Es war bereits Mitte Nachmittag, an diesem ereignislosen, vom Nieselregen düsteren 12. Tag. Seit über einer Woche glich die halbe Stadt Bern einem Ameisenhaufen. Noch selten war die Präsenz von Polizei, Feuerwehr und auch Zivilschützern zusammen mit dem Militär so groß gewesen. Es ging um nationale Sicherheit und den verfassungsrechtlich eingetragenen Schutz der Bevölkerung, entsprechend wichtig war das Aufgebot für diesen Großeinsatz. Seit acht Tagen standen die uniformierten Staatsdiener an jedem Container und Kehrichteimer; zusammen mit dem staatlichen Reinigungsdienst wurde alles geleert, was nach potenzieller Entsorgungsmöglichkeit aussah. Mit Spürhunden durchkämmten sie in Reih und Glied sämtliche öffentlichen Parks und Wälder. Im zoologischen Garten Dählhölzli begleiteten Sicherheitsleute die Tierpfleger auf ihrem täglichen Rundgang zur Fütterung und durch das Gehege auf der Suche nach Tatwaffen, Blutspuren der möglicherweise den Tieren zum Fraß vorgeworfenen Menschenherzen und den blutigen Kleidern des Killers, der sie gewiss irgendwo entsorgt haben musste. Auf der Aare und in sämtlichen Kanälen und jeder anderen Pfütze bis hinaus ins Naturschutzgebiet zwischen Muri, Ostring und Belp, waren Tauchfirmen auf der Suche nach versenkten Plastiktüten und jedweilig anderen Behältnissen, mit denen er, mit Steinen beschwert, seine Spuren oder sonstigen Hinweise versenkt haben könnte. Bei der Gelegenheit wurden mit Baggern, Haken und Greifern tonnenweise Fahrräder und sonstiger Unrat aus den Gewässern herausgefischt, während sich die Aufrufe in Radio, Fernsehen und Presse an eventuelle, potentielle Zeugen, ob irgendwer irgend etwas Ungewöhnliches gesehen oder bemerkt haben wollte und darüber Hinweise an die Polizei machen könnte, sich nun beinahe stündlich wiederholten.
Seitdem lebte die ganze Stadt in Angst und der Erwartung auf einen neuen, schrecklichen Mord. Es gab wohl kaum jemanden, der sich ohne Begleitung auf die Straße traute. Doch der ganze Hype entpuppte sich im Nachhinein als aufgebauschtes, nicht stattgefundenes Ereignis, das lediglich die Verstärkung des Konsumenteninteresses an den beteiligten Medien geschürt und damit ziemlich viel Geld in ihre Kassen gespült hatte, obwohl – nichts passierte!
Vom Schlächter gab es kein Lebenszeichen; es schien beinahe so, als wäre er wie vom Erdboden verschwunden, doch Kriminalkommissar Paolo Moretti war sich bewusst, dass dem nicht so war. Die langen Stunden der Hoffnung und Ungewissheit flossen dahin wie zähflüssiger Brei; sie brachten ihn beinahe an den Rand seiner Belastbarkeit und zermürbten ihn. So war es eine Erlösung für alle, als die Hundertschaften von Suchtrupps nach acht langen Tagen am zwölften Tag seit Auffinden von von Hesses Leiche endlich fündig wurden und Taucher in nächster Nähe des Rosengartens eine Plastiktüte mit Kleidern aus der Aare fischten.
Obwohl soeben noch am Rand der Erschöpfung, sprang Moretti wie elektrisiert aus seinem Sessel in die Höhe, als ihm die Nachricht überbracht wurde, und rannte trotz seines Asthmas in Windeseile die Treppe in die unteren Etagen hinunter, weil ihm das Warten auf den Aufzug zu lange dauerte. Völlig außer Atem stürmte er gerade in dem Moment ins Labor, als Wolfgang Fiala von Sutter die noch triefende Plastiktüte zur Untersuchung entgegennahm und sich beide wenig überrascht nach ihm umdrehten. Auf Sutters Miene lag ein siegesgewisser Ausdruck, dass sie dem Schlächter damit nun endlich einen Schritt nähergekommen waren. „Das ist doch endlich mal eine gute Nachricht!“, konstatierte Moretti mit einem erleichterten Aufatmen erfreut.
Fiala warf dem Kommissar einen mitleidigen Blick zu. Moretti sah schlecht aus. Dunkle Ringe unter den Augen zeugten von zuwenig Schlaf, und dass er in den letzten sieben Tagen über 10 Kilo an Gewicht verloren hatte, bedeutete, dass er den Fall höchst persönlich nahm. „Du bist zu früh, Paolo“, witzelte er, um die angespannte Situation etwas aufzulockern, doch sein Necken verfing diesmal nicht. Es war fast greifbar, wie sehr Moretti dem Resultat entgegenfieberte.
Fiala zog die triefenden Kleidungsstücke mit Latexhandschuhen aus dem Plastikbeutel, begutachtete sie kurz und legte sie dann auf einen Haufen. Erst als zuunterst der blutbesudelte helle Trenchcoat zum Vorschein kam, auf dem die Blutflecke deutlich sichtbar waren, verhielt er mitten in der Bewegung.
„Was hast du, Wolfi?“, fragte Moretti aufgeregt.
„Das sieht eindeutig nach Blut aus“, lächelte dieser zufrieden.
„Die Frage ist nur, von wem!“, knurrte Sutter, womit er Moretti die Laune vergällte.
Fiala nickte. „Das werden wir nach meinen Untersuchungen wissen, Jungs. Gebt mir dafür etwas Zeit“, sagte er.
Ungeduldig standen die beiden Männer daneben, während der Laborchef ein paar blutige Fasern, die eine winzige Menge Erbmaterial enthielten, aus dem Trenchoat ausschnitt und sie dann in einem seiner stäbchenförmigen Röhrchen versenkte, um daraus die DNA zu isolieren. Dabei wurde das vorhandene Material durch spezielle Enzyme in Hunderte kleine Abschnitte zerlegt.
Wolfgang Fiala warf ihnen einen betretenen Blick zu, nachdem ihm klar geworden war, was das werden sollte. „Ihr wollt doch nicht wirklich hierbleiben, bis ich fertig bin, oder?“, erkundigte er sich mit eindeutig konsterniert klingender Stimme stirnrunzelnd, bevor er sie darauf hinwies: „Das Ganze wird ein Paar Stunden in Anspruch nehmen!“
Moretti nickte mit einem betrübten Seufzen und nahm die Hände vom Rücken. „Wenn du meinst!“, murrte er widerwillig, doch er wusste, es war sinnlos, sich hier die Füße in den Bauch zu stehen und auf etwas zu warten, das sich nicht beschleunigen ließ.
Fiala nickte ihm aufmunternd zu. „Ich melde mich sofort, sobald ich fertig bin“, versprach er.