonne beinah golden. Er hatte schulterlanges Haar.“
Blond, schulterlang, überlegte Sutter. Der Zeuge Wyss hatte gestern Abend ebensolches berichtet! „Was hatte er an?“
„Jeans und ein kariertes Hemd, glaube ich. Ich hielt ihn für einen dieser Wein-Touristen und habe mich danach auch nicht weiter drum gekümmert. Ich konnte doch nicht ahnen... – Oh mein Gott!“, stieß sie wieder aus, ehe sie in verzweifeltes Schluchzen ausbrach.
Rasch trat ihr Bruder zu ihr und schloss die Arme um sie. „Schon gut, Kleines“, versuchte er sie murmelnd zu beruhigen, „es gibt dir ja niemand die Schuld.“
„Das hörte sich aber eben so an!“, schnüffelte sie vorwurfsvoll.
Kari Sutter lächelte ihr aufmunternd zu. „Haben Sie vielen Dank, Frau von Lanthen, Sie haben mir sehr weitergeholfen.“ Hoffte er jedenfalls. „Die Beschreibung groß und schlank passt auch auf Madeleine Zahnds Mörder. Ich möchte aber trotzdem die DNA Ihrer Familienmitglieder, und wenn wir fertig sind, möchte ich mit diesem Päddi sprechen.“
„Sein richtiger Name ist Patrick.“
„Der hat heute seinen freien Tag“, warf sie ein.
„Ich werde versuchen, ob ich ihn erreichen kann“, anerbot sich Hesse sofort hilfsbereit.
Sutter nickte erleichtert. „Ja, bitte. Er ist der einzige, der den Mörder möglicherweise richtig zu Gesicht bekommen hat und noch lebt! Ich brauche ihn für eine Phantomzeichnung!“
„Natürlich!“ von Hesses Stimme kratzte immer noch. Er wandte sich um und läutete nach dem Butler.
„Ja bitte?“, erkundigte sich dieser mit einem angedeuteten Bückling.
„Besorgen Sie mir Päddis Telefonnummer. Wir brauchen ihn!“, drängte er.
Sutter nickte. „Auf dem schnellsten Weg bei uns im Büro!“
„Weshalb? Was hat er verbrochen?“ Die Augen des ältlichen Mannes gingen schockiert von einem zum anderen.
Frank August schüttelte ungeduldig den Kopf. „Nichts, Johann. Machen Sie schon, es ist wirklich dringend. Wissen Sie, ob er zuhause ist?“
Der Butler schüttelte seinen ergrauten Schädel. „Nein, tut mir leid.“ Dann entfernte er sich.
Sutter und von Hesse warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Frank August schluckte, er hatte Mühe, den Kloß in seinem Hals hinunterzukriegen. Sutter nickte zustimmend: „Wenn der Schlächter dieselben Gedanken wie wir hat...“
„Um Gottes Willen!“ Christina von Lanthen wurde blass und musste sich setzen.
Johann kehrte mit einem Notizzettel zu ihnen zurück. Von Hesse riss ihn ihm in der Hast aus der Hand und streckte ihn dem Polizeibeamten entgegen. „Weierguet, etwa vier Minuten von hier“, sagte er.
Sutter nickte. Er hatte denselben Kloß im Hals. „Dann nichts wie hin!“
„Bitte, beeilen Sie sich! Der arme Päddi!“, stieß Christina aus tiefstem Herzen bedauernd aus, die sich bereits die schlimmsten Szenen für den armen Mann ausmalte.
Sutter ließ seine Tasche mit den Utensilien für die DNA-Proben achtlos liegen und sprintete los. „Gibt es Polizei bei Ihnen im Dorf?“, stieß er gehetzt aus.
Die drei nickten.
„Dann rufen Sie die um Verstärkung! Wir treffen uns dort!“, rief er ihnen zu. Er achtete nicht darauf, ob sie seinen Befehl befolgten. Im Rennen kramte er in der Hosentasche nach dem Wagenschlüssel, seine Faust packte die Klinke und drückte sie hinunter, während sein Unterarm gegen die Haustüre knallte, um sie aufzustoßen.
Frank August folgte ihm auf dem Fuss. „Johann, versuchen Sie Päddi zu erreichen! Er soll niemandem aufmachen und alles abschließen! Wir kommen und holen ihn! Sagen Sie ihm, ich bin mit einer Polizeistreife zu ihm unterwegs!“, rief er dem Butler über die Schulter hinweg nach, während er hinter Sutter her aus dem Haus rannte.
Dieser riss soeben den Wagenschlag auf und sprang hinters Steuer, als von Hesse sich neben ihm auf den Beifahrersitz wuchtete. Der Motor dröhnte auf, das Kies spritzte wie kleine Geschosse unter den Rädern zur Seite, als er den Wagen zurücksetzte, wendete und dann wie ein Wahnsinniger aufs Gas trat. Die Kastanienbäume der Allee flogen an ihren Fenstern vorbei, als sie über den kalkgepflästerten Weg hinunter zum Gutseingang rasten.
Geistesgegenwärtig gab Christina dem Pförtner Bescheid, so dass sich das mannshohe, schmiedeeiserne Tor vor ihnen beim Näherkommen schon wie von Geisterhand öffnete. Praktisch ungebremst bretterte Sutter am Wachhäuschen und dem erschrockenen Josef vorbei durchs Portal. Seine Nickelbrille auf der Nase, starrte ihnen dieser mit entsetztem Gesichtsausdruck aus dem aufgeschobenen Fenster hinterher.
Über den Schlossweg gelangten sie hinunter in den Weiler; den Häuserzeilen entlang, fuhren sie mit überhöhter Geschwindigkeit durchs Dorf. Sutter musste höllisch aufpassen, dass er alle möglichen Gefahren rechtzeitig einkalkulierte und seine Aufmerksamkeit schärfte. Als sich der Einsatzwagen mit drehendem Blaulicht näherte und auf knappst bemessenem Terrain trotz entgegenkommender Fahrzeuge überholte, gerieten entsetzte Fahrradfahrer ins Schleudern; Fußgänger auf dem Zebrastreifen mussten plötzlich die Beine in die Hand nehmen, um sich auf den Gehsteig zu retten. Ausgangs Schlosswil bogen sie rechts in den Weiergutweg Richtung Luzernstrasse ab, die nach ihrem Bestimmungsort weiter nach Grosshöchstetten führte.
„Können Sie schießen?“, erkundigte sich Sutter, an Hesse gewandt, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.
Dieser nickte mit trockenem Mund, er war augenblicklich nicht in der Lage, etwas zu sagen, die Angst um seinen Angestellten schnürte ihm die Kehle zu.
Sutter deutete mit dem Kinn in die angegebene Richtung, als er sagte: „Im Handschuhfach. Nehmen Sie die Pistole! Es kann sein, dass wir uns gleich nach unserer Ankunft verteidigen müssen!“
Frank August schluckte. Er hatte noch nie auf einen Menschen geschossen. Doch er beugte sich vor, drückte den Knopf für das Fach und nahm die Waffe an sich. „Ist sie geladen?“, fragte er.
„Natürlich!“ Sutter nickte.
Die Stimmung im Wagen war angespannt. Keiner von beiden sprach mehr, mit Entsetzen malten sie sich aus, was sie unter Umständen vorfinden würden. Hesse hielt die Polizeiwaffe fast krampfhaft mit beiden Händen umfasst und versuchte sich auf den schrecklichsten Moment seines Lebens einzustellen. Er wie Sutter beteten inbrünstig darum, dass sie vor dem Schlächter bei Päddi ankommen und den Angestellten noch lebend antreffen würden. Das Herz klopfte ihnen bis zum Hals, als sie daran dachten, während Sutter das Gaspedal voll durchdrückte und eine Staubfahne hinter sich herziehend, mit hundert Sachen über die schmale Nebenstraße bretterte. Für die knapp eineinhalb Kilometer benötigte er gerademal vier Minuten, doch sie kamen ihnen wie eine Ewigkeit vor.
Weierguet war lediglich ein Weiler, bestehend aus ein paar vereinzelten Häusern. Als Hesse mit der Hand nach rechts deutete, weil es schneller ging als zu sprechen, schlug Sutter das Steuer sofort danach ein. Zehn Meter weiter brachte er den Wagen mit knirschenden Reifen aus voller Fahrt in der Einfahrt vor dem niederen Landhaus zum Stehen.
Die rechte Hand mit der Linken festhaltend, um nicht zu zittern, hielt Hesse den Revolver im Anschlag. Sutter riss seinen aus dem Pistolenhalfter. „Bleiben Sie hier!“, zischte er ihm zu, während er die Wagentüre aufstieß und sich dahinter duckte, um eine allfällig erste Kugel halbwegs abzuwehren, obwohl er wusste, dass je nach Projektil und Waffe eine Autotüre keine Kugel abhalten, höchstens deren Gewaltpotenzial verringern konnte.
Beide waren erleichtert, als erst mal nichts passierte.
Hinter ihnen kamen zwei weitere Polizeifahrzeuge mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Pistolen und Gewehre im Anschlag, sprangen acht Mann in Uniform heraus und gingen hinter ihren Wagentüren in Deckung. Doch noch immer rührte sich nichts.
Hinter dem Küchenfenster wurden die Gardinen zurückgezogen, und sie konnten ein verblüfftes, jungenhaftes Gesicht mit Wuschelkopf erkennen.
„Das ist Päddi!“, sagte von Hesse rasch.
Sutter nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte. „Sind Sie Patrick Bach?“, schrie er in der Hoffnung, dass dieser ihn hinter dem verschlossenen Fenster hören konnte.
Der junge Mann musste sich über die Spüle beugen, um zu öffnen, damit er ihn verstehen konnte, und Sutter wiederholte seine Frage: „Sind Sie Patrick Bach?“
Dieser nickte mit offenem Mund. Trotz dem erhaltenen Anruf war er über das Polizeiaufgebot und die vorgehaltenen Waffen entsetzt. Automatisch wanderten seine Hände über den Kopf hinaus, als er die Hände hochnahm, obwohl er nichts verbrochen hatte.
„Sind Sie allein und unverletzt?“, schrie Sutter. Er war erleichtert, als Bach nickte.
Hesse stieß die Wagentüre auf, um auszusteigen.
„Bleiben Sie hier, Mann!“, schrie er ihn an. „Vielleicht lügt er ja, weil der Schlächter schon hinter ihm steht!“, warnte er.
Frank August verharrte halb in der Bewegung und duckte sich. „Päddi, ich bin’s! Wenn Sie können, kommen Sie raus! Es ist alles in Ordnung, okay? Es wird alles wieder gut!“, rief er ihm beruhigend zu.
Der junge Mann nickte und verschwand hinter dem Fenster.
Der Polizeiwachtchef verständigte sich mit seinen Leuten mittels Zeichensprache, als er ihnen Anweisungen gab: „Ausschwärmen! Vielleicht steht der Kerl irgendwo hinter uns!“, befahl er, während er Sutter zurief: „Ich hole ihn! Gebt mir im Notfall Feuerschutz!“
Dieser sah, dass sie Helme und schusssichere Westen trugen und der Beamte sogar eine in der Hand hielt und nickte erleichtert. Der Polizeiwachtchef schien ein alter Fuchs zu sein und ebenso wie er einen Hinterhalt außerhalb des Gebäudes zu befürchten. Er kam sich vor wie in einem schlechten amerikanischen Krimi.
Der Beamte warf einen schnellen Blick in den Hauseingang und stellte sich dann vor Bach, als dieser mit betretener Miene aus der Türe trat. „Was macht ihr denn da?“, fragte er perplex.
Aeschimann streckte ihm über die Schulter die mitgebrachte Schutzweste entgegen. „Ziehen Sie das an und dann bleiben Sie dicht hinter mir! Hat der Schlächter Sie gehen lassen oder ist er gar nicht da?“
„Es ist niemand hier außer meiner Mutter und ich“, sagte Bach, während er in das steife Ding hineinschlüpfte. Es war unbequem, aber er fühlte sich damit doch einigermaßen sicherer. In seinem Blickfeld schwärmten die Beamten weiter auseinander, um die Umgebung nach einem Heckenschützen abzusuchen. Mit dem Daumen deutete Aeschimann aufs Haus, worauf sich zwei Polizisten aus den anderen lösten und auf sie zukamen.
„Ich bin soweit. Was jetzt?“, fragte Bach, der hinter seinem Beschützer hervorzuäugen versuchte, um das Geschehen zu überblicken.
„Wir nehmen Sie in Schutzhaft. – Jungs, checkt das Haus! Die Mutter ist noch drin!“, wies er sie darauf hin, dass sie nicht zu schnell um sich ballern sollten. Während die Polizisten mit angeschlagenen Gewehren ins Haus eindrangen, sagte er, an Bach gewandt: „Kommen Sie mit! Bleiben Sie dicht hinter mir!“
Der junge Mann ging wohl oder übel mit. Die ganze Sache war ihm zwar nicht geheuer, aber nach den Bildern der Toten und den üblen Berichten über den Schlächter war ihm im Moment alles recht.
Hesse stieg aus, als sie sich im Laufschritt näherten. Er öffnete die hintere Wagentüre, damit Patrick einsteigen konnte. „Einsteigen und hinlegen!“, wies ihn Sutter scharf an, der auf Nummer Sicher gehen wollte.
Als wäre der Leibhaftige hinter ihm her, warf sich Bach auf den Rücksitz, um sich in Sicherheit zu bringen. Aeschimann kehrte zum Haus zurück und konnte draußen noch mithören, wie seine Beamten immer wieder das Wort: „Gecheckt, gecheckt“, ausstießen. Frank August warf die Wagentüre hinter dem jungen Angestellten zu, dann beeilten sie sich, selbst ins Fahrzeug zurückzukommen. Aeschimann hob den Daumen und bedeutete ihnen mit einem zufriedenen Nicken, dass alles in Ordnung war.
Die drei Männer erlaubten sich ein erleichtertes Aufatmen. Sutter nickte ihm zu und hob den Daumen zum Zeichen des Dankes, dann setzte er den Wagen zurück, wendete und fuhr rasch davon. „Bleiben Sie unten, Bach!“, wies er diesen immer noch barsch an.
Dieser wagte kaum den Kopf zu heben vor Angst, dass ihm doch noch etwas passieren könnte. „Wohin bringen Sie mich?“, erkundigte er sich.
Von Hesse drehte sich vom Beifahrersitz halbwegs nach ihm um und lächelte ihm beruhigend zu. „Herr Sutter bringt uns nach Bern.“
„Warum nicht nach Schlosswil?“ Sutter warf Hesse einen fragenden Blick zu. „Sie kommen mit?“
Frank August lächelte. „Johann kann mich dann abholen.“
Sutter nickte begreifend. Er ersparte sich damit den Umweg und es verringerte sich die Gefahr, dass der Schlächter auf Gut Maierhofen eine neue Gelegenheit fand, um auf den Zeugen zu schießen. Erleichtert war er nun bereit, auf Bachs Frage zu antworten. Er drehte den Kopf nur um wenige Zentimeter, weil er den Blick nicht von der Straße nehmen konnte. „Weil Sie bei uns hoffentlich sicherer sind!“, erklärte er ihm vor Erleichterung noch immer schroff.
Patrick schluckte. „Das sind ja tolle Aussichten!“, murmelte er düster.
Sutter nickte. „Wir brauchen Sie für ein Phantombild. Sie sind der einzige, bisher lebende Mensch, der den Schlächter gesehen hat.“
Patricks Mund öffnete sich, ein kalter Schauder rieselte über seinen Rücken.
„Frau von Lanthen sagte, Sie hätten den Kerl zu Ihrem Chef in den Weinberg gebracht.“
„Sie meinen, den Mörder?“, keuchte er entsetzt.
Die beiden Männer vor ihm nickten fast gleichzeitig. „Was wir befürchten, ja.“
„O mein Gott!“
„Deshalb mussten wir Sie so wildwestmäßig rausholen. Tut mir leid, wenn wir Sie in Angst und Schrecken versetzt haben.“ Sutter sprach, ohne sich nach ihm umzudrehen, weil er sich auf die nun stärker befahrene Straße konzentrieren musste. Der Einfachheit halber fuhr er über die Luzernstraße nach Worb und von dort auf die Schnellstraße Richtung Bern.