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Moretti fand den abgestellten Wagen, den Custer direkt vor dem Eingang zur Baustelle so offensichtlich platziert hatte, dass er direkt darüber stolpern musste.

„Moretti ist soeben stehengeblieben!“, funkte Scherrer Sutter sofort aufgeregt an. Er stand seit längerer Zeit wieder hinter seinem Computerspezialisten Arno Gonzalo, um die Hetzjagd via Bildschirm und GPs zu verfolgen.

„Wo?“, keuchte Sutter nervös ins Handy.

„Das verstehe ich nicht. In der Münstergasse, 50 Meter vom Münstereingang entfernt!“

„Was will er denn da?“ Beunruhigt runzelte Sutter die Stirn. Sie befanden sich fast oben beim Kreisel, der im Ostring auf die Autobahn führte.

Scherrer zuckte ratlos die Schultern. „Keine Ahnung.“

„Dann finde es heraus, verdammt!“

Der Abteilungsleiter seufzte in sich hinein. Er versuchte ruhig zu bleiben, was er Sutter nachsah, der das in Anbetracht der angespannten Situation scheinbar nicht konnte. „Vielleicht will er sich am Kiosk einen Snack holen.“

„Moretti hat seit Beginn dieses Falls kaum mehr was gegessen!“, erinnerte ihn der Freund mit scharfer Härte.

Scherrer nickte. „Hast recht. Dann will er sich vielleicht die Beine vertreten und auf euch warten“, schlug er vor.

Sutters Augen funkelten vor Anspannung. „Dann funk’ ihn an und warn’ ihn vor! Und finde verdammt nochmal heraus, was er da will, wo er ist!“ Mit einem wütenden Knurren warf er Jordi auf dem Beifahrersitz einen beelendeten Blick zu, während er das Steuer mit verkrampften Händen umfasst hielt und den Streifenwagen quietschend um die Kurve herumriss.

Mit etwas Mühe schob Moretti die zwei mit Plastik bespannten Absperrgitter auseinander, zwischen denen ohnehin bereits eine schmale, aber für ihn zu enge Lücke klaffte, von der er annahm, dass Custer sie verursacht hatte. Er tat sich mit den gewichtigen Metallelementen etwas schwer, die rund um die Ausgrabungsstelle als Sichtschutz und zur Absturzsicherung wegen der Gaffer aufgestellt worden waren, gleichzeitig hielten sie aber auch herumstreunende Tiere vom Eindringen ab. Er keuchte schwer, als er es schließlich doch geschafft hatte, die Lücke soweit zu vergrößern, dass er sich mit eingezogenem Bauch hindurchschieben und auf den Platz treten konnte. Der Boden war aufgerissen und bestand aus Kies und Flusssand. Die Baustelle umfasste eine Fläche von annähernd 100 Quadratmetern, es war offensichtlich, dass hier Ausgrabungen getätigt wurden, aber weit und breit war kein Arbeiter zu sehen. An mehreren Stellen gab es Gruben, teilweise war altes, aus dem Boden ragendes Mauerwerk aus früheren Jahrhunderten sichtbar, daneben befanden sich die Schutthaufen des abgetragenen und herausgeschaufelten Materials.

Neugierig wanderte Moretti auf der Ausgrabungsstätte herum und äugte in jede Grube. Eine war besonders tief, Blocksteinstufen führten hinab und dort, wo der Gang eines Tunnels begann, sah er eine Gaslampe brennen. Custer!, dachte er. Vor Hochstimmung blieb ihm beinahe das Herz stehen. Er zog den Revolver aus dem Halfter, derweil er lauernd die Stufen hinunterstieg, und folgte dem beleuchteten Gang, der immer tiefer unter die Erde führte. Ab und zu zweigten weitere Gänge oder lediglich Alkoven ab, die nur einen oder mehrere Meter tief waren.

Mäders Worte fielen ihm ein, der allen Ernstes behauptet hatte, dass ihm Custer eins über den Schädel ziehen wollte, hätte er in der Basilika etwas gefunden oder sich nicht umgedreht! Hätte er ihn wirklich ermordet, wenn er sich nicht umgedreht hätte? Nach allem, was ihm inzwischen durch den Kopf schoss, ging Moretti davon aus. Wenn der Weg entdeckt worden wäre, wohin hätte er geführt? Oder woher? Und was hätten sie dort gefunden, wo er seinen Vater ermordet hatte? Das herausgerissene Herz? Madeleines Medaillon? Was würde er jetzt – und vor allem – wie viele würde er finden? Waren Hesse und Madeleine die einzigen? Oder gab es am Ende noch mehr? Ihm grauste vor dem Gedanken. Wer einmal im Affekt tötete, konnte süchtig danach werden! Custer hatte immer auf seinem Serienmörder bestanden! – War er tatsächlich zu einem geworden?

Er war noch keine 20 Schritte weit gekommen, als sich hinter einer der dunklen, etwas tieferen Abzweigungen ein Schatten bewegte.

„Hab’ ich’s doch gewusst!“, hörte er Custers frohlockende Stimme.

Seine Faust mit dem Revolver fuhr hoch, leider zuwenig schnell, als ein harter Gegenstand auf seinen Kopf niedersauste, der ihm beinahe den Schädel zertrümmerte, und es pechschwarze Nacht um ihn wurde.