Die beiden waren kaum weg, als Moretti mit seinem Dienstfahrzeug zum Präsidium zurückkehrte. Um ein Haar hätten sie sich bei ihrer Ein- und Ausfahrt gekreuzt.
Während er zum Parkieren in die Einstellhalle hinunterfuhr, kam oben im selben Moment der Chefpathologe in aller Eile aus dem Lift gestürzt. Mit schnellen Schritten hastete er durch den langen Korridor bis zum Empfangsbüro. Mit rotem Gesicht stützte er sich am Tresen auf und versuchte seine beschleunigte Atmung zu kontrollieren.
Die anwesenden Beamten hielten in ihren Arbeiten inne und warfen ihm einen verwunderten Blick zu. Es kam selten vor, dass Hans Marti sein angestammtes Revier verließ und die oberen Gefielde aufsuchte, außer, es war etwas Außergewöhnliches passiert. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass er ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.
„Wo ist Moretti?“, erkundigte er sich aufgeregt.
Karl Sutter blickte über den PC zu ihm hinüber und schüttelte seinen dunklen Schopf. „Nicht da. Was gibt’s, Marti?“
„Und Custer?“, fragte dieser anstelle einer Antwort.
Sutter zuckte die Achseln. „Weiß’ nicht, auch nicht da. Warum?“
„Der Bericht vom Institut für Rechtsmedizin ist angekommen!“, berichtete der Pathologe atemlos.
„Das ist gut. Was hat er ergeben?“, erkundigte sich Scherrer vom Nebentisch.
Marti schüttelte den Kopf. „Später! Zuerst muss ich Moretti finden!“, erklärte er kurz angebunden. Es war seine Pflicht, den Chef als ersten zu informieren.
Die Männer hätten zu gern gewusst, was er zu sagen und was ihn so aufgeregt hatte. Scherrer deutete gegen den Ausgang: „Dann fragen Sie Gerry, ob der ihn schon gesehen hat.“
Marti nickte hastig und eilte an ihnen vorbei hinüber zum Ausgang. Vor Gerry Lengachers Tresen blieb er erneut stehen und erkundigte sich atemlos: „Haben Sie Moretti schon gesehen?“
Der Portier schüttelte den Kopf, bevor sein Blick aus dem Augenwinkel einen Wagen hereinfahren sah. Mit dem stoppeligen Kinn deutete er auf seinen Schwarz-weiß-Bildschirm. „Jetzt ist er gerade in die Einstellhalle gefahren.“
Das Gesicht des Pathologen erhellte sich vor Erleichterung. „Okay, gut, danke.“ Mit wehendem Kittel eilte er dem Kommissar über den Korridor entgegen. Er wollte keine Zeit verlieren und ihm die erfreuliche Nachricht sofort übermitteln. Mit der Schulter stemmte er sich gegen die schwere Sicherheitstüre, um sie ihm aufzuhalten, als Moretti gleich darauf die Lifttüre aufstieß und hinaustrat.
Marti sah ihn auf sich und den Portier in seinem Rücken zukommen und winkte ihm zu. „Chef!“
Dieser warf ihm nur einen kurzen, gehetzten Blick zu, als er an ihm vorbei durch die aufgehaltene Türe trat, und schüttelte gestresst den Kopf. „Nicht jetzt, Marti!“ Mit einer wegwerfenden Handbewegung fügte er abwesend hinzu: „Legen Sie’s auf meinen Schreibtisch, ich seh’s mir an, wenn ich zurück komme!“ Im selben Atemzug wandte er sich an den Portier, als er vor diesem stehenblieb: „Gerry, sagen Sie Sutter, ich fahre nochmals zum ersten Tatort!“
Der Pathologe fragte sich, was in Moretti gefahren sein mochte, dass er so aus dem Häuschen war und keine Zeit für ihn haben wollte. Brüskiert über das interesselose Verhalten, wandte er sich ab und machte sich auf den Rückweg zu Morettis Büro.
„Aber Chef, ich dachte, Sie seien am Tatort!“, hörte er hinter sich Gerhard Lengacher irritiert sagen. Fast gleichzeitig fiel die Sicherheitstüre mit einem dumpfen Knall ins Schloss zurück.
„Wie Sie doch sehen können, bin ich hier!“, knurrte Moretti auf die dämliche Feststellung verständnislos zurück, während er bereits ungeduldig auf dem Absatz kehrt machte, um wieder nach unten zu verschwinden. Auf dem Weg nach oben war ihm nämlich eingefallen, dass vor einiger Zeit von der Stadtverwaltung, unweit des Münsters, Ausgrabungen bewilligt worden waren und er erst kürzlich in der Zeitung gelesen hatte, dass Archäologen dort ein Gewirr von uralten Mauern - und vielleicht sogar Gänge? - gefunden hatten! Daraufhin hatte ihn ein fiebriges Prickeln gepackt, als er daran dachte, dass dies möglicherweise des Rätsels Lösung und das fehlende Puzzleteil sein konnte, weshalb der Schlächter mit seiner Leiche ungesehen ins Münster hineingekommen war! Er war so aufgeregt, dies sofort zu überprüfen, dass er an Martis Informationen im Moment keinen Gedanken verschwendete; nichts konnte so wichtig oder interessant sein wie das, herauszufinden, ob er mit seiner Vermutung richtig lag.
„Ja, aber dann...“ Verwirrt geriet Gerry Lengacher ins Stottern: „Sind Ihnen denn Custer und Frau von Lanthen vorhin nicht begegnet?“
„Nein, woher auch!“ Morettis Stimme klang brüsk, doch dann stockte ihm der Schritt. Neugierig drehte er sich wieder um. „Das ist doch die Schwester von diesem Hesse, oder? Was wollte sie denn?“, erkundigte er sich.
Lengacher nickte zuerst zur Bestätigung und zuckte dann gleich darauf ratlos mit den Achseln. „Sie sagte, es sei dringend und wollte unbedingt mit Ihnen sprechen.“
„Weswegen?“
„Es sei etwas, das Licht ins Dunkle bringe, mehr weiß ich nicht. – Ich habe sie zu Ihnen ins Büro geschickt, aber dann kam Custer mit ihr zusammen raus und sagte, Sie seien wieder am Tatort. Er wollte Frau von Lanthen dorthin mitnehmen und Sie dort treffen!“
Moretti durchlief es plötzlich siedend heiß, ein kalter Schauder rann ihm über den Rücken und verursachte ihm eine Gänsehaut. Er war nicht dort gewesen! Er hatte Custer mitgeteilt, wo er ihn finden könnte! „Mein Gott, Custer!“, keuchte er vor Entsetzen, mit der flachen Hand griff er sich an die Stirn.
Für Lengacher hörte es sich an, als hätte er ihn in der Hitze des Gefechts vergessen.
Moretti hingegen stockte vor Entsetzen jedoch fast der Atem. Er war nicht dort gewesen! Er hatte Custer mitgeteilt, wo er war! Und plötzlich kamen seine Gedanken ins Rollen. Dass so ein Schnösel bei ihm aufgetaucht war, der sich in seinen Fall so aufdrängte, war ihm noch nie passiert, und er hatte ihn ja geradezu auf seine Identität hinaufgehoben! Custer hatte den Kerl immer wieder verteidigt, als hätte er eine gewisse Achtung vor ihm. Er hatte dafür sorgen wollen, dass der Schlächter die Aufmerksamkeit bekam, die er sich wünschte! Das viele Blut hatte ihm nichts ausgemacht, weil er selbst den armen Hesse ausgeweidet und das Mädchen zerstückelt hatte! Er hatte ihn einen Künstler genannt, mit Ahnung von Anatomie! Kein Wunder, wenn er, wenn es überhaupt stimmte, tatsächlich in einer Schlachterei gearbeitet hatte! Er hatte Schlüsse gezogen, die nur jemand kennen konnte, der dabei gewesen war! Und er hatte ständig darauf beharrt, dass es sich um einen Serientäter handeln würde, weil er gewusst hatte, dass Hesse nicht der einzige und letzte Tote war, der ihm zum Opfer fallen würde! Und jetzt war er ausgerechnet mit einer Zeugin verschwunden!
Tiefste Bitterkeit machte sich in ihm breit. Er hatte sich Custers Empfehlungsschreiben nie angesehen und sich bei Sam Mosley nie versichert! Wie verdammt blauäugig er doch gewesen war, dem Scheißami blind zu vertrauen und nicht nachzuforschen! Es hätte ihm doch auffallen und in den Sinn kommen müssen...! Aber wer hätte auch auf den Gedanken kommen sollen, dass dieser Hund so abgebrüht war? Und er hatte es zuwege gebracht, immer um ihn herum zu sein! Er war sein eigener Spitzel gewesen! Kunststück, dass er über alle ihre Schritte Bescheid gewusst und nach der Veröffentlichung von Morettis Denunzierung nicht nach seinem Profil reagiert hatte! Er hatte gewusst, dass er ihnen in die Falle laufen sollte! Und jetzt war sie für Christina von Lanthen zugeschnappt! Der letzte Mensch, dem er vielleicht hatte wehtun wollen! Und jetzt würde sie die nächste sein! Ich muss ihn aufhalten!, schrie es in ihm. Und er wusste auch wo! Custer hatte ihm die Spur gelegt. Er wusste, dass er ihn dort finden und sich endlich all seine Fragen klären würden!
Für den Portier, der keine Ahnung von seinen sich überschlagenden Gedankengängen hatte, zog er höchst argwöhnisch die Brauen zusammen. „Wie sah sie aus? Ich meine, ging sie freiwillig mit?“
Lengacher empfand es als höchst merkwürdige Frage. Er legte den Kopf in den Nacken; während er sich im raspelkurzen Haar hinter dem Ohr kratzte, studierte er einen Moment über die Frage nach. Für Morettis Ungeduld einen Moment zu lang. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie gerne mit ihm ging.“
Moretti nickte, er hatte auch nichts anderes erwartet. Seine buschigen Brauen berührten sich nun fast, so stark zog er sie zusammen, und auf seiner Stirn wölbten sich gefährlich steile Falten, die nichts Gutes verhießen. „Also nicht freiwillig?“, vergewisserte er sich mit einer gewissen Schärfe.
Lengacher konnte sich Morettis Verhalten nicht erklären. Um keinen Fehler zu machen, hob er zur Bestätigung, dass er keine Ahnung hatte, hilflos die Hände: „Ich bin mir nicht sicher. Custer hatte seine Hand hinter ihrem Rücken.“
„Verdammt!“ Morettis Gesicht verfärbte sich.
Der Mord und kurze Zeit später der Einbruch in die Familienkiste!, sann er nach. Wir haben es für einen merkwürdigen Zufall gehalten, was es aber offensichtlich nicht war! Im Gegenteil! Himmel noch mal, die Lage war doch zu offensichtlich gewesen! Wütend über sich selbst, dass es ihm nicht schon viel früher aufgefallen war, schüttelte er den Kopf, als hätte er Flöhe. Das Puzzle hatte sich durch Custers Aussagen die ganze Zeit schon verdichtet, ohne dass er es gemerkt hatte!
Doch jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, als er sich erinnerte, was Sutter sonst noch herausgefunden hatte: dass über August Heinrich von Hesse nämlich nicht nur Gutes gemunkelt wurde! Er sollte einen Hang zum weiblichen Geschlecht gehabt haben! Und die Familienkiste beinhaltete erspartes Geld, mit dem verarmte Familienmitglieder oder wohltätige Zwecke unterstützt wurden! Sofern die Verwandtschaft von der Verwandtschaft Kenntnis besaß!
Und Custer? Der Täter sollte laut Wolfgang sogar mit Hesse verwandt sein! Moretti konnte sich deshalb keinen besseren Reim darauf machen, außer dass vielleicht der noble Gutsherr seinen Samen nicht nur im Heimatland verteilt hatte!
„Wie lange ist das her?“, fragte er mit belegter Stimme.
Gerry Lengacher zuckte die Achseln und bequemte sich dann, seine Uhr zu kontaktieren. Die Antwort dauerte Moretti schon wieder viel zu lange. „Etwa zehn Minuten, Chef“, erklärte er dann.
Dieser verbiss sich einen Fluch. „Trommeln Sie die Männer zusammen! Und sie sollen Custer unter die Lupe nehmen! Lassen Sie seine Fingerabdrücke überprüfen! Ich fahre rüber zum Tatort!“
„Zu welchem denn, Chef?“
Moretti sah ihn an, als sei er dämlich, ehe er ausspuckte: „Na, ins Münster! Dorthin soll Custer ja gefahren sein, oder?“, knirschte er mit verkniffener Miene. Er machte bereits wieder auf dem Absatz kehrt und war unterwegs gegen die Sicherheitstüre zum Lift.
Lengacher nickte ungemütlich. „Ja, stimmt, das hat er jedenfalls gesagt. Soll ich Sie begleiten, Chef?“, rief er ihm hinterher.
Moretti blieb stehen und blickte sich nochmals kurz um. Kopfschüttelnd drehte sich wieder zurück, während er ihm über die Schulter hinweg drängend zurief: „Nein, machen Sie schon! Mit dem Kerl werde ich nötigenfalls auch alleine fertig!“, behauptete er und hastete weiter. Der Schlächter hatte ihm die Fährte gelegt! Er wollte, dass er ihn fand! Über das Warum machte sich Moretti erst mal keine Gedanken, er wusste nur eins: es war ein Wettstreit zwischen ihnen, ein Kräftemessen, ein Ringen, welcher von ihnen bei diesem makabren, tödlichen Duell der Bessere war!