Die hastigen Schritte des großen Mannes klangen wie das Stakkato von rasch aufeinanderfolgend abgefeuerten Gewehrschüssen und verhallten, als er vor dem Tresen stehenblieb.
Überrascht blickte Franz Scherrer hoch und seufzte, als er den großgewachsenen Mann erkannte, der vor ihm stand.
„Wo ist Christina?“, fragte von Hesse ohne vorherige Floskeln oder Grußworte dumpf. Seit zwei Stunden wartete er auf eine Nachricht seiner Schwester, die nicht zum Mittagessen erschienen und ihm ein SMS über ihren Aufenthaltsort bisher schuldig geblieben war. Nach den Ereignissen der vergangenen Tage war er deshalb nicht umsonst derart nervös und in Sorge um sie.
Scherrer fand gar keine Zeit, sich über seine Anwesenheit zu ärgern. Er schluckte, bevor er ihm mit belegter Stimme gestand: „Die suchen wir auch!“
Von Hesse warf ihm einen verwunderten Blick zu. „Was heißt das? Johann sagte...“
„Wer?“, fragte Scherrer irritiert.
Frank August seufzte, doch er war voller Anspannung, die er zu unterdrücken versuchte. „Johann, unser Butler“, half er hilfreich, aber ungeduldig aus.
„Ach so.“ Scherrer bedachte ihn mit einem verlegenen Lächeln. Er wusste nicht, was er ihm über die verzwickte Situation erzählen sollte.
Von Hesse bekräftigte mit einem heftigen Nicken: „Er sagte, sie wollte hierher zu Ihnen!“ Es klang wie eine Anschuldigung, dass sie sie aus irgend einem Grund daran hinderten, mit ihm zu kommunizieren!
Der Abteilungsleiter nickte. Er fühlte sich verlegen wie noch selten in seiner gesamten Karriere, als er mit Unwohlsein bestätigte: „Sie war hier und ist wieder gegangen. Was wollte sie denn?“
Hesse blickte ihn auf die irritierende Antwort, aus der er nicht schlau wurde, mit einem undefinierbaren Blick an. „Sie hat in Vaters Unterlagen etwas gefunden...“, begann er mit kratzender Stimme.
Hellhörig zog Scherrer fragend eine Braue in die Höhe.
Hesse nickte heftig. Er seufzte tief und, wie es sich anhörte, fast entschuldigend auf. Der Seufzer kam hörbar aus tiefster, entrüsteter Seele: „Es gibt noch einen Bruder!“, sagte er. Er sprach es wie ein Schimpfwort aus, als hasste er das, was er herausgefunden und was sein Vater getan hatte.
Scherrer nickte und seufzte ebenfalls, als er schlicht bestätigte: „Ich weiß.“
Erstaunt blickte ihn Hesse an. Im nächsten Augenblick veränderte sich seine Mimik. Es sah aus, als fiele ein Vorhang von seinem Haaransatz hinunter, seine Augen verfinsterten sich, seine Mundwinkel wurden hart, er riss die Brauen zusammen, bis tiefe, steile Falten auf seiner Stirn standen. „Warum fragen Sie mich dann, wenn Sie es selbst wissen?“, fauchte er mit blitzenden Augen ungehalten. Diesmal klang er ärgerlich.
Scherrer schüttelte rasch den Kopf und zuckte entschuldigend die Achseln. „Nicht von Ihrer Schwester. Darauf sind wir durch unsere Forensiker selbst gestoßen. Es musste ein naher Verwandter sein!“
„Wie lange wissen Sie es schon?“ Hesses Stimme klang misstönend.
Scherrer hätte viel darum gegeben, jetzt an anderer Stelle sein zu können und dem verzweifelten Bruder nicht Rede und Antwort stehen zu müssen: „Seit gestern, als die DNA-Proben Ihrer Verwandten nichts ergaben.“
Frank August schnaufte heftig. Er senkte den Kopf wie ein Stier vor einem roten Tuch zum Angriff: „Sie hätten es mir sagen müssen!“, knirschte er entrüstet.
Auch wenn es nicht seine Schuld war, ungewollt fühlte Scherrer ein schlechtes Gewissen in sich hochwallen. Er war entsprechend zutiefst erleichtert, als ausgerechnet in diesem Augenblick das Telefon schellte. Mit einer darauf hinweisenden Geste bedeutete er von Hesse zu warten, ehe er sich zwischen den Sätzen von ihm ab- und seinem anderen Gesprächspartner zuwandte: „Bitte, entschuldigen Sie. – Ja, Kari, was gibt’s?“
Sutter war in der Leitung, um ihm zu sagen, was ihm wie aus heiterem Himmel soeben selbst eingefallen war: „Custer ist von Hesses Bruder!“
Scherrer nickte mit einem tiefen Seufzer. „Ich weiß. Er steht gerade neben mir.“
Von Hesse, der den angewinkelten Arm auf der Tischplatte aufgelegt hatte und sich am Tresen abstützte, warf ihm mit gerunzelter Stirn einen fragenden Blick zu, den er geflissentlich übersah.
„Custer?“ Sutters Stimme klang betroffen vor Überraschung.
Er hörte, wie Scherrer wütend durch die Nase fauchte: „Schön wär’s! Nein, sein Bruder! Deswegen war Christina hier! Um dies Moretti zu sagen!“, erläuterte er ihm den Sachverhalt.
Frank August öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Sutter begriff sofort und kam ihm zuvor, so dass er das Gespräch nur fragend mitverfolgen konnte: „Aber Moretti hat sie gar nicht angetroffen!“
Bedauernd schüttelte Scherrer zur Bestätigung den Kopf. „Nein!“
Sutters Miene verzerrte sich. „Stattdessen hat sie es Custer erzählt!“, stellte er missmutig ungeahnt richtig fest.
Scherrer nickte seufzend, ehe er bestätigte: „Das befürchte ich auch. Deshalb ist er mit ihr weggegangen.“
„Weiß er es schon?“
„Noch nicht.“ Franz warf einen kurzen Blick zu Hesse hinüber.
„Versuche es ihm schonend beizubringen.“
Scherrer schnaubte wütend durch die Nase. Als wenn ihm das nicht auch schon selbst in den Sinn gekommen wäre! „Das werde ich!“, knurrte er knapp.
Doch Sutter war noch nicht fertig. „Gibt’s was Neues? Habt ihr Moretti inzwischen gefunden?“
Scherrer stieß einen tiefen Seufzer aus. Hinter ihm klapperte der spanisch-stämmige Computerspezialist Arno Gonzalo unbarmherzig auf seinen Tasten herum; es klang wie das stetige Trommeln starken Regens. Doch er hatte sich bisher noch nicht mit einer Erfolgsnachricht gemeldet, insofern war er nicht überzeugt, dass es was zu berichten gab. Trotzdem versuchte er, Zuversicht zu vermitteln und vertröstete ihn: „Einen Augenblick, ich frag’ mal. - Arno, gibt’s was Neues?“, erkundigte er sich über die Schulter zurück.
Der Spanier hob den Finger, um anzudeuten, dass er noch nicht soweit war. Voller Konzentration studierte er seinen Bildschirm. Hesse runzelte die Stirn, Scherrer wartete ungeduldig auf eine Antwort, die nicht kam. Es dauerte fast zwei Minuten, bis er endlich nickte.
Währenddessen lenkte Sutter seinen Einsatzwagen mit hundert Sachen über die Schüttestraße und war kurz vor dem Großen Muristalden, als es Gonzalo gelang, seinen Standort zu ermitteln: „Hey, Chef, ich hab’ ihn! Ich habe Morettis Streifenwagen geortet!“, rief der Spanier die erfreuliche Nachricht über alles hinweg lautstark heraus, während er vor Freude mit der Faust neben seiner Tastatur auf den Tisch hieb, wodurch er sich auf dem rollenden Sessel ein paar Zentimeter vom Schreibpult wegdrückte.
„Mein Gott, wo?“ Scherrer fühlte seine Knie weich werden vor Erleichterung. Er ließ den Arm mit dem Telefon hinunterfallen und sprintete um die Bürotische herum zu ihm nach hinten.
Gonzalo deutete auf den Bildschirm. „Er ist gerade über die Kirchenfeldbrücke.“
„Gut gemacht!“ Während er ihm anerkennend auf die Schulter klopfte, entrang sich seiner Brust ein erleichterter Seufzer. „Arno, du bist ein Genie! Halt’ mich auf dem Laufenden!“, stieß er voll ehrlicher Bewunderung aus, ehe er das Handy wieder hochnahm und sich auf sein Telefonat konzentrierte.
Von Hesse blickte ihn zutiefst beunruhigt an.
Die Männer im Einsatzwagen horchten angestrengt aufs Handy, doch durch den Motorenlärm konnten sie die entfernt gesprochenen Sätze kaum verstehen. Was war passiert? Etwas Gutes oder Schlechtes?
„Was gibt’s?“, erkundigte sich Mäder vor ungeduldiger Aufregung atemlos. Er rangelte seinen Hintern auf dem Sitz zurecht, um besser nach vorne schauen und das Gespräch mitverfolgen zu können.
„Hey, Leute, ich hab’ was für euch“, keuchte Scherrer frohlockend aus der Muschel.
Sie hielten vor Anspannung die Luft an.
„Hoffentlich was Erfreuliches!“, knurrte Sutter. Er hatte genug von den unliebsamen Überraschungen des heutigen Tages.
Aus lauter Gewohnheit nickte Scherrer bekräftigend, obwohl ihm natürlich bewusst war, dass sie es nicht sehen konnten. Für einmal klang seine Stimme richtig aufgekratzt, als er ihnen gutgelaunt verkündete: „Kann man wohl sagen, gute Nachrichten! Wir haben Morettis Wagen geortet!“
Die Männer im Streifenwagen atmeten zutiefst erlöst auf, Sutter wurde fast schlecht vor Erleichterung. Sein Mund öffnete sich, aber er brachte keinen einzigen Ton heraus. „Gott sei Dank!“, entfuhr es Mäder auf dem Rücksitz, und Jordi pflichtete ihm mit heftigem Nicken bei.
Von Hesses Stirnrunzeln vertieften sich. Durch die einseitigen Gesprächsfetzen verstand er nur Bahnhof, aber er spürte, wie sich das ungute Gefühl in seinen Eingeweiden orkanartig verstärkte.
„Er fährt jetzt über die Hotelgasse, ist kurz vor dem Münster“, hörte er Scherrer mitteilen.
Sutter nickte erleichtert. Zumindest war noch nicht alles verloren. „Okay, danke. Halt’ mich auf dem Laufenden“, forderte er.
„Natürlich, werd’ ich.“ Scherrer nickte, bevor er die Verbindung unterbrach.
„Das ist doch wenigstens mal etwas!“, seufzte Mäder erleichtert.