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Custer hatte inzwischen seinen Vorsprung gut genutzt und keine Zeit vergeudet, sich in sein geheimes Refugium zurückzuziehen.
Als Christina von Lanthen erwachte, stand sie auf wackeligen Beinen, mehr hängend als stehend und mit nach oben gezogenen Armen gefesselt an einer überdimensionalen Metallkette, die vom Gewölbe hinunterragte. Ihr brummte der Schädel von dem harten Handkantenschlag und die aufgeplatzte Beule brannte vom AufpralI des Siegelrings, den Custer ihrem Vater gestohlen hatte. Die abnormale Stellung hatte das Blut aus den Händen hinunter in den Körper fließen lassen, so dass sie ihre Hände und Finger außer einem grässlichen Ameisenlaufen kaum mehr spürte. Ihre Beine fühlten sich kraftlos an, als sie auf ihnen zu stehen versuchte, um den schmerzhaften Zug auf ihren Hand- und Schultergelenken zu entlasten. Mit einem Schlag erinnerte sie sich.
Die Kette rasselte und klirrte, als sie sich bewegte und dabei wie ein Blatt im Wind schwankte. Custer blickte von seinem Lesestoff auf, den er über die Knie gelegt hatte, und sah, wie ihre Lider flatterten. Er erhob sich aus seinem Campingstuhl, auf dem er gesessen hatte, und trat auf sie zu. „Willkommen in meinem bescheidenen Daheim, Schwesterchen“, begrüßte er sie mit einem falschen, honigsüßen Lächeln.
Seine Stimme troff vor Spott, fand Christina. Sie öffnete die Augen. Schockiert blickte sie sich in dem unterirdischen Gewölbe um, von dem mehrere Stollen abzweigten und wie schwarze Löcher Kälte und Trostlosigkeit verströmten. „Wo sind wir?“, krächzte sie, weil ihr die Stimme kaum gehorchen wollte, obwohl ihr sofort klar war, dass sie sich irgendwo unter der Erde befanden. Die Kälte kroch an ihren Armen hinab und von ihren Füssen hinauf, alles war feucht, roch abgestanden und nach Moder. Befeuchtend glitt ihre Zunge über die ausgetrockneten, schmerzenden Lippen. Sie fühlte Schorf und schmeckte Blut.
„Ich muss mich bei dir entschuldigen, ich bin dir eine Antwort schuldig geblieben: Du hattest recht: Moretti wäre wohl der Einzige, der fähig und gut genug wäre, um mich zu finden“, erwiderte er anstelle einer Antwort grinsend, derweil er mit federndem Gang auf sie zukam. „Der Einzige, der es schaffen könnte!“, spottete er.
Sie erinnerte sich, dass sie ihm prophezeit hatte, dass man ihn finden würde. Dass er jetzt darauf zurückkam, lag höchstwahrscheinlich daran, dass er sie verhöhnen wollte und damit ihre Angst zu schüren versuchte. Seine Schritte widerhallten zwischen den finsteren Pfeilern und Betonmauern, die sie in der finsteren, nur von Fackeln ausgeleuchteten, feuchten Gruft wahrnahm. Ihre halblangen Haare waren ihr ins Gesicht gefallen. Obwohl die Bewegung mühsam war und schmerzte, warf sie den Kopf zurück und fauchte ihn mit blitzenden Augen an: „Das wird er! Er wird dich finden, verlass dich drauf!“ Obwohl sie Angst hatte, machte ihre Wut sie auffahrend und widerspenstig.
Er lächelte abfällig durch die Nase. „Das hoffe ich doch! Aber nicht, weil er so schlau war, sondern weil ich ihm auf meine Spur geholfen habe!“, prahlte er in seiner überheblichen Eitelkeit.
Christinas Wut verrauchte. Mit gerunzelter Stirn sah sie ihn verwundert an. „Warum solltest du das tun? Willst du, dass er dich findet und mich rettet?“, fragte sie hoffnungsvoll.
Custer schüttelte den Kopf, mit einem schneidenden „Nein!“ machte er ihre Hoffnung grinsend zunichte: „Aber wenn er aus dem Weg ist, bin ich frei!“
Ihr Gesicht wurde grau bei der Vorstellung, was er dann mit ihr machen würde. Aber solange sie mit ihm redete, geschah vielleicht nichts! Um nicht ans Ende denken zu müssen, versuchte sie das Gespräch in Gang zu halten, indem sie behauptete: „Die Polizisten werden dich finden!“
Er streckte den Arm nach ihr aus. Obwohl sie angewidert den Kopf abdrehte, konnte sie seiner Berührung nicht ausweichen. Zu ihrer Verwunderung strich er beinahe sanft mit den Fingerspitzen über ihre Wange, während er ihr lächelnd die Endgültigkeit erklärte: „Nein! Ich habe Moretti ganz genau studiert. Moretti ist eitel. Er denkt, er hat es mit einem einfachen Mörder zu tun! Er kommt allein, und er wird direkt in meine Falle hineinlaufen!“
Sie schüttelte die Furcht mit wildem Kopfschütteln ab. „Die anderen Beamten sind nicht so dumm, wie du denkst!“
Er lächelte siegessicher. „Kein Problem, Schwesterlein. Halt’ dich an diesem Strohhalm fest.“ Ganz plötzlich wickelte sich seine Hand um ihr Haar, und wie ein Adler auf seine Beute, stach sein Gesicht auf sie zu, als er raunend zischte: „Und wenn Moretti tot ist, überleg’ dir, was du tun willst! Wenn er aus dem Weg ist und du am Leben bleiben willst, nimmst du mich vielleicht doch, nicht wahr?“
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu und schwieg. Lieber sterbe ich!, dachte sie.
„Bring mich in deine Familie, und ich lasse dich - vielleicht - am Leben!“
Angeekelt warf Christina den Kopf zurück, um sich von ihm zu befreien. Sie fragte sich, was schlimmer war, jetzt und vielleicht schmerzhaft zu sterben oder mit der ständigen Angst vor dem Tod im Nacken leben zu müssen. Custer würde sie ständig bedrohen und ihr Angst einjagen, wenn er befürchten musste, dass sie schwach werden und zu reden beginnen würde!
Aber hatte sie mit diesem Ausweichmanöver nicht schon begonnen? Sie hätte auf dem Polizeiposten schreien und Custer mindestens zweimal verraten können und doch hatte sie es aus Angst ums eigene Leben nicht getan, obwohl es die ganze Zeit schon bedroht war! Worauf warte ich?, fragte sie sich düster. Auf ein Wunder? Aber sie wusste, dass sie auf Moretti wartete, sie hoffte, dass er ihnen folgen und sie retten würde!
Und wenn er tatsächlich, wie Morgan gesagt hatte, aus Eitelkeit allein kam und in seine Falle tappte? Sie spürte, wie ihre Hoffnung merklich sank. Lieber Gott!, betete sie, lass ihn mich finden und lass ihn ums Himmels Willen vorsichtig sein!
Plötzlich durchfuhr den großen Mann ein merklicher, harter Ruck, als sich sein Rückgrat straffte und sich sein Grinsen vertiefte, ehe er fast ungeduldig erklärte: „Ich muss los, Schwesterlein.“ Mit dem Finger strich er ihr boshaft grinsend unter dem Kinn hindurch. „Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass Arbeit auf mich wartet. Sei schön artig und erspare es dir, zu schreien, da unten würde dich ohnehin niemand hören“, warnte er sie.
Christina starrte ihm finster hinterher. Ihr Herz klopfte wild vor Angst, als sie sich zusammenriss und zu einem Entschluss durchrang. „Du verdammter Mörder! Du bist nichts, und du wirst nie jemand sein!“, schrie sie ihm mutig hinterher in der Hoffnung, Moretti mehr Zeit zu verschaffen und dass er sie vielleicht sogar hören und sie ihn würde warnen können.
Custer blieb stehen, erst nach ein paar Sekunden drehte er sich nach ihr um, als müsste er sich zurückhalten, sie nicht gleich umzubringen. Seine Augen funkelten im Halbdunkel wie glühende Kohlen. Im Versuch, ironisch zu lächeln, zog er die Lefzen hoch wie ein Hund, der die Zähne fletschte, gleichzeitig schüttelte er scheltend den Kopf. „Miserabler Versuch, dich sofort zu töten, Schwesterherz! Ich bin der Schlächter von Bern, schon vergessen?“
„Nichts anderes als ein hundsgemeiner Meuchelmörder ohne Herz!“, schrie sie ihm widersprechend zu, während ihr Blick bettelnd zur Decke hinauf wanderte: Bitte, lieber Gott, lass Moretti mich finden und retten!
„Das ist ein Irrtum! Ich habe versucht, deinen Bruder vor Moretti zu schützen! Der dämliche Esel hat soviel geschwafelt, dass er sich in Morettis Verdächtigenliste hineingeschnorrt hat!“, stieg er auf ihr Ablenkungsmanöver ein und kam wieder einen Schritt näher. Er wollte ihr in die Augen und die Bestätigung darin sehen, dass er etwas Gutes für sie getan hatte.
Doch Christina war weit davon entfernt, noch etwas Anständiges an ihm zu sehen. Sie fühlte nur noch tiefsten Hass auf den Mann, der ihr zwar blutsverwandt, aber ganz entschieden nicht gutgesinnt war. „Vielleicht ging es dir auch nur gegen den Strich, weil Moretti ihn und nicht dich als Schlächter von Bern verdächtigt hat! Vielleicht suchst du in deiner Eitelkeit ja nur Publicity!“
„Du redest zuviel!“, fauchte Custer sie beleidigt an, ehe er mit stolzgeschwellter Brust erklärte: „Der Schlächter von Bern bin ich, und niemand anderer!“
„Es gibt Leute, die suchen negative Beachtung, wenn sie sonst keine finden!“, spuckte sie ihm die hässlichen Worte entgegen.
Custers Miene verfärbte sich, sein Grinsen zerfiel und entstellte sich zu einer hässlichen Fratze. Mit einem weiteren Schritt war er wieder heran und zog auf. Wütend schlug er ihr mit dem Handrücken erneut ins Gesicht, dass ihr Kopf zurückflog, die Ketten rasselten und ihre Unterlippe wieder aufplatzte.
Ein dünner Faden Blut rann ihrem Kinn entlang, als sie den Kopf zurechtrückte und den missratenen Bruder zwischen ihren ins Gesicht hängenden Haaren wütend anfunkelte. „Ist das alles, was du zustande bringst? Eine wehrlose Frau zu schlagen?“, fauchte sie im Versuch, ihn rasend zu machen. Wenn schon sterben, dann sollte es wenigstens schnell geschehen. Und noch immer war die Hoffnung in ihr, Moretti damit warnen zu können.
Custer hatte seine Brauen so eng zusammengezogen, dass sie sich über der Nasenwurzel berührten, sein Gesicht war finster und bedrohlich, ebenso wie der eisige Klang seiner Stimme: „Genau wie dein Vater! Wenn du nicht endlich schweigst, wirst du auch enden wie er! Er hat mich bis zum Schluss zu beleidigen versucht, bis ich ihm sein verdammtes Herz herausgerissen habe!“
Christina schluckte und schwieg. Eine Gänsehaut rieselte ihr den Rücken hinab, die sie vor Angst und Kälte schütteln ließ.
Mit einem bösartigen Lächeln hängte er ihr eine Haarsträhne hinters Ohr zurück. „Schon besser, meine Teure. Aber jetzt muss ich wirklich los! Du hast mich schon viel zu lange aufgehalten! - Warte hier auf mich, ich habe noch einiges mit dir vor!“, versprach er ihr verhöhnend, bevor er ging.