Die folgenden Stunden wurden ihnen wieder immens lang. Während sie sich mit irgendwelchen Arbeiten zu beschäftigen versuchten, um die Zeit totzuschlagen, trug er die erhaltenen Segmente auf ein Gel auf, welches in seiner Maschine wie ein Molekularsieb funktionierte. Unter Strom gesetzt, wanderten die Moleküle aufgrund ihrer partiellen Ladungen, in Abhängigkeit von ihrer Molekülmasse, Molekülgröße und Ladungsanzahl im erzeugten elektrischen Feld unterschiedlich schnell zu den entgegengesetzten Polen. Besonders Nucleinsäuren und Proteine ließen sich auf diese Weise mithilfe der Gel-Elektrophorese gut aus einem Stoffgemisch herausisolieren.
Nach mehreren Stunden waren alle DNA-Segmente entsprechend ihrer Länge geordnet und brauchten nach der erfolgten Trennung nur noch durch besondere Färbetechniken im Gel sichtbar gemacht zu werden, um so die typischen Bandmuster entstehen zu lassen, die sich individuell unterschieden und nicht nur für Vaterschaftstests aussagekräftig waren, sondern auch zur Identifikation von Personen.
Moretti gähnte. Er blickte immer wieder voller Ungeduld auf seine Armbanduhr, nur um festzustellen, dass die Zeit nur so dahintröpfelte und die Zeiger dahinschlichen, wie um ihn zu ärgern. Aber zumindest waren die Informationen, die ihnen Wolfgang Fiala über die geheimnisvolle Kleidertüte schließlich zukommen ließ, doch immerhin ermutigend und die Warterei hatte sich gelohnt.
Mit einem zutiefst erleichterten Aufseufzen lehnte sich Moretti mit gefalteten Händen über dem Bauch in seinem Chefsessel zurück. Er brauchte einen Moment, um diese glückliche Fügung des Schicksals tatsächlich begreifen zu können: am Reißverschluss hatte Wolfgang Fiala ein blondes Haar gefunden! Am Trenchcoat und durchgedrückt an den anderen Kleidern die DNA der Toten mit ihrem Blut! Und was das Beste war, wenn auch nicht allzu überraschend: das Haar war identisch mit dem ersten von Hesses Knopfbrosche!
Sie hatten seine Kleider aus der Aare gefischt! Er lehnte mit der Schulter gegen die kalte Wand der Cafeteria und verbiss sich einen Fluch, dass die zusammengepressten Zähne knirschten und ihn die Kiefer schmerzten. Die Kaffeetasse in seiner Hand blieb unbeachtet, während er in dumpfes Brüten versunken, durchs Fenster auf die Stadt und die Aare hinausblickte.
Entgegen seinem üblichen Handeln war er beschämend dumm gewesen, dass er nach dem Tod der Frau nicht mehr in seinen Unterschlupf zurückgekehrt war, sondern statt dessen seine Sachen so einfach auffindbar entsorgt hatte! Die Gier nach ihrem Körper und der anschließende Blutrausch hatten seine Hirnzellen ausgeschaltet und ihn unkontrolliert gemacht. Hinterher bereute er sein unüberlegtes Handeln, aber er wusste, es war zu spät! Dabei hatte er sich so verdammt sicher gefühlt, als könnte ihm nie jemand etwas anhaben! Und jetzt konnte er von Glück sagen, wenn das Wasser sein Sperma aus dem Kondom geschwemmt oder aufgelöst hatte! Er war verdammt schludrig und gefährlich dumm gewesen!
Doch dann zuckte er gleichgültig, ja fast erheitert mit den Schultern. Moretti wird’s freuen!, dachte er mit einem verbissenen Grinsen, als er sich dessen Gesicht vorzustellen versuchte. Es war nur lediglich ein weiterer Puzzlestein, der ins Nirgendwo führte! Niemand wusste, wer er war, und er stand in keiner Kartei! Kein Mensch würde von sich aus darauf kommen, dass er der Schlächter von Bern war!
Einmal mehr sann er mit schierer Verzückung dem Titel nach, den ihm die Presse verliehen hatte. Der Name klang so gut! Es tat ihm jedes Mal in der Seele wohl, wenn er ihn las oder hörte. Das war er! Er war der Schlächter von Bern! Sie wussten es alle und jedermann fürchtete sich vor ihm! Es stärkte sein Selbstwertgefühl, endlich jemand Bedeutender zu sein, selbst wenn die Schlagzeilen so negativ waren. Der Titel machte ihn stolz. Und er frohlockte darüber, dass die Polizei seine wahre Identität niemals herausfinden würde! Er war einfach zu schlau für sie! Er dachte an alles!, – jedenfalls fast! Er hatte Moretti zwar einen weiteren Hinweis geschenkt, der ihn sicher frohlocken ließ, aber er verdächtigte nach wie vor den Falschen! Der Idiot hatte sich doch sogar selbst in dieses Verhängnis hineinmanövriert! Das war einerseits zwar gut, weil sie nicht nach ihm suchten, aber andererseits ärgerte es ihn bis zur Weißglut, weil schließlich kein anderer, sondern nur er der Schlächter von Bern war!
Trotz seiner inneren Zerrissenheit lächelte er hämisch in sich hinein. Wenn es das perfekte Verbrechen gab, dann hatte er den Weg dazu gefunden!
Trotzdem überlegte er sich: Wie soll es nun weitergehen? Sein Verstand sagte ihm, dass es Zeit war aufzuhören, doch sein Ego wollte mehr: viel viel mehr! Gefährlich viel mehr! Das bedeutete weiterzutöten! Und hieß, Macht über andere zu haben! So schöne Macht, und ihre Angst in den Augen leuchten zu sehen, wenn sie erkannten, wozu er fähig war! Aber es hieß auch, der Gefahr der Enttarnung weiterhin ausgesetzt zu sein!
Aber der Atem der Gefahr hatte etwas Prickelndes! Es fühlte sich geil an, das Adrenalin durch die Adern schießen zu fühlen; wenn sich ihm die Härchen aufstellten und er eine Hühnerhaut bekam, wenn er daran dachte, dies alles unter den direkten Augen der Polizei tun zu können! Es war gefährlich, dessen war er sich voll bewusst. Aber er konnte sich nicht entscheiden! Und er wartete darauf, dass ihm Moretti oder jemand anderer einen neuen Anlass dazu gab, unter Beweis zu stellen, dass es noch nicht vorbei war!