Custer blickte mit Genugtuung vergnügt auf seinen Gefangenen hinab, der mit gespreizten Beinen und Stahlbändern an Hand- und Fußgelenken und alle Viere von sich gestreckt nun versuchte, auf seinen schwachen Beinen zu stehen. Die eisigen Stahlbänder um seine Gelenke schnitten in sein Fleisch und schmerzten, das Gewicht der Eisenketten wurde schwer. Seine Lider flatterten, als er endlich wieder zu sich kam und seine missliche Lage erkannte.
„Na, endlich aufgewacht?“, spottete Custer grinsend.
Morettis Kopf schmerzte. Es fühlte sich an, als arbeitete eine Turbine auf Hochtouren und presste ihm den Schädel auseinander. Als es ihm endlich gelang, die schweren Lider zu heben, stierte er Custer aus blutunterlaufenem Auge voller Hass an, ehe er sich mit einem kurzen Blick seiner Umgebung widmete, nur um festzustellen, dass seine Lage wirklich übel aussah. Die schweren Ketten an seinen Gelenken wurden über einen Kabelzug geführt, der von der Decke herabhing. Wenn Custer es darauf anlegte und ihn betätigte, würde er gespreizt und aufgehängt und sein Körper im Endeffekt auseinandergerissen werden! Ein kalter Schauder rieselte ihm den Rücken hinab, doch er wollte nicht daran denken! Seine Jungs wussten, dass er zum Münster wollte! Sie würden ihn suchen und... Aber er war nicht dort! Er war irgendwo weit unter der Erde und konnte keinen Finger krumm machen, ohne sich wehzutun!
Missmutig stellte er fest, dass Custer voll ausgerüstet war. An eisernen Ringen waren seine diversen Werkzeuge aufgehängt, die er wohl bei seinem Vater und der toten Madeleine angewendet hatte: Mit einem Nagelbrett zugeschlagen, hatte er seinen Opfern richtiggehend Fleischstücke aus dem Körper gerissen und ihnen diese vielen kleinen Wunden zugefügt, die ausgesehen hatten, als hätte sie ein Igel gepiekst. Zumindest den alten von Hesse hatte er sicher mit dem Elektroschocker gepiesackt, um sich an seinen Qualen und Schreien zu ergötzen; die verschiedenartigsten Messer, von denen eines größer war als das andere, hatte er ihnen so sachkundig ins Fleisch gestoßen, dass sie daran langsam verblutet, aber nicht gestorben waren; und mit dem scharfen Skalpell hatte er ihnen schließlich den Brustkorb geöffnet und bei seinem Vater zugesehen, wie das Herz darunter noch schlug!
Und..., Moretti schluckte hart, ...drüben in der Ecke stand ein elektrischer Stuhl, Marke Eigenbau, und in der Hand hielt Custer... eines dieser verdammten Messer!
„Sie sollten bei Ihren Ermittlungen nicht soviel Lärm machen, Moretti! Ich habe Sie ja 70 Meter gegen den Wind gehört!“, lenkte ihn Custer spottend von seinen düsteren Beobachtungen ab. Er tigerte um ihn herum wie ein wildes Tier in seinem Käfig.
„Leider wahr“, seufzte Moretti. Er war wie ein Elefant in den Porzellanladen hineingetrampelt! Ein Anfängerfehler! Und was für einer! In seiner Hektik, Christina von Lanthen rechtzeitig zu finden, war er dem Killer unbesonnen voll in die Fänge gelaufen! Aber eigentlich kam er ihm gar nicht vor wie ein selbstsicherer Mörder, der imstande war, seine Opfer auf so bestialische Weise zu töten. Wie man sich in manchen Menschen doch täuschen konnte! „Machen Sie mich los, Custer!“, stieß er befehlsgewohnt aus, um ihn zu irritieren, ehe er hinzufügte: „Ich bin nicht an Ihnen interessiert! Alles, was ich will, ist Christina von Lanthen!“
„Nicht an mir interessiert?“ Spottend hob Morgan eine Augenbraue in die Höhe. Er war verwundert und beleidigt zugleich.
„Nicht an erster Stelle“, relativierte Moretti mit einem kleinen Schulterzucken, so gut es ihm mit erhobenen Armen möglich war.
Custer verzog den Mund zu einem zynischen Grinsen. „Nicht zu fassen, Moretti! Ich hatte angenommen, den Mörder zu fassen hätte erste Priorität!“
Matt schüttelte er den Schädel, jedoch nur andeutungsweise, um seine Kopfschmerzen nicht noch zu verstärken. „Jetzt nicht mehr!“, brummte er. Er spielte auf Zeit. Wenn Lengacher seine Nachricht nicht sofort weitergeleitet hatte, dann wusste niemand seiner Kollegen Bescheid und wo er sich befand, doch er hegte eine minimale Hoffnung... Aber selbst wenn sie die Nachricht erhielten, würden sie ihn nicht im Münster finden! Und seinen Wagen vermutlich auch nicht! So gerissen wie Custer war, würde er sicher auch daran gedacht und ihn weggestellt oder sogar entsorgt haben! Die Frage war, wie lange er bewusstlos gewesen war. Waren es Stunden oder Minuten gewesen? Custer hatte ihm fast den Schädel eingeschlagen, jedenfalls fühlte es sich an, als hätte er eine klaffende Wunde davongetragen. Doch das war im Moment sein geringstes Problem. Ob sie sein Handy hier unter den Tonnen von Asphalt und Beton würden orten können? Dachten sie überhaupt an diese Möglichkeit? Und wenn ja – rechtzeitig?
„Alles, was ich will, ist Christina!“, wiederholte er mit Nachdruck: „Seien Sie kein Narr, Morgan! Sie legen doch nicht Ihre eigene Schwester um!“ Doch ein Blick in seine dunklen Augen belehrte ihn, gepaart mit der Erinnerung an den bestialischen Mord des alten Vaters, eines Besseren! „Sie werden es tun!“, seufzte Moretti.
Custer funkelte ihn düster an. „Er hätte mich nur in die Familie aufnehmen müssen, der alte Narr!“
„Nun, ich denke nicht, dass das unter den gegebenen Umständen jetzt noch möglich ist.“
„Wie dem auch sei! Ich werde schon eine Lösung finden!“, knurrte er schulterzuckend. Er gab vor, als sei es ihm gleichgültig.
Moretti versuchte weiter Zeit zu gewinnen. Solange er mit ihm redete, konnte er ihn hoffentlich davon abhalten, ihm wehzutun und die Frist für seine Kollegen verlängern, ihn zu suchen. „Warum haben Sie die Familienkiste gestohlen?“
Morgan warf ihm einen schmalen Blick zu und grinste. „Wie kamen Sie dahinter?“
Er zuckte mit den Achseln, ehe er antwortete. Jede Sekunde konnte hilfreich sein! „Sie sind ein Familienmitglied. Vielleicht haben das die Hunde gerochen. Wie haben Sie es angestellt, um an den Kötern vorbeizukommen?“
Custer machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ist doch egal! Alles was ich wollte, war das Geld aus der Familienkiste!“
Moretti nickte. „Dessen bin ich überzeugt. Sie wollten es sich aneignen, als die Familie für Sie unerreichbar wurde!“
„Sie sollten mir wenigstens etwas von ihrem Leben abgeben!“, fauchte Custer gehässig.
Seufzend schüttelte er über die Unzulänglichkeit des Mannes den Kopf. „Sie sind ein Idiot, Morgan! Als solchen hätte ich Sie zwar wirklich nicht eingeschätzt, aber Sie sind einer! - Was ist im Weinberg passiert?“
Plötzlich saßen bei Custer die Antworten sehr locker. Irgendwie war er froh, dass sich jemand um ihn kümmerte und sich für ihn interessierte. Es war, als hätte Moretti ein Ventil aufgedreht, das ihn zum Reden brachte, um sich zu erleichtern.
Oder zu rechtfertigen!, dachte dieser.
„Ich habe mich ihm vorgestellt: Mein Name ist Morgan Custer. ‚Kenne ich Sie?’, hat er gefragt. Ich habe genickt und geantwortet.“
Plötzlich befand er sich wieder im Weinberg, an jenem denkwürdigen Tag, der sein Leben auf einen Schlag erneut veränderte. Er sah sich seinem Vater gegenüber, vergaß, dass er mit Moretti redete und es ihm erzählte. Es war, als fühlte er den sanften Wind über seine Haut streichen, der an seinem wasserstoffblonden Haar und seinem karierten Hemd zerrte, er fühlte die Wärme der Sonne auf seinen Wangen und die Hitze, die ihn befiel, als sich sein Vater widersetzte.
„Meredith Blake war meine Mutter. Steve Custer war mein Stiefvater...“ Völlig unbeabsichtigt begann er einen Monolog. Seine Augen tauchten sichtbar hinab in ihren Höhlen, seine Gedanken versanken in den Erinnerungen. Er ließ den Arm mit dem Messer sinken. Er befand sich August Heinrich von Hesse gegenüber, seinem leiblichen Vater! „Ich weiß nicht, ob er sich an ihren Namen erinnerte, sein Gesicht blieb völlig ausdruckslos. Ich sagte: ‚Ich bin dein Sohn!’ Und er sagte: ‚Ich habe schon einen Sohn! Sie mögen vielleicht ein guter Schauspieler sein, aber nie im Leben mein eigen Fleisch und Blut! Tut mir leid, mein Junge!’“