Mit Erleichterung wurden sie von der versammelten Belegschaft auf dem Präsidium bereits erwartet. Sutters telefonische Nachricht, dass sie den Zeugen sicher herausgeholt hatten und jetzt herbringen würden, verursachte im Haus einen fast euphorischen Zustand. Der Mann hatte von Hesses Besucher, von dem sie ausgingen, dass er der Schlächter war, von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden! Die Hoffnungen auf eine diesmal gelingende Phantomzeichnung war entsprechend riesig.
Sutter hielt seinen Begleitern die Eingangstüre auf, ehe er sie mit den Wartenden in der Empfangshalle miteinander bekannt machte: „Kriminalkommissar Moretti und Polizeiwachtmeister Franz Scherrer. Wir ermitteln gemeinsam im Mordfall Ihres Vorgesetzten, Herr von Hesse. Unser Zeuge, Patrick Bach, Herr von Hesse.“
„Willkommen, mein Junge!“, begrüßte ihn Moretti überschwänglich. „Wir sind froh, dass Sie es unbeschadet hierher geschafft haben.“
Päddi nickte. „Es war ziemlich abenteuerlich. Denken Sie wirklich, dass ich so in Gefahr war?“, versuchte er seine Gänsehaut zu unterdrücken.
Moretti zuckte mit einem leicht verlegenen Lächeln die Achseln. „Jedenfalls wollten wir auf Nummer sicher gehen. Nachdem uns Frau von Lanthen berichtete, dass sie Sie am besagten Nachmittag gesehen haben will, wie Sie mit jemandem durch den Rebberg gingen, sind Sie unser einziger Zeuge, der uns hoffentlich weiterhelfen kann. Selbst auf die Gefahr hin, dass unsere Beamten allenfalls überreagiert haben, dieser Fall rechtfertigt alles, was Sie durchgemacht haben. Kommen Sie bitte mit in mein Büro. Möchten Sie einen Kaffee?“, fragte er fürsorglich, um den Zeugen bei Laune zu halten.
Dieser nickte. „Ja, bitte, gern.“
Während sie, von Morettis Hand auf seinem Rücken geführt und von Hesse begleitet, am Empfangstresen vorbei und dann den Korridor entlang zu seinem Büro hinuntergingen, gab er seine Bestellung auf.
„Können Sie uns zeigen, wohin Sie den Mann zu Herrn von Hesse geführt haben?“, erkundigte Scherrer sich über die Schulter zurück, der ihnen vorauseilte.
Patrick Bach blickte ihn fragend an, als er ihm die Türe aufhielt. „Na klar. Warum?“
„Weil ihn der Schlächter nicht im Münster aus...“ Ausgeweidet, wollte er sagen, aber er verzichtete dann wohlweislich auf das brutale Wort und ersetzte es: „Wir gehen davon aus, dass er Herrn von Hesse allenfalls im Weinberg umgebracht hat!“
Bach blieb vor Schreck wie angewurzelt stehen und machte keinen Schritt mehr, so dass die ganze Gruppe fast in ihn hineingeprallt wäre.
Von Hesse fiel die Kinnlade herab, und Moretti runzelte ebenfalls ungläubig die Stirn. „Am helllichten Tag?“ Seiner Miene war zu entnehmen, dass er diese Idee des Polizisten für abartig daneben hielt.
Sutter zuckte mit den Achseln: „Dann zumindest niedergeschlagen!“, beharrte er.
„Warum auch nicht?“, kam ihm Scherrer zu Hilfe.
Moretti stieß einen tiefen Seufzer aus und zuckte ärgerlich mit den Schultern. „Das erklärt noch immer nicht, wie er dann mit ihm ins Münster kam!“ Er wusste zwar von Mäders Vermutung, dass der Leichnam eingewickelt gewesen sein musste, aber noch immer fehlte von ihm auf den Kameraaufnahmen jede Spur, und das war etwas, was ihm nicht in den Kopf gehen wollte.
Ablenkend deutete er auf den Sessel davor und nahm dann selbst hinter seinem Schreibtisch Platz. Sutter, Scherrer und Frank von Hesse drängten sich hinter dem jungen Mann ins Büro und machten die Türe zu. Moretti verschränkte die Finger wie zum Beten auf der Tischplatte ineinander und kam sofort auf den Punkt: „Kommen wir zur Sache, Herr Bach. Wie hat der Mann denn ausgesehen?“
Päddi hob den Kopf. Achselzuckend stierte er an die Decke hinauf und ließ die Moral der Männer schlagartig auf den Nullpunkt sinken, weil sie befürchteten, dass auch dieser Zeuge eine Niete war. Doch als er nach kurzem Nachdenken einprägsame Merkmale aufzuzählen begann, schoss ihnen das Adrenalin wieder schneller durch die Blutbahn. „Ein Durchschnittstyp. Groß, wahrscheinlich so um die Dreißig, ein kantiges Kinn, blaue Augen und strohblondes Haar.“
„Wie groß?“
„Sehr groß. Etwa einen Kopf größer als Sie.“
„So etwa zwischen eins achtzig, eins neunzig?“, vergewisserte sich Sutter.
Er nickte.
„Das würde zu dem passen, was Wolfgang gesagt hat.“
Die Kollegen nickten.
„Sonstige Merkmale?“
„Eindeutig ein Tourist. Er bemühte sich zwar, hochdeutsch zu sprechen, aber er sprach mit einem eindeutigen Akzent.“
Hellhörig zog Moretti eine Augenbraue in die Höhe. „Wie war der?“
Bach zuckte entschuldigend für die Erklärung mit den Achseln, weil er keine einfallsreicheren Worte dafür fand: „Es klang, als hätte er Brei im Mund.“
„Ausländer also“, nickte Moretti nachdenklich. Das war doch immerhin etwas. „Was sagt Ihnen Ihr Gefühl, woher er war?“
Bach warf einen langen Blick zu ihm hinüber, ehe er aus ratloser Verlegenheit wieder mit den Achseln zuckte. „Woher soll ich das wissen? Ich tippe auf etwas englisch-sprachiges.“
Franz Scherrer seufzte. „Da bleibt die Auswahl nicht sehr klein.“
„Leider nein.“
„Wieso sollte ein Tourist meinen Vater umbringen?“
„Sonst noch was, an das Sie sich erinnern?“
Päddi schüttelte den Kopf. „Nein. Doch!“, korrigierte er sich sofort, als ihm doch noch etwas einfiel: „Seine braunen Lederschuhe waren für einen Spaziergang im Weinberg gänzlich ungeeignet.“
Moretti runzelte irritiert die Stirn. „Inwiefern?“
„Kein Mensch betritt einen Rebberg mit Ausgehschuhen.“
„Warum nicht?“
„Das werden Sie selbst sehen, wenn ich Sie hinführe. Sie haben dasselbe Problem, Herr Sutter“, sagte er über die Schulter zurück an Sutter gewandt.
Dieser blickte auf seine Schuhe nieder und warf ihm mit offenem Mund einen fragenden Blick zu.
„Keine zubetonierte Asphaltstraße, Herr Sutter. Kleine Steinchen können das Leder aufkratzen, und ganz gewiss werden Ihre Schuhe nach dem Spaziergang von Staub und Blütenstaub überzogen und schmutzig sein.“
Moretti wippte begreifend mit dem Kopf. „Ich verstehe. Vermutlich hat der Täter nicht damit gerechnet, einen Abstecher in den Weinberg machen zu müssen. Wo haben Sie ihn in Empfang genommen?“
„Vorne, beim Eingang, ganz normal.“
„War er aufgeregt?“
Wieder folgte zuerst ein ratloses Achselzucken, bevor er antwortete: „Ja, doch, schon ein bisschen, würde ich sagen.“
„Hat er Ihnen gesagt, was er von Herr von Hesse wollte?“
„Nein. Ich dachte, Wein kaufen. Er tat sehr interessiert und ich sollte ihm die Qualität der einzelnen Traubensorten erklären.“
Sutter und Scherrer warfen sich einen raschen Blick zu. „Scheint ein Genießer zu sein!“, knurrte der rothaarige Abteilungsleiter.
Bach schüttelte genervt den Kopf. „Der hatte von Weinbau keine Ahnung! Und von gutem Wein schon gar nicht!“, knurrte er.
„Okay.“ Moretti nickte beschwichtigend. „Was fuhr er für ein Auto?“
„Er kam mit einem Moped. Das war schwarz-silbrig mit einer eckigen Ledertasche auf der linken Seite des Gepäckträgers.“
Das klang jedenfalls schon mal nicht schlecht. Es gab nicht mehr viele Motorfahrräder, an denen noch die alten Speckledertaschen angebracht waren und von ihren Haltern benutzt wurden. Den Beamten entrang sich ein zurückhaltender, aber erleichterter Seufzer, wenngleich sofort die Frage aufkam, wie, wenn der Mann tatsächlich der Schlächter war, er es dann geschafft haben sollte, einen stämmigen, erwachsenen Mann auf einem Mofa wegzutransportieren?
„Sie können sich nicht zufällig an die Nummer erinnern?“, forschte Scherrer forsch, der auf eine gute Beobachtungsgabe hoffte.
Patrick Bach nickte. „Doch, zufällig. Ich kann mir Zahlen ziemlich gut merken. Es war ja auch nur eine dreistellige Zahl: zwei sieben fünf, mit Berner Kennzeichen.“
Sutter notierte. „Danke, das war sicher schon mal sehr hilfreich.“ Er wandte sich ab und fingerte an seinem i-phone herum, um sich digital vernetzen zu lassen.
Das Gespräch geriet ins Stocken, als sich die Männer abwartend nach ihm umdrehten.
Doch bereits schon während dem kurzen Gespräch wurde seine Miene niedergeschlagen. Sie entnahmen seinem Blick, dass er keine gute Nachricht erhalten hatte: „Das Moped gehört einem Samuel Perren, 82. Es wurde vor drei Tagen als gestohlen gemeldet.“
„Also an dem Tag, an dem Madeleine verschwand.“
„Verdammt!“
„Dann hat er es schon benutzt, und der Alte hat nichts gemerkt!“
„Der Kerl überlässt wirklich nichts dem Zufall!“, spuckte Moretti wütend aus.
Scherrer nickte. „Du hast recht. Er geht ausgesprochen methodisch vor. Alles scheint bis ins letzte Detail geplant.“
„Aber wie hat er meinen Vater dann vom Weinberg wegschleppen können?“, erkundigte sich Frank August mit erhobenen Händen ratlos.
Allen entrang sich ein tiefer, fast entrüsteter Seufzer, als sie vor Frust aufbegehrten. „Er hat recht. Das passt nicht.“
„Dann ist er vielleicht doch nicht unser Täter?“, mutmaßte Sutter mit saurem Aufstoßen.
„Aber wir brauchen ihn! Wenn er nicht der Täter ist, dann aber ziemlich sicher die letzte Person, die Hesse an selbem Tag noch lebend gesehen hat!“, konstatierte Moretti grob. Mehr brauchte er nicht zu sagen, um seinen unausgesprochenen Befehl in die Tat umsetzen zu lassen.
„Frag nach, ob Hesse einen unehelichen Sohn hat, der zu der Beschreibung passen könnte“, wies Scherrer Sutter an.
Dieser nickte und hängte sich wieder ans Handy.
Von Hesse warf ihnen einen nervösen Blick zu. Seine außerfamiliären Geschwister kannte er nicht alle persönlich, weshalb er darauf selbst keine Antwort geben konnte.
„Wollen Sie jetzt den Weinberg sehen?“, erkundigte sich Patrick ungeduldig, der trotz allem die plötzliche Aufmerksamkeit um seine Person ein klein wenig zu genießen schien.
Moretti schüttelte, dem Moment der Wahrheit entgegenfiebernd, den Kopf: „Noch nicht! Unser Computerspezialist Arno Gonzalo soll mit Ihnen vorher die Schablonen durchgehen. Versuchen Sie mit seiner Hilfe ein Phantombild von dem Mann zu erstellen, das wäre uns wirklich sehr hilfreich“, erläuterte er.
„Ich helfe gern, wenn ich kann.“ Patrick Bach nickte.
Moretti lächelte ihm aufmunternd zu, ehe er sich an Sutter wandte: „Kari, bringen Sie Herrn Bach zu Arno. - Wir wollen hoffen, dass wir mit Ihrer Hilfe endlich Licht ins Dunkle bringen können, um den Mörder zu überführen!“
Sutter erinnerte sich, den Satz schon mal gehört zu haben. „Kommen Sie bitte mit“, sagte er. Er konnte nur hoffen, dass es wenigstens diesmal etwas bringen würde, sonst standen sie genauso am Anfang wie zuvor! Beim Gedanken daran verbiss er sich einen wüsten Fluch.
Bach nickte und erhob sich. Die beiden verließen flankiert von Scherrer und von Hesse das Büro.