In der Zwischenzeit war Leutharts Team im vorderen Gang so tief in das Tunnelsystem eingedrungen, dass sie in der wie eine Gruft aussehenden Alkoven auf Christina von Lanthen stießen. Mit nach oben gezogenen Armen waren ihre gefesselten Händen an einer überdimensionalen Metallkette festgemacht, die vom Gewölbe herunter ragte. Sie hörte das Schnaufen der Männer, die in ihren Atemmasken durch den Tunnel hasteten, das Trampeln der schweren Schuhe hallte von den Wänden wider. Die Kette rasselte, als sie sich bewegte und dabei wie ein Blatt im Wind schwankte, weil sie kaum noch auf ihren wackeligen Beinen stehen konnte. Die kleine, zierliche Frau sah abscheulich aus; ihre linke Gesichtshälfte war von der Schläfe bis zum Kinn durch den Schlag mit dem Siegelring mit eingetrocknetem Blut verschmiert. Die langen Haare hingen ihr strähnig über den Augen hinunter und klebten stellenweise am Blut fest. Durch die abnormale Stellung spürte sie ihre Arme und Hände nicht mehr.
„Geisel gesichtet!“, hörte Christina eine blecherne Stimme raunen, bevor sie den ersten Polizisten in der Nische des Tunnels halbwegs zu Gesicht bekam. Zwei Gewehrläufe schwenkten um die Ecken hin und her, doch bis auf sie war die Gruft leer. Als sie die Männer in ihren Schutzanzügen und Gasmasken mit angelegten Gewehren und Panzerfäusten sah, drohten ihre Beine vor Erleichterung erst recht nachzugeben. Sie warf den Kopf zurück, um die Haare aus dem Gesicht zu kriegen und besser sehen zu können.
„Gesichert!“, meldete der erste, „Gesichert!“, der zweite, bevor das fünf Mann starke Team sich verteilte. Die ersten beiden durchquerten den Raum, und sicherten die nächsten Abgänge von zwei Tunneln, während Korporal Dani Leuthart auf sie zueilte und mit dem Messer das Seil aufschnitt, mit dem sie an die Kette gefesselt war. Vor lauter Kraftlosigkeit fiel ihm Christina von Lanthen entgegen, und er kam gerade rechtzeitig, um die Arme auszustrecken und sie aufzufangen, als Scherrer und Frank August hinter dem Team hereinrannten.
„Frank?“, fragte Christina ungläubig.
„Sollen wir Sutter Bescheid sagen?“, erkundigte sich einer, aber Leuthart schüttelte heftig den Kopf. Er befürchtete, je nach Standort des zweiten Trupps, könnte Custer die Mitteilung hören und gewarnt sein! Er wollte nicht schuld sein, wenn die Überrumpelung, aus welchem Grund auch immer, nicht gelang! „Auf keinen Fall! Lasst eure Funkgeräte stecken!“, zischte er befehlsgewohnt. „Wir nähern uns von dieser Seite und kesseln den Scheißkerl ein!“
Frank August wusste, dass er keinen Laut von sich geben durfte, aber er konnte nicht anders, er musste seiner Freude über das Wiedersehen Luft verschaffen: „Christina!“, rief er halblaut. Trotz seines Versprechens hielt ihn nichts mehr hinter Scherrer zurück. Er eilte an ihm vorbei und rannte seiner Schwester entgegen.
„Frank!“ Aufschluchzend warf sie sich von Leutharts Armen in die seinen. „Er ist unser Bruder!“, schluchzte sie, als könnte sie nicht verstehen, dass es ihr eigen Fleisch und Blut gewesen war, der so etwas Grässliches getan hatte.
Frank August legte ihr den Mantel um die schmalen Schultern, um sie zu wärmen. Er spürte, wie sie vor Kälte und nachhaltigem Schock zitterte. Liebevoll hielt er sie mit beiden Armen umschlossen, küsste sie auf die Stirn und legte seine Wange auf ihren Scheitel. „Ich weiß, Crissi“, nickte er in ihrem Haar und wiederholte: „Ich weiß. Gott sei Dank habe ich wenigstens dich wieder! Ich befürchtete schon das Schlimmste!“
Sie nickte an seinem Hals. „Ich auch. Er hat mir solche Angst eingejagt! – Aber er hat Moretti!“, wandte sie sich eindringlich an Leuthart.
Dieser nickte hastig. „Wo?“
Christina deutete mit der Hand in den linken Tunnel. „Er ist mit ihm dort lang gelaufen! Bitte finden Sie ihn! Bevor er ihm etwas antut!“
Wenn es nicht schon geschehen ist!, dachte Leuthart finster. „Los, Männer! Rasch und keinen Lärm! Wir wissen nicht, wie weit weg er von uns ist!“ Sein Team verschwand.
Frank wandte sich mit einem erleichterten Blick Scherrer zu, der daneben stand und ebenfalls aufatmete. Zumindest eine Geisel war sicher geborgen! Wenn es Moretti nur ebenfalls gut ging! Hesse streckte die Hand nach ihm aus. „Ich danke Ihnen, Scherrer! Ich danke Ihnen wirklich vielmals! Ich weiß nicht, was ich sagen soll!“
Franz klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Sagen Sie nichts, mein Freund. Beten Sie, dass wir es noch rechtzeitig schaffen!“
„Und dass Sie den Scheißkerl erwischen!“, zischte ihm Christina wütend zu.
Scherrer nickte. „Wir werden ihn kriegen! Bleiben Sie hier oder bringen Sie Ihre Schwester zum Wagen zurück!“ Ohne eine Entgegnung abzuwarten, machte er sich hinter seinem Team her davon.