Custers Wagen und Morettis Dienstfahrzeug waren weg, aber das spielte keine Rolle. Wichtig war lediglich, dass sie ihren Standort hatten ermitteln können, ehe sie weggefahren worden waren. Jetzt stand Sutter mit seinen Leuten draußen vor den ausgegrabenen Schächten die Absperrgitter hatten sie teilweise entfernt, um den Zugriff zu erleichtern, und wartete ungeduldig auf die Ankunft der Sondereinheit Enzian, die in der Erstürmung von Gebäuden und Geiselnahmen mehr Erfahrung hatte als seine eigenen Leute. Obwohl die Fahrt vom Polizeipräsidium bis hierher zur Umgebung des Münsters nur 8 Minuten dauerte und die Polizisten der Spezialeinheit lediglich weitere 5 Minuten benötigt hatten, bis sie einsatzbereit gewesen waren, empfanden er und sein Team die Wartezeit als viel viel länger und beinahe unerträglich.
Doch nun waren sie endlich da! Wie Ameisen wuselten die schwerbewaffneten Spezialisten in ihren schwarzen Kampfmonturen, Helmen, Nachtsichtgeräten und Sauerstoffmasken aus ihren Einsatzfahrzeugen und stellten sich mit angelegten Gewehren um ihn herum auf, um seine Anweisungen in Empfang zu nehmen.
Mit ernster Miene blickte er in die Runde auf. Sein Herz klopfte vor Nervosität und Angst, die Zeit würde trotz allem nicht reichen. Die Begrüßung fiel kurz und knapp aus, ehe er ihnen erklärte: „Es gibt hier ein ganzes Netz von Katakomben und niemand weiß, ob oder was einsturzverdächtig ist! Schon das allein bedarf allerhöchster Vorsicht! Morgan Custer ist der Schlächter von Bern! Er befindet sich mit unserem Moretti und einer weiblichen Geisel irgendwo da unten! Also seid vorsichtig! Er könnte irgendwo auf uns lauern! Wir müssen davon ausgehen, dass er bewaffnet ist und auf unser Eindringen negativ reagieren wird! Vielleicht gibt es auch irgendwelche Kameras oder eine Art Alarmanlage, die ihn warnen könnten! Wir wissen absolut nicht, was passiert, wenn er feststellt, dass wir ihm auf den Fersen sind! Es ist möglich, dass er versuchen wird, sich und die Geiseln zusammen mit uns in die Luft zu sprengen oder sonst was! An Abartigkeit ist der Scheißkerl ja nicht zu übertreffen! Also achtet auf alles, was sich uns in den Weg stellt und uns in Gefahr bringen könnte! Für den Zugriff, wenn wir sie gefunden haben, ist Dezernatschef Dani Leuthart zuständig – außer die Geiseln befinden sich in einer lebensbedrohlichen Lage! Geschossen wird aber erst, wenn wir Moretti und Christina von Lanthen gefunden haben! – Und nur auf meinen oder Leutharts ausdrücklichen Befehl! Und noch was! Wir brauchen den Schlächter lebend! Der Scheißkerl darf nicht mit einem Gnadenschuss davonkommen, verstanden?“
Die Männer der Sondereinheit nickten zustimmend: „Okay.“ „Ist gut.“ „Aye, Sir!“
Mit Erleichterung stellte Sutter fest, dass sie seine Meinung teilten. Ein Gnadenschuss wäre für das Schwein viel zu mild gewesen! Er renkte sich fast den Arm aus, als er mit Wucht auf den ersten Schacht deutete, um ihnen den Befehl zum Ausschwärmen zu erteilen. „Also los, durchsucht die Katakomben!“
Die Spezialisten des Enzian schwärmten auseinander und drangen vorsichtig auf den Ausgrabungsplatz ein, um ihn auf Fallen oder Stolperdrähte zu inspizieren, zudem war nicht ausgeschlossen, dass Custer ihre Ankunft bereits bemerkt hatte und irgendwo in einem der Schächte mit einer Maschinenpistole auf sie lauerte. Obwohl die Zeit drängte, galt die Regel, vorab die Sicherheit der eigenen Leute zu gewährleisten. Von Hesse und den Kriminalisten hämmerte das Herz vor Angst und Ungeduld schmerzhaft gegen die Rippen. Der Druck wurde erst von ihnen genommen, als die Spezialisten unter Tag verschwanden. Von den diversen ausgehobenen Schächten gab es zwei, in die sie hinabsteigen konnten, bevor sich die Gänge in Dutzende von Tunnel und Alkoven verzweigten. Sie teilten sich in zwei Gruppen auf. Mit ihren Nachtsichtgeräten benötigten sie kein Licht, so dass sie nicht Gefahr liefen, sich dadurch zu verraten. Geduckt und so geräuschlos aber so schnell wie möglich, huschten sie durch die dunklen Gänge, von denen die meisten irgendwann in Sackgassen endeten oder eingestürzt waren.
Während das eine Team unter Dezernatschef Daniel Leuthart über die Blocksteinstufen in den ersten Tunnel eindrang, stieg Sutter mit seinen Leuten hinter dem anderen Team der Spezialeinheit über einen weiteren Schacht ein, der sich mehr als 80 Meter vom ersten entfernt befand und möglicherweise früher als Fluchtweg gedient hatte.
Diesmal brannte kein Licht. In den Metallständern hingen Gaslampen, aber sie waren nicht entzündet worden. Vermutlich hatte Custer diesen Gang noch nie benutzt. Aber er war stabil mit Holzbalken, Zement und Eisen abgestützt, wohingegen andernorts die alten Gemäuer mit ihren Rundbogen selbst noch intakt waren. Es gab mehrere Stolperdrähte, auch Kameras, die die Spezialisten überwinden oder unschädlich machen mussten. Mehrere Gänge waren extrem einsturzgefährdet und ließen ein Durchschreiten schon aus diesem Grunde gar nicht zu, wodurch sie mit gutem Gewissen davon ausgehen konnten, dass Custer mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit einen der sichereren Gänge für sein umtriebiges Nachtleben benutzt haben musste. Trotz des Zeitdrucks kamen sie nur langsam voran. Sie mussten sich Meter für Meter vorarbeiten, um gleichzeitig leise und doch hastig die Katakomben zu durchforschen, ohne auf sich aufmerksam zu machen.
Während sich Leutharts Team über die längere Strecke vorarbeitete und Scherrer ihnen mit von Hesse im Schlepp etwas langsamer folgte, fanden Sutters Leute in einer weiteren Katakombe ihren Chef und Custer. Der Raum war fast wie ein Atrium aus dem Boden gehauen, mit einem Gang um einen Teil herum, von dem aus sie durch fenstergroße Öffnungen zu den beiden hineinsehen konnten. Erschrocken riss sich Sutter zurück und presste, die angewinkelten Arme, die die Pistole mit beiden Händen umklammert hielten, an die Brust gedrückt, seinen Rücken an die Steinmauer. Er fühlte die Feuchtigkeit seines Schweißes mit der Kälte des jahrhundertealten Gemäuers durch sein Hemd und die Uniformjacke bis auf die Haut dringen. Ein kalter Schauder rann ihm über den Leib. Mit heftigem Kopfschütteln machte er seine Leute darauf aufmerksam, dass sie nicht mehr allein waren. Mit dem Finger an die Lippen tippend, mahnte er sie zu größtmöglicher Ruhe und bedeutete ihnen, sich vorsichtig zu verteilen, als Custer die Worte beim Sprechen wie Brocken auf den Boden spie:
„Abspeisen wollte er mich! Mich um mein Anrecht an der Familie betrügen!“, hörten sie ihn gerade noch sagen.
Und dann mit Erleichterung Morettis Stimme, Gott sei Dank!: „Eine Tötung im Affekt! Das hätte noch nicht das Ende bedeutet! Aber warum haben Sie ihn derart zugerichtet?“
Custers Gesicht näherte sich bedrohlich dem seinen, er bedachte ihn mit einem triumphierenden Blick. „Weil er gelacht hat! Ausgelacht hat er mich! Was ich mir eigentlich einbilde, zu seiner Familie gehören zu wollen! ‚Du bist ein Nichts! Ein Niemand! Dich hätte es gar nicht geben sollen! Ich habe deiner Mutter Geld geschickt, damit sie dich wegmachen soll! Doch wie ich sehe, hat sie es nicht getan! Weiß der Henker, warum sie dich behalten hat! Hat sie dich geschickt, um meinen guten Namen zu ruinieren?’“
Wie Schatten huschten die Männer der Sondereinheit geduckt der Mauer entlang, die sie von Custer und Moretti trennte, und verschanzten sich hinter den meterdicken Säulen, die das Gewicht der Decke trugen. Angespannt horchten sie darauf, was geschah und warteten auf Sutters Befehl.
In Custers Mimik widerspiegelten sich die Gefühle, die er erlebt haben musste, als er mit seinem Vater sprach. Erst blickte er verblüfft über diesen Affront, dann wütend, bevor er mit ebensolcher Stimme fortfuhr: „Nein! Meredith Blake, meine Mutter, ist tot! Sie hat es mir nie gesagt! Du verdammter Dreckskerl! Du hast sie mit einem Balg sitzen gelassen und besitzt noch die Gemeinheit, dich über eine Tote lustig zu machen!“
„Wie ist sie gestorben?“, fragte Moretti und holte ihn wieder in die Gegenwart zurück.
Custer schüttelte vehement den Kopf. „Ich habe sie nicht umgebracht, falls Sie das meinen!“, fauchte er ihn mit blitzenden Augen giftig an.
„Was ist dann passiert?“
„Ich sagte doch, ich habe mein Erbe eingefordert! Und meinen rechtmäßigen Platz in der Familie!“
„Aha!“, nickte Moretti begreifend.
„Was heißt hier aha? Dieses Recht steht mir als sein Sohn doch zu! Er hätte nur ja zu sagen brauchen!“
„Und deshalb haben Sie ihn umgebracht?“
„Weil er gelacht hat! Er hat gelacht wie ein Idiot!“
Moretti nickte, wie um es ihm zu bestätigen. Es spielte ihm keine Rolle, wenn er sich bei seiner Feststellung wiederholte, Hauptsache, er konnte weiter Zeit schinden: „Da haben Sie ihn umgebracht.“
Diesmal schüttelte er mit einem maliziösen Lächeln den Kopf. „Nicht sofort wie Sie wissen. Wie Sie sehen, hatte ich mich auf jede Antwort vorbereitet...“
„Dann haben Sie ihn hierher gebracht und umgebracht? Als Beamter wissen Sie, das war vorsätzlicher Mord, Custer! Und noch dazu mit dieser bestialischen Brutalität! Dafür kriegen Sie lebenslänglich mit anschließender Verwahrung!“
Spöttisch, weil Moretti noch immer nicht wusste, dass er nie im Leben ein Polizist gewesen war, schürzte er die Lippen und zog die Brauen belustigt zusammen. Das Geplänkel bereitete ihm Vergnügen, aber er hielt es nicht für nötig, ihn über seinen wahren Berufsstand aufzuklären. Sollte der ruhig glauben, dass er Polizist war, das klang besser als Fleischer. Seine Stimme klang zynisch, als er ihm antwortete: „Und wer sollte es mir anhängen können, Moretti? Sie sind der Beste!“ Um seinen Mund spielte ein gemeines Grinsen: „Oder soll ich besser sagen: Sie waren es? Denn trotzdem sind Sie mir in die Falle gegangen! Sie waren nicht gut genug! Keiner von Ihren Jungs ist dafür gut genug!“
Moretti schauderte und schluckte hart. An diese Abscheulichkeit wagte er gar nicht zu denken! Aber noch hatte er Atem genug, um ihm Paroli zu bieten: „Ich habe Sie doch gefunden, oder nicht?“
Custer tat es mit einem gleichgültigen Wink ab, dennoch war er neugierig. Er legte das Messer auf einen kleinen Tisch neben sich und griff stattdessen nach dem Metallrohr, das darauf lag. „Wann haben Sie es herausgefunden?“, fragte er ihn, während er weiter um ihn herum tigerte, derweil er sich mit der Metallstange rhythmisch immer wieder in die eigene Handfläche schlug.
Moretti vermutete, dass er ihm damit noch mehr Angst einzujagen versuchte. „Oh...“ Er zog die Antwort in die Länge; er war sich nicht völlig im Klaren, was genau er auf diese Frage antworten sollte. Eigentlich gar nicht, dachte er. Du allein hast dich verraten! Allerdings nützt mir das jetzt herzlich wenig! Er hielt es für klug, in Anbetracht der Unsicherheit seines Peinigers erst einmal auf selbstsicher und Hohn zu machen und auf Zeit zu spielen. Infolgedessen verzog er seine zerplatzten Lippen zu einem Lächeln und zuckte, so gut es unter den gegebenen Umständen mit hochgebundenen Händen ging, die Schultern. „Das war eigentlich eine meiner leichteren Übungen!“, behauptete er, ohne mit der Wimper zu zucken. Danach machte er eine bedeutsame Pause, um sein Gegenüber zu verunsichern.
Custer blieb wie angewurzelt stehen, zog den Kopf zwischen den schmalen Schultern ein und starrte den Gefangenen wie von Sinnen ungläubig an. Er sah aus wie ein Hund, der sich duckt, aber sich gleichzeitig zum Sprung bereit macht.
Moretti versuchte seine Stimme so normal wie möglich klingen zu lassen: „Die Schwierigkeit lag hauptsächlich darin, Sie nicht merken zu lassen, dass Sutter, Scherrer und ich über Sie schon lange Bescheid wussten“, log er tapfer weiter. Und er log gut.
Custer war für kurze Zeit am Ende seines Lateins und wusste nicht, wie er nun reagieren sollte. „Und wie lange wussten Sie es schon?“ brachte er mit Mühe krächzend über die spröden Lippen.
Moretti versuchte weiterhin den Heiteren zu spielen: „Oh“, wiederholte er und kostete sein Lieblingswort erneut lange aus, „nicht von Anfang an. Wenngleich es uns beiden schon ziemlich merkwürdig vorkam, dass wir von Seiten Ihrer Behörde plötzlich und ohne Anforderung Rückenhilfe bekamen. – Wann haben Sie es denn gemerkt, dass ich es weiß, Custer?“, drehte er den Spieß um.
Dieser war freimütig genug, um ihm zu antworten: „Sie hatten nie und nimmer eine Ahnung, Moretti!“, zischte er gefährlich leise. Er brachte sein Gesicht neben seins, während er vor ihm stehenblieb.
Die Männer der Sondereinheit verharrten angespannt, während Sutter vor Angst um Moretti fast nicht mehr atmen konnte; sie waren bereit, bei Bedarf im Notfall sofort zu handeln!
Morettis Herz begann ein paar Takte schneller zu schlagen. Er erwartete jeden Moment, dass Custer ausrasten und ihm mit seiner Brechstange wieder eins überziehen würde. Trotzdem nickte er tapfer, um seine Behauptung zu untermauern: „Doch, natürlich! In Ihrer blondschopfigen Eitelkeit ist es Ihnen nur nicht aufgefallen und Sie haben gar nicht gemerkt, dass wir Ihnen auf der Spur waren!“, witzelte er, doch diesmal kam er bei Custer gar nicht gut an.
Der geprügelte Hund sprang und landete seine knochige Faust erneut mitten in seinem bereits malträtierten Gesicht. Moretti brüllte gepeinigt auf, als die geballte Kraft in seinem Schädel explodierte. Sein Kopf flog nach hinten, aus der gebrochenen Nase spritzte Blut und sein rechtes Auge schwoll augenblicklich unter der ebenfalls aufgeplatzten Braue zu. Sein ganzer Körper wurde nach rückwärts gerissen, und hätten ihn nicht die Ketten daran gehindert, wäre er gewiss ein paar Meter weit geflogen. Stattdessen zerrissen ihm die Wucht und die Handschellen fast die Handgelenke und die Sehnen an den Schultern. Als er wieder einigermaßen stehen konnte, bot er ein Bild des Erbarmens. Die Unterlippe hing schlaff herab, das ganze Gesicht fühlte sich teigig an und brannte, er war blutverschmiert, und seine Haut leuchtete grün und blau wie eines jener Kunstobjekte, die er in der Abtei der Stiftskirche gesehen hatte.
„Das ist nicht wahr! Sie lügen, Moretti! Sie sollten mich nicht zu belügen versuchen!“, knurrte Custers Gesicht dicht vor seinem einigermaßen noch durchblickenden linken Auge. Seine Miene war verzerrt vor Wut und Hass.
Moretti nickte beschwichtigend. „Ich werd’s mir merken“, keuchte er und spuckte einen Faden Blut auf den Boden.
Plötzlich lächelte Custer schmal vor sichtlicher Enttäuschung. „Ich hatte mir einen ebenbürtigen Gegner ausgesucht, aber... Sie sind nicht so gut wie ich dachte!“, behauptete er.
Sutter war vor Entsetzen fast das Herz stehengeblieben, als Custer ausgerastet war, aber nun stellte er mit Erleichterung fest, dass der Schlächter im Moment eher das Gespräch suchte, als sein scheußliches Werk zu beginnen. Allmählich, und je länger der Wortwechsel dauerte, desto mehr begann er sich zu entspannen. Er entwickelte sich sogar zu einem beinahe witzigen Geplänkel, wie sich Custer gegen Morettis Schlagfertigkeit zu winden versuchte, um die Oberhand zu behalten, und ihnen dabei gleichzeitig seine Motive lieferte.
„Wenn ich Sie nicht auf meine Fährte gehoben hätte, hätten Sie mich nie gefunden! Noch nicht mal verdächtigt!“, behauptete er gerade.
„Ich habe mich schon gefragt, warum Sie es getan haben“, schnaufte Moretti, der froh war, dass Custer den Gesprächsfaden wieder aufnahm und ihn nicht weiter traktierte.
„Weil es mich wunder nahm, ob Sie es herausfinden können.“
„Nun, das habe ich.“ Als er mit seinem zerschlagenen Gesicht zu lächeln versuchte, sah die entstehende Fratze richtig schlimm aus.
Custer nickte gleichgültig. „Ja, diese Wette habe ich verloren. – Und um Ihnen zu beweisen, dass ich der Bessere bin! Ich wollte Sie genau hier haben, wo Sie jetzt sind!“
„Um mich umzubringen?“
„Das ist nur der Nebeneffekt. Wenn man es einmal getan hat, macht es einem nichts mehr aus! Verstehen Sie mich nicht falsch, Moretti: Persönlich habe ich nichts gegen Sie! Aber Sie werden ja sicher verstehen, dass ich Sie nach all dem, was Sie wissen und ich Ihnen erzählt habe, nicht am Leben lassen kann?“
Moretti nickte. Der Schweiß brach ihm aus. Womit sollte er denn noch Zeit herausschinden können? „So wie Ihre Schwester?“, fragte er.
Custers Augen verengten sich zu schmalen Spalten. Moretti fühlte sich erleichtert aufatmen, als er auf seine neue Ebene einlenkte und weiter mit ihm redete: „Eigentlich sollte es nicht soweit kommen! Wenn Christina nicht dahergekommen wäre...“
„Das würde mich interessieren! Weshalb kam sie überhaupt her?“
Ungerührt zuckte Custer die Achseln, als wäre ihm dieser Vorfall absolut gleichgültig. „Weil sie in Vaters Unterlagen Beweise über meine Existenz gefunden hat! Damit konnte ich nicht rechnen, dass der alte Sack seine Seitensprünge auch noch für die Nachwelt dokumentiert!“, spuckte er wütend aus.
Moretti pflichtete ihm verständnisvoll nickend bei.
„Sie drohte damit, es Ihnen zu sagen!“
„Und das konnten Sie natürlich nicht zulassen.“
„Natürlich nicht!“, fauchte er.
Moretti lächelte spöttisch: „Das war Ihr Fehler!“
Wieder fuhr Custers Gesicht auf seines zu, als wollte er ihn damit erschlagen: „Nein, Ihrer! Denn jetzt gibt es nur noch uns zwei! Und keiner von Ihren dämlichen Bullen wird es je herausfinden!“
Das haben wir schon!, dachte Sutter trotz Genugtuung bitter. Den Rücken dicht an die Säule gedrückt, fasste er in Erwartung des Kommenden seine Waffe fester. Er sah, dass seine und die Leute vom Enzian nur auf seinen Befehl zum Stürmen warteten.
„Wenn Christina nicht gekommen wäre, hätte ich aufgehört, und Sie hätten mich nie gefunden!“, behauptete Custer in dem Moment.
„Pah!“, stieß Moretti abfällig aus. „Das glauben Sie doch wohl selbst nicht, oder? Sie sind ein Raubtier, Morgan! Eine Bestie hört nicht auf zu töten, wenn sie erst mal Blut geleckt hat!“
Mit tödlicher Ruhe schüttelte Custer den Kopf. „Sie irren sich in mir, Moretti! Ich habe nur den Alten aus Lust getötet, weil er mich so wütend gemacht hat!“
„Und wie war’s bei Melanie? Ich bin sicher, da fiel es Ihnen sogar noch leichter! Und dann der Blutrausch, der Sie aufgegeilt und dazu gebracht hat, eine Leiche zu schänden!“
„Sie haben ja keine Ahnung!“
Moretti nickte. „Ich habe schon in viele Abgründe gesehen, Custer! Ihrer ist abscheulich!“
„Was Sie nicht sagen!“
„Glauben Sie mir, ich habe recht!“
„Sie haben ja keine Ahnung!“
„Sie hätten es besser machen können! Hesse hat jedes seiner Kinder anerkannt.“
Custer starrte ihn perplex an. „Das ist nicht wahr! Das sagen Sie nur, um mir ein schlechtes Gewissen zu implantieren!“
Als Moretti daraufhin schwieg, hatte er seine Antwort. Fast verzweifelt fragte er, wohl um sich zu rechtfertigen: „Warum hat er das getan, Moretti? Warum hat er sich töten lassen, anstatt mir das zu geben, was ich wollte?“
„Er hat wohl zu spät erkannt, zu was Sie fähig sein können. Oder vielleicht wollte er seine Kinder vor Ihnen schützen!“
„Vor mir schützen?“ Custer lachte hässlich in Form eines Krampfanfalls. „Als wenn er das gekonnt hätte! Er musste damit rechnen, dass es noch nicht vorbei ist!“
„Ich bin sicher, er wusste, dass Sie enttarnt werden würden.“
„Nichts hat er gewusst!“, fauchte er grob.
„Ja ja, schon gut“, beschwichtige Moretti ungemütlich, „es ist Ihre Meinung. Er kann dazu ja leider nichts mehr sagen!“
In Custers Augen glitzerte es vor unterdrückter Wut, weil er begriff, dass Moretti es darauf anlegte, ihn aus Wut sofort zu töten! „Sie gehen mir mit Ihrem Gefasel allmählich auf den Wecker! Fangen wir also endlich damit an, Sie zum Schweigen zu bringen!“, fauchte er.
Moretti brach wieder der kalte Angstschweiß aus. „Aber es muss ja nicht unbedingt mit so brachialer Gewalt sein, oder?“, fragte er mit verdrehten Augen.
Custers Grinsen verwandelte sich in eine teuflische Fratze. „Angst, Moretti?“
Dieser nickte. „Sie würden mir ja doch nicht glauben, wenn ich lüge.“
„Da haben Sie verdammt recht!“, mokierte er sich. „Es ist eine Freude, mit Ihnen zu plaudern!“
Dann tu es bitte noch recht lange!, betete Moretti hoffnungsvoll.
Custer zog den linken Mundwinkel genüsslich nach oben. „Warum sehen Sie sich dauernd um, Moretti? Hegen Sie etwa immer noch die unsinnige Hoffnung, dass Ihre Kollegen Sie aufspüren könnten?“, erkundigte er sich böse.
Dieser nickte. „Warum nicht? Sie wissen, wo ich bin!“ Seine Aufrichtigkeit war geradezu entwaffnend, aber es hatte keinen Sinn, sich tapferer zu stellen, als er war. Außerdem hoffte er, Custer würde ihn weiter verhöhnen und er somit noch einmal etwas Zeit gewinnen.
Den Männern lief vor Anspannung der Schweiß in die Augen. Wann endlich gab Sutter den Befehl zum Schuss?
Wann endlich finden sie Christina von Lanthen?, haderte Sutter, dem die Zeit allmählich zwischen den Fingern zerrann, erzürnt mit dem Höchsten. Hoffentlich trafen die Scharfschützen kein lebenswichtiges Organ! Er wollte Custer lebend haben – und zur Not gedachte er dessen Folterinstrumente auch an ihm zu verwenden, um Christinas Aufenthaltsort aus ihm herauszupressen!