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„Wollen Sie jetzt den Weinberg sehen?“, fragte Bach, als Sutter zu ihm und Hesse an den Empfang zurückkehrte. Er war noch immer eingeschnappt, entsprechend klang seine Stimme ziemlich bissig .
„Ja, klar. Kommen Sie mit!“ Er nickte kurz angebunden, während er mit langen Schritten und lautem Stakkato an ihnen vorüberschritt.
Hastig erhoben sie sich von ihren Stühlen. Sie mussten sich sputen, um ihn bis zur Türe eingeholt zu haben, dann brachen sie, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, sofort auf.
Sutter fuhr die beiden Männer zurück nach Gut Maierhofen, während ihnen ein zweiter Einsatzwagen folgte, in dem die Forensiker Rebecca Neidhart und Hans Mäder sowie der Profiler Stefan Brügger saßen, um im Weinberg nach den allfälligen Spuren des Gewaltverbrechens zu suchen.
„Da vorne ist es. Es ist nicht mehr weit.“ Zwischen den Rücksitzen streckte Patrick Bach die Hand zu ihnen nach vorne und deutete Sutter den Weg. Er führte sie mit den Wagen so nah wie möglich an die Stelle, wo er August Heinrich von Hesse mit dem fremden Blonden zusammengebracht hatte. „Da unten, links abbiegen!“
Sie fuhren auf dem Hügelkamm entlang, ehe Sutter auf sein Geheiß auf den schmalen Feldweg einbog und dann oberhalb der Stelle inmitten der Rebstöcke stehenblieb. Als sie ausstiegen, bot ihnen das Panorama bei dem schönen Wetter einen atemberaubenden Blick auf die Stockhornkette und die schneebedeckten Berner Alpen mit Eiger, Mönch und Jungfrau weiter hinten. Der Himmel war praktisch wolkenlos und die Sonne schien von einem stahlblauen Firmament.
Becky strich sich mit der Hand eine ihrer langen, brünetten Haarsträhnen hinters Ohr zurück, bevor sie sich wieder bückte, um ihren Instrumentenkoffer an sich zu nehmen. Ihr Werkzeug in der Faust, marschierte sie allen voran den Weg hinunter, der wenige Meter vor ihnen in einer Sackgasse vor den Weinstöcken endete.
Profiler Stefan Brügger, der magere Riese mit dem schütteren Haar und Bubifrisur, ließ Bach und die Kollegen vorgehen und folgte ihr etwas langsamer.
Unwillkürlich blieb Becky Neidhart wie angewurzelt stehen. Deutlich waren im hier feuchteren Boden die Abdrücke von Reifenprofilen zu erkennen. „Halt!“, rief sie über die Schulter zurück, damit ihr niemand die Spuren zertrampelte.
Die kleine Delegation blieb stehen. Sutter und Mäder schoben sich an den anderen vorbei und stellten sich hinter sie. „Was ist?“, erkundigte er sich.
Sie deutete mit ihrer feingliedrigen Hand auf den Boden. „Reifenspuren! Und da, sieh her! Weiter unten diese Schleifspur!“
Nun sahen sie es auch. In der inzwischen ausgetrockneten Pfütze auf dem Weg, auf die Becky gedeutet hatte, befanden sich deutlich sichtbare Abdrücke von Autoreifen, die weniger deutlich in Form von Gleisspuren weiter nach unten führten! Und darunter...! Sutters Herz begann vor Aufregung zu hüpfen. „Sieht aus, als wäre hier was ziemlich Schweres hochgezogen worden.“
Sie nickte. „Die Fußspuren darunter sind ziemlich verwischt, aber man kann noch die Eindrücke erkennen.“
„Marti hat Erdklümpchen im Stoff der Leiche gefunden.“
„Wenn wir sie vergleichen, dürften sie wohl zweifelsfrei von hier stammen“, murmelte sie. Der leichte Wind spielte mit ihren Haaren und ließ sie durcheinanderwehen. „Steff, kannst du hiervon einen Gipsabdruck machen? Mal sehen, ob wir den Querschnitt herausfinden können.“
Brügger nickte. Er stellte seinen Koffer ab und begann mit übergezogenen Handschuhen, Gips und Wasser aus einer mitgeführten Petflasche zu vermengen und an einem Brei herumzuwerkeln, während Sutter mit den Profilern in sicherem Abstand zu den Beweisspuren tiefer in den Weinberg hinabschritt.
Frank August und Patrick Bach schauten ihnen von weiter oben zu.
Als Neidhart innehielt, blieb Sutter dicht an ihrer Seite stehen. Während er mit langem Hals auf die Fußspuren vor ihnen hinunterblickte, die mehr oder weniger unversehrt zwischen den Schleifspuren erhalten geblieben waren, erkundigte er sich neugierig: „Sieht nach großen Latschen aus. Was denken Sie, welche Schuhgröße könnte der Mann gehabt haben?“
Die junge Frau zuckte mit den Achseln. Sie bückte sich, ohne sich nach ihm umzusehen, während ihr die Bise die langen Haare ins Gesicht wehte. Mit dem Meterband maß sie die Schuhgröße ab: „Spitz zulaufend. 46, würde ich sagen.“
Er nickte. „Ja, das denke ich auch.“
Unweit von ihnen, dort, wo die Schleifspuren begannen, fand Hans Mäder am Boden zwischen den Rebstöcken ein wenig Blut. Zum Glück hatte es die letzten Tage nicht geregnet, so dass es sogar von bloßem Auge gut sichtbar war. „Hab’ hier auch was gefunden!“, rief er.
Die beiden richteten sich auf und blickten zu ihm hinüber.
„Mit ziemlicher Sicherheit vom Schlag stammend, der von Hesse bewusstlos gemacht hat. Möglicherweise hat ihm der Entführer hier die Nase gebrochen oder sonst eine der Verletzungen zugefügt, so dass er zu Boden gestürzt ist und unfähig war, sich weiter zu wehren. Die schmalen Furchen deuten darauf hin, dass er von hier weggeschleift worden ist.“
„Und dass der Täter ein Fahrzeug in den Reben abgestellt haben muss!“
„Jetzt wissen wir wenigstens, dass er von hier entführt wurde!“
„Am helllichten Tag, und keiner hat was gemerkt!“
„Unglaublich!“
„Der Besitz ist sehr weitläufig und es ist momentan wenig im Rebbau zu tun“, murmelte von Hesse entschuldigend.
„Und wo waren Sie, Herr Bach?“
Dieser zuckte leicht die Achseln. „Ich bin anschließend wieder ins Büro zurückgekehrt, nachdem ich den Mann beim Boss abgeliefert habe.“
„Und wie hat er sich vorgestellt?“
„Weiß ich nicht mehr. Namen kann ich mir nicht so gut merken wie Zahlen.“
„Schade. Das wäre hilfreich gewesen“, seufzte Brügger. Seine knochigen Schultern sanken enttäuscht herab.
„Oder erfunden. Hätte uns wahrscheinlich ohnehin nichts gebracht!“, knurrte Sutter grimmig vor Wut.
Er rief Scherrer im Büro an, um den Freund und Vorgesetzten zu informieren.
„Ist Custer bei dir?“, war Sutters erste Frage.
Obwohl Scherrer auf Neuigkeiten brannte, schüttelte er den Kopf. „Nein, momentan nicht. Was gibt’s Neues?“, erkundigte er sich ungeduldig.
„Wir haben Reifenspuren und Fußabdrücke gefunden. Zirka Schuhgröße 46, spitz zulaufend.“
Scherrers Herz begann einen Takt schneller zu schlagen. „Unser Täter?“
„Sieht so aus. Die Schuhgröße passt in etwa auf den Abdruck, den Mäder bei der zweiten Leiche machen konnte.“
„Langsam kommen wir dem Kerl doch näher!“, knirschte er befriedigt. Er verbiss sich einen tiefen, erleichterten Seufzer und atmete lautlos in sich hinein.
Sutter nickte zustimmend. „Jedenfalls haben wir damit doch schon mal ein weiteres Puzzlestück. Wenn ich Bach recht verstanden habe, dann waren seine Ausgehschuhe ziemlich neu. Eine Größe 46 sollte eigentlich einer Verkäuferin auffallen.“
„Genau, gute Idee. Ich besorg’ mir mal die Adressen sämtlicher Schuhläden in der Umgebung, dann befragen wir die Angestellten. Vielleicht hilft uns Schuhgröße und Phantombild weiter.“
Sutter nickte. „Okay, gut, ja, tu das.“
„Danke. Ich hoffe, du hast uns damit weitergeholfen.“
„Bitte, gern geschehen. Wir bringen euch dann die Beweise mit. Becky meint, mit dem Reifenquerschnitt könnte sie in etwa wenigstens eine Auswahl an möglichen Fahrzeugen treffen.“
„Das wäre toll. Lassen wir uns überraschen.“
Sutter grinste. „Ja, machen wir uns auf was gefasst! Becky war noch immer für eine Überraschung gut.“
Scherrer nickte, er war in Gedanken schon ganz woanders. „Viel Glück und out.“
„Okay, tschau.“ Die Leitung wurde unterbrochen und Sutter hängte auf.
Scherrer drehte sich nach seinen Kollegen um, um die Suche nach dem Schuhladen in die Wege zu leiten.