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Ihre Schritte widerhallten im Treppenhaus, dann in der hohen Einstellhalle, als sie im Laufschritt zu ihren Einsatzwagen rannten. Wenig später heulten die Motoren auf. Sutter setzte zurück und riss danach sein Fahrzeug herum. Bereits in der Tiefgarage drückte er den Fuß durchs Bodenbrett und schoss mit überhöhter Geschwindigkeit in die engen Kurven, dann die Steigung hinauf ans Tageslicht. Wie ein Geschoss raste er aus dem Untergrund hinaus auf die zum Glück nur wenig befahrene Straße. Die Kollegen hingen dicht hinter ihm an seinen Reifen.

„Schon was gefunden?“, drang seine nervöse Stimme schon wenig später auf dem Revier aus dem Mikrophon der Telefonanlage, während er mit quietschenden Reifen die erste Kurve nahm und Richtung Waisenhausplatz einbog. Vor ihm sprangen ein paar verschreckte Fußgänger aus dem Weg, ein junger Mann mit Rucksack und Windjacke katapultierte sich von seinem schlingernden Fahrrad, das er nicht mehr kontrollieren konnte, und rettete sich aufs Trottoir.

Scherrer seufzte und schüttelte bedauernd den Kopf. „Ja und nein, wie man’s nimmt. Der Kerl ist absolut perfekt!“, stieß er heftig aus.

„Du meinst, zu perfekt, um echt zu sein?“

Missmutig nickte er zur Bestätigung. „So könnte man’s sagen. Sein Lebenslauf sieht aus wie konstruiert.“

„Um etwas vorzutäuschen, das er nicht ist!“, knurrte Sutter begreifend.

„Und was ist er?“, erkundigte sich Mäder aus dem Hintergrund. Er musste sich von der Sitzkante zwischen den beiden Vordersitzen nach vorne beugen, um besser mitreden und mithören zu können.

„Weiß ich noch nicht. Aber das Gute ist, dass die Amis jeden Bürger schon von Kindsbeinen an überwachen. Ich werde mich mal mit unseren Kollegen jenseits vom Teich kurzschließen. Egal, was es ist, in seinem Lebenslauf ist drüben alles registriert! Und wenn Custer was auf dem Kerbholz hat, dann werden wir es finden!“

„Und was ist mit seinem Alibi?“

„Kannst ihn ja fragen, wenn ihr ihn gefunden habt!“

„Wenn wir ihn finden, dann finden wir auch Moretti und Christina von Lanthen. Hoffentlich noch rechtzeitig und lebend!“

„Mein Gott! Armer Moretti!”

„Versucht sein Handy zu orten! Oder irgendwas, damit ihr ihn findet, dass es nicht soweit kommen muss!“

„Wir sind schon dabei, wir arbeiten auf allen Frequenzen. Viel Glück.“

„Ja, danke, ihr auch.“

An ihrem Fenster flogen die Aare, die Nydeggbrücke und Hunderte schmucker Altstadthäuser Berns vorbei, doch die Männer hatten für die Einmaligkeit ihrer schönen Stadt für einmal keinen Blick. Sie waren nur darauf ausgerichtet, möglichst schnell von a nach b zu kommen.

Keine zwei Minuten später hatte Wilhelm Krämer übers Internet die Antwort im Facebook in Custers eigenem Account gefunden.

Scherrer griff sofort wieder zum Telefon. „Kari, ich hab’ da was!“

Sutters Arme schmerzten vor Anspannung, weil er das Steuerrad so hart umkrampft festhielt, seine Hände fühlten sich taub und kalt an. Jordis Hände vibrierten aus demselben Grund; er hatte Mühe, Sutters Handy richtig in der Hand und so zu halten, dass sie alle mithören konnten. „Und was? Schieß schon los, spann’ uns nicht auf die Folter!“, keuchte er vor Aufregung atemlos ins Mikrofon.

Scherrer war über die erhaltenen Informationen beinahe in Hochstimmung. Er lächelte verschmitzt, als hätte sein Kater eine Feldmaus verdrückt. „Der Kerl war gar nie auf der Polizeischule!“, ließ er die Katze aus dem Sack.

Verwirrt fuhr Mäder stirnrunzelnd hoch: „Was? Aber er kam doch mit einem Empfehlungsschreiben!“, rief er mit ungläubigem Staunen. Er konnte es nicht fassen, dass sie so auf diesen Kerl hereingefallen sein sollten und niemand es gemerkt hatte!

Sutter nickte, er war aus dem selben Grund kreidebleich. „Ja genau. Was ist mit Mosleys Brief?“

„Daran arbeiten wir noch, aber wir denken, es ist vermutlich eine Fälschung!“

„Dachte ich mir’s doch!“, knurrte Sutter verärgert. Für ihn klärte sich dadurch jetzt vieles. „Dieser Halsaufschneider! Unsere Abneigung kam nicht von ungefähr! Wir haben es gespürt, Franz, dass da was im Busch ist!“, fauchte er.

„Wie hat der Kerl das gemacht?“, fragte Jordi ungläubig, der Sutters Statement schlichtweg überging.

Auch Scherrer ging nicht auf den Einwurf ein und stellte statt dessen eine Gegenfrage: „Hat sich Moretti das angesehen und es nicht gemerkt?“

„Weiß’ nicht.“ Sutter gab aufrichtig zu, es nicht bemerkt zu haben. „Meines Wissens nicht.“

„Stimmt, sonst hätte er doch schon früher reagiert!“, warf Mäder bedachtsam ein.

Das war einleuchtend. Sobald er Custer im Verdacht gehabt hätte, hätte er zumindest sie beide ins Vertrauen gezogen!

Sutter wurde zuerst blass und dann rot, als ihm das Blut vor Wut darüber ins Gesicht schoss, dass der Killer sie derart fies hinters Licht geführt hatte und sie in wirklich jedem Punkt auch noch auf ihn hereingefallen waren. Das war echt unglaublich und unverzeihlich! „Dieser Schweinehund! Perfekte Taktik, sich einzuschleimen und über alle unsere Schritte Bescheid zu wissen!“

„Er hat nur einen Fehler gemacht! Und den wird er bitter bereuen!“, nickte Scherrer mit knirschenden Zähnen.

„Welchen?“, drang Sutters fragende Stimme aus dem Mikrofon.

„Hesses Schwester zu kidnappen! Das erst hat uns auf seine Spur gebracht – und Moretti vermutlich auch! Deshalb ist er unterwegs zum Tatort, wohin wir ihm folgen sollen!“

Sutter spuckte einen Priem zum halboffenen Fenster hinaus. „Also ein fast perfekter Plan!“ Er war verwundert und verärgert darüber, dass er ausgerechnet Custer gelingen sollte.

Scherrer nickte zustimmend. Seine Stimme klang drohend, als er antwortete: „Der ihm deshalb nicht aufgehen wird!“

Patrick Berger trat mit einem Notizzettel von hinten an ihn heran und reichte ihn ihm.

Scherrer las die Nachricht und starrte ihn dann mit offenem Mund überrascht an, ehe er ins Mikrofon keuchte: „Das werdet ihr mir nicht glauben!“

„Was denn?“

„Was er war, bevor er selbsternannter Polizist und Mörder wurde!“

„Was war er denn?“

„Metzgermeister in Detroit!“

„Scheiße!“ Sutter stieß einen unflätigen Fluch und dann einen tiefen, begreifenden Seufzer aus. „Das erklärt das Anatomiewissen, mit dem er auf ihn eingestochen und ihn dann aufgeschlitzt hat!“

„Ja, verdammt! Und vor uns geprahlt! Bloß ein verdammter Scheißmetzger! Und der hat jetzt Moretti!“

„Und Christina von Lanthen!“

„Erinnerst du dich, wie er den Schlächter gerühmt hat?“

„Ja! Er hat sich selbst gerühmt, der Scheißkerl!“, spuckte Sutter wütend aus.

Jordi schüttelte verständnislos den Kopf: „Und warum hat er uns dann immer wieder mit irgendwelchen Äußerungen auf sich selbst gestoßen?“

„Weil er in seiner Selbstverliebtheit ein arrogantes Arschloch ist! Wolfgang hatte recht mit dem Narzist! Er konnte es nicht auf sich beruhen lassen, dass wir dachten, es sei ein anderes Arschloch! Er ist zu egomanisch, deshalb musste er uns irgendwann auf sich lenken!“

„Und weil ihm Moretti sagte, dass wir den Fall knacken würden! Er plante das perfekte Verbrechen unter unserer Nase und glaubte ungeschoren davonzukommen!“, nickte Mäder knurrend.

Doch der Rotschopf blieb skeptisch: „Wenn wir den Kerl nicht finden und Moretti retten können, wird ihm genau das gelingen!“, beharrte er auf dem entscheidenden Punkt.

Sutter hätte ihn dafür ohrfeigen mögen. Obwohl er dieselben Befürchtungen hegte, schüttelte er entschieden den Kopf und versuchte, einen positiven Gedanken darin zu finden: „Nein!“, knirschte er. Auch auf die Gefahr hin, dass es ihm gelingt, Moretti umzubringen! „Es ist schon misslungen, weil wir ihn als Täter entlarvt haben! Jetzt müssen wir nur noch dafür sorgen, dass wir ihn erwischen, damit er nicht untertauchen oder gar das Land verlassen kann! Dann erst wäre es das perfekte Verbrechen, so, wie er es sich vorstellt!“

„Ich habe bereits eine Ringfahndung nach ihm ausgegeben!“, nickte Scherrer durch die Muschel.

„Gut“, seufzte Sutter, „hoffentlich erwischen wir ihn!“ Es war das einzige, das zeigte, dass er alles andere als zuversichtlich war, seinen Boss noch einmal lebend wiederzusehen. „Und was ist mit Moretti?“, erkundigte er sich halb furchtsam.