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Kari Sutter drückte den Rücken gegen die Säule, sein Atem ging gepresst. Vorsichtig äugte er über die Schulter zu Custer hinüber, der in dem Moment grinsend über Morettis Antwort spottete: „Oh, Sie pokern schlecht, Moretti, schämen Sie sich! Ich hätte Ihnen etwas mehr Rückgrat zugetraut. – Selbst, wenn sie bis hierher kommen sollten, sobald ihre Leute das Münster betreten, wird mir das ein Vögelchen zwitschern!“

Oder auch nicht! Sutter lachte hämisch in sich hinein. Das Arschloch hatte noch nicht mal gemerkt, dass sie ihn gefunden hatten!

„Und dann, Custer?“, versuchte Moretti das Gespräch am Laufen zu halten.

Custer schwieg einen Moment und überlegte, ob er es überhaupt noch fortsetzen oder endlich mit seiner Arbeit beginnen wollte, aber dann überwog doch der Triumph in seinem Innern, der heraussprudelte und ihn dazu drängte, alle von Morettis Informationen aus ihm herauszupressen. Er wollte wissen, dass er gut gewesen war, er wollte die Bestätigung aus seinem Mund hören, dass er der Bessere von ihnen gewesen war und kein Mensch auf ihn als Schlächter von Bern gekommen wäre. Nach kurzer Überlegung hob er den Kopf. „Was habe ich falsch gemacht, Moretti? Ich habe versucht, Sie auf eine falsche Spur zu locken!“

Custer war wirklich zum Erbarmen! Wenn es nicht so todernst gewesen wäre, hätte Moretti ihn ausgelacht. Da wollte das Schwein tatsächlich noch wissen, was er hätte besser machen können! Aber von mir aus, dachte Moretti, ich werde ihm alles sagen, was er hören will; ich muss Zeit gewinnen! Hoffentlich merken die auf dem Posten bald, dass wir beide verschwunden sind! Hoffentlich denkt Scherrer ans GPS! Sonst wird es bald aus sein mit mir! Von meiner Pension ganz zu schweigen!  Das tat ihm im Augenblick am meisten weh – die Aussicht auf einen vorzeitigen Tod, ohne das viele eingezahlte Rentengeld jemals in Anspruch genommen oder überhaupt in der Hand gehalten zu haben!

„Sie meinen mit der toten Nutte?“ versuchte er sich spöttisch wieder in eine bessere – oder noch schlechtere? – Position zu bringen, allerdings rechnete er diesmal nicht damit, dass Custer gleich wieder ausflippen würde. Der wollte zuerst noch ein paar Informationen aus ihm herausquetschen – für ein nächstes Mal? Einen neuen Mord?

„Was war so schlecht an dieser Idee?“ Custers Augenweiß war von dicken roten Äderchen durchsetzt; er stand genauso unter Spannung wie er.

Moretti versuchte die Achseln zu zucken, die unmittelbar durch den verhinderten Sturz genauso schmerzten wie alles andere an seinem Körper. „Eigentlich hätte es funktionieren können“, gab er gedehnt zu.

„Sie dachten an einen Trittbrettfahrer.“

„Sie wissen, dass ich diesen Gedanken sehr schnell abgelegt habe. – Sie wollten, dass wir wissen, dass es derselbe Mörder ist, habe ich recht?“, versuchte er wieder Oberwasser zu gewinnen und nebenbei etwas mehr Licht ins Dunkel des verzwickten Falls zu bringen.

Custer antwortete nicht, starrte ihn nur mit blutunterlaufenen Augen an. Ja, er hatte gewollt, dass sie es wussten! Sie sollten weitersuchen, sich an dem Fall die Zähne ausbeißen, und er wollte daneben stehen und sich ins Fäustchen lachen, dass sie ihn nicht erwischen würden! Und er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, warum Moretti so hartnäckig an der gleichen Fährte geblieben war wie ein Bluthund, der seine Spur um keinen Preis mehr aufgab. Und wie ein Bluthund hatte er ihn eingeholt, umzingelt und die Schlinge zugezogen, bis er nicht mehr anders konnte, als den freundlichen alten Mann zur eigenen Sicherheit in die Höhle des Löwen zu locken - in seine Höhle! „Wie haben Sie es herausgefunden?“, präzisierte er seine Frage.

Moretti lächelte ihm aus seinem verquollenen Gesicht verschwörerisch zu. „Dieselben Wunden, dieselbe Handschrift.“

„Sie war schon tot, als ich dasselbe mit ihr gemacht habe!“, schnaubte Custer mit geblähten Nasenflügeln. Vermutlich versuchte er sich zu rechtfertigen, um vor Morettis Augen in einem besseren Licht dazustehen.

Dieser nickte. „Wenigstens hier haben Sie ein bisschen Rücksicht gezeigt. Obwohl ich nicht verstehe, warum Sie die arme Frau umgebracht haben! Warum haben Sie versucht, es wie die Tat eines Serienmörders aussehen zu lassen? Sie hätten einfach aufhören können, und niemand wäre Ihnen dahinter gekommen! Hat es Ihnen soviel Spaß gemacht, dass Sie nicht mehr damit aufhören konnten?“

Diesmal war es Custer, der zufrieden grinste. Er entspannte sich etwas, hielt die Fäden wieder fester in der Hand. „Sie sind hier, Sie wissen, was Sie erwartet. Warum wollen Sie das immer noch wissen, Moretti?“, fragte er zynisch.

Dieser fühlte ein Würgen in der Kehle, wenn er daran dachte, was Custer ihm noch alles antun würde. Dann sollte also auch er wie die beiden ersten Opfer aussehen, wenn der Schlächter mit ihm fertig war! Seine Männer würden verzweifelt nach einem Serienmörder suchen und es würde ihnen nicht im Traum einfallen, etwas anderes als diese Möglichkeit anzunehmen, nämlich, dass er wie auch die Prostituierte Madeleine Zahnd in keinem Zusammenhang mit Heinrich von Hesse stand und sie in einer ganz anderen Richtung ermitteln müssten! Der Fall würde für die Kripo mehr als verwirrend und dann womöglich tatsächlich nicht mehr lösbar sein! Ihm grauste bei der Vorstellung, irgendwann unerkannt und ungelöst zu den Akten gelegt zu werden, in diesem kurzen Augenblick sogar noch mehr als vor dem angekündigten baldigen Ende. Daran wollte er gar nicht oder erst im allerletzten Moment denken, wenn ihm keine andere Wahl mehr blieb. Er versuchte sich aufrecht zu halten und blickte ihn geradeheraus durchdringend an. „Weil es mir wichtig ist, zu wissen, dass ich mit meiner Vermutung recht hatte, genau wie Sie. – Nicht wahr, es ist schwierig, einfach loszulassen und die Dinge ihren Gang nehmen zu lassen? Das hat uns beide in Teufels Küche gebracht.“

„Sie!“ Custer nickte. „Nur Sie, Moretti! – Mich werden sie nicht erwischen! Jetzt, wo Sie weg sind, kann mir keiner mehr das Wasser reichen! Und was Ihren Freund Scherrer angeht, der wird Sie heute Abend zu beklagen haben und nicht mehr daran denken, diesen Fall noch weiter zu verfolgen!“

„Und Sie werden der ganz große Meister der Tarnung und des Versteckspiels sein!“, nickte Moretti wütend. „Aber damit werden Sie nicht durchkommen, Custer! Scherrer weiß genauso gut über Sie Bescheid wie ich, und dann sind da noch Sutter, Marti und der Staatsanwalt - und noch ein paar andere“, bluffte er. „Denken Sie denn, ich bin so dumm und teile meine Vermutungen und Beweise nicht meinen Arbeitskollegen mit?“

„Das wird Ihnen nicht mehr viel nützen, wenn Sie tot sind!“, keifte Custer verletzt zurück, bevor sich seine Fratze wieder zu einem spottenden Grinsen verzog, weil sich Moretti immer öfter verzweifelt nach allen Richtungen umsah. „Glauben Sie wirklich allen Ernstes, dass man Sie hier finden wird?“

Der alte Mann zuckte nickend die Achseln, so gut es ihm mit erhobenen Armen möglich war.

„Sie sind der Beste! Oder soll ich besser sagen, Sie waren es?“, höhnte er. „Es ist schon über zwei Stunden her, Moretti, seit Sie hier sind! Die Kollegen werden Ihren Wagen ganz woanders finden, und meinen überhaupt nicht, und werden sich vergeblich fragen, wo Sie hingekommen sein könnten! Bis man Sie findet!“

Du eingebildete Sau!, dachte Sutter mit verbissener Miene. Er hatte noch immer keinen Bescheid erhalten, ob sie Christina von Lanthen gefunden hatten!. Seine Nerven waren zum Zerreißen angespannt, der Schweiß lief ihm vor Anspannung in die Augen und reizte seine Bindehäute zu Tränen. Er fühlte das Herz bis zum Hals klopfen und die Hände am Revolver feucht und die Waffe schwer werden. 

„Es wäre klüger von Ihnen gewesen, Sie hätten die Leiche hier unten verrotten lassen! Warum mussten Sie sie auch so blöd zur Schau stellen!“

Er antwortete mit einer Gegenfrage: „Als Abschreckung?“

„Als Abschreckung für wen, Custer? Niemand hat von Ihrer Existenz gewusst! Durch Ihre Egomanie haben Sie Ihren ersten Fehler begangen!“

„Meinetwegen, wenn Sie es sagen! Aber dieser wird mein letzter gewesen sein! Klappe zu, Akte geschlossen! Danach werde ich in die Staaten zurückkehren.“

„Wenn’s nicht vorher anders kommt!“

„Was sollte denn anders kommen, Moretti? Sie armer, kleiner, dicker Wicht! Wenn Ihre Intelligenz nur halb so gut gewesen wäre, wie Ihre Spürnase, dann wären Sie mir nicht allein gefolgt und in meine Falle getappt! Erwähnten Sie vorhin nicht das Wort Egomanie? Trifft das in dem Fall nicht auch auf Sie, also auf uns beide zu? Weil Sie den Fall allein lösen wollten?“

Moretti verzichtete darauf, ihm zu antworten. Er senkte den Kopf und stieß eine stumme Verwünschung aus, die nicht nur seine eigene Unfähigkeit einschloss. Er verzog den Mund zu einem gequälten Grinsen, bevor er wieder hoch sah und zugab: „Sie haben recht, mein Fehler. Aber Ihr Fehler war, dass Sie Christina gekidnappt und mich hierher gelockt haben!“

Custer schüttelte in hochmütiger Gelassenheit den Kopf. „Kein Fehler! Nur eine Planänderung.“

„Man wird Sie erwischen, Custer, und dann kommen Sie wegen drei-, nein, vierfachen Mordes dran!“, versuchte er ihm in aufsteigender Panik noch einmal Paroli zu bieten.

Custer lächelte gemein zurück. „Sie haben in vielen Punkten Unrecht, Moretti. Erstens werden Sie das nicht mehr erleben. Zweitens werde ich weg sein, wenn man Sie findet! In der Pressemitteilung wird stehen: Der Schlächter von Bern hat wieder zugeschlagen.“ Mit der Hand zog er die Lettern in einem Halbmond in der Luft nach. „Die Polizei wird nacheinander eure Leichen finden und ihren Serienmörder haben. Nach einiger Zeit wird die Akte geschlossen werden. In dieser schweren Zeit werde ich Hesse mein Beileid aussprechen und mich mit ihm anfreunden.“

„Sie wollen noch mehr Familienkisten stehlen?“, knurrte Moretti dreist.

Custer bedachte ihn mit einem wütenden Blick, dann lächelte er nachsichtig: „Vielleicht werde ich in die Familie einheiraten.“

Wohl ein etwas utopischer Traum!, dachte Sutter finster, als Moretti explizit dieselben Worte aussprach. Er war zutiefst erleichtert, als er im gegenüberliegenden Gang endlich jemanden vom Enzian auftauchen sah, der ihm Zeichen zuzuwerfen begann.

„Keineswegs!“, knurrte Custer unleidlich, bevor er friedfertig fortfuhr: „Vielleicht haben Sie aber auch recht. Aber leider werden Sie keine Gelegenheit mehr haben, dies noch mitzubekommen!“

„Womit wollen Sie denn anfangen?“, fragte Moretti ungemütlich. Das Ameisenlaufen hatte fast aufgehört; durch die Blutstauung spürte er seine Hände kaum mehr.

Custer lächelte maliziös. „Womit möchten Sie denn, dass ich anfange?“, fragte er fies. In erkennbarer Absicht trat er einen Schritt näher.

„Machen Sie jetzt bloß keinen Fehler, Custer!“, stieß Moretti mit geweiteten Augen grell vor Angst hervor.

Custer grinste bösartig. „Ich mache keine Fehler, Moretti! Denn jetzt gibt es nur noch uns beide! Und keiner von Ihren dämlichen Bullenkollegen wird es je herausfinden! Wie viel Schmerzen können Sie ertragen, Moretti?“, höhnte er. Ein sichtlicher Ruck durchlief seinen Körper, bevor er das Brecheisen auf den Steintisch hinter sich zurücklegte und sich ihm wieder ohne Waffe zuwandte. Er hatte keine Lust mehr, zu antworten und sich aushorchen zu lassen, selbst wenn er sich sicher fühlte und alle Zeit der Welt zu haben glaubte. Mit einem perfiden Grinsen zog er den Dolch aus der Scheide an seinem Gürtel, um endlich mit der Arbeit zu beginnen.

Der Polizeikommissar zuckte zurück, als der Dolcharm in die Höhe schnellte.

„Fahren Sie zur Hölle, Moretti!“

Diesem wurde vor Grauen Angst und Bang. Würde Custer ihn schnell töten oder seinen Sadismus an ihm ausleben? Die Angst vor Höllenqualen raubte ihm fast die Luft zum Atmen. Morettis Augen drohten aus den Höhlen zu fallen, während er die silberne Klinge fixierte und ihre Bahn wie gebannt beobachtete.

„Oder auch nicht, Custer! Hände hoch, Polizei! Treten Sie einen Schritt von Ihrem Gefangenen zurück und dann nehmen Sie schön langsam die Hände hoch, und zwar so, dass wir sie sehen können, denn drittens haben wir Sie gefunden, bevor Sie das alles bewerkstelligen konnten!“, ertönte Neidharts sonore Bassstimme in seinem Rücken.

Das konnte doch nicht sein! „Nein!“, brüllte er fassungslos. Es war unbegreiflich, wie sie ihn hatten lokalisieren und hier eindringen können, ohne dass seine Fallen Alarm ausgelöst hatten! Aus Custers Gesicht wich jeglicher Blutstropfen. Noch während Neidhart: „Hände hoch, Polizei!“ rief, wirbelte der Schlächter blass wie ein Laken herum wie ein losgelassener Kreisel. Seine Miene verzerrte sich vor Wut; vor Entsetzen und Verzweiflung heulte er auf wie ein waidwundes Tier, während sein irrer Blick nach dem Sprecher und seinen Komparsen suchte.

Gedeckt durch die niedrigen Mauern und tragenden Säulen blieben die schwerbewaffneten Spezialisten der Sondereinheit für ihn bis auf die hinter den Gemäuern hervorragenden Läufe und Mündungen und einem Teil eines Kopfschutzes noch fast unsichtbar. Moretti sah den Gefreiten Geoffrey und Korporal Neukomm aus seiner Richtung besser. Mit angelegten Sturmgewehren standen sie in ihren Tarnanzügen in der Nähe des Tunneleingangs. Sie waren so leise gewesen, dass Custer sie bei ihrem Eindringen glücklicherweise nicht bemerkt hatte.

Morettis Knie wurden schwach, er atmete erleichtert aus und fiel mit geschlossenen Augen in sich zusammen wie ein Sack Kartoffeln. Er brauchte zwei Sekunden, um sich von der gelungenen Überraschung zu erholen: „Ich wollte Ihnen grad noch sagen, dass Sie die Rechnung ohne unser Gebirgs-GPS gemacht haben, Custer“, witzelte er keuchend, während ihm der Angstschweiß noch aus allen Poren brach, als er den Kopf hob, aber er fühlte sich schon bedeutend besser.

Aus Custers Gesicht hingegen war sämtliche Farbe gewichen, er sah aus wie ein grellweiß bemaltes, wandelndes Gespenst auf einem Jahrmarkt. Die Gedanken in seinem Hirn überschlugen sich. Innert Sekundenbruchteilen hatte er die Lage erfasst und seine Chancen abgewogen. Für die Spezialisten stand er wie auf dem Präsentierteller, und er war praktisch unbewaffnet. Er hätte sich ein Sturmgewehr gewünscht, um die Eindringlinge alle niederzumähen, aber dieser Wunsch blieb unerfüllt. Er sah, wie sich hinter Moretti jemand von der Spezialeinheit der Wand entlang drückte und auf ihn zukam, um ihn zu befreien.

„Aaah!“ Von einem Wutschrei begleitet, senkte sich Custers Dolcharm auf Moretti nieder. Er war sich zwar bewusst, dass er ausgespielt hatte, aber zumindest wollte er schnell und nicht unbewaffnet sterben! Es wäre eine Genugtuung für ihn gewesen, wenn es ihm trotzdem noch gelänge, den Alten oder einen anderen mit ins Grab zu nehmen! Er erhoffte sich, dass sie ihn wie in Amerika mit ihren Kugeln durchsieben würden, wenn er sie glauben machte, dass er sein Werk trotz allem noch zu vollenden und den Alten abzustechen versuchte!

Daraufhin überstürzten sich die Ereignisse. Custers rechte Hand ließ das Messer los, das bereits die richtige Neigung hatte, und fiel stattdessen an die Hüfte hinunter, um nach seiner Dienstwaffe zu greifen. Er wusste, dass er ausgespielt hatte, es war vorbei und es gab nichts mehr, um sein Leben zu retten. Die Einsicht, dass sie doch klüger gewesen waren als er, und die erschreckende Klarheit, was sie mit ihm anstellen würden, sollte er ihnen lebend in die Finger geraten, dass sie ihn für die Ewigkeit hinter Gitter bringen würden, ließ ihn mit Bedacht unvernünftig handeln. Er wollte nicht ins Gefängnis! Stattdessen blickte er dem Tod ins Auge. Wenn er die SIG Sauer erreichen und sich bewaffnen konnte, würden sie ihn erschießen! Das war es, was er anstrebte; etwas anderes kam für ihn nicht infrage. Es war erstaunlich, wie schnell ihm diese Gedanken durch den Kopf schossen und wie schnell er sich entscheiden konnte, dachte er mit einem Lächeln auf den Lippen, das die Beamten für Entschlossenheit halten mussten, aber er dachte die Gedanken nicht zu Ende!

Morettis Blick hing währenddessen wie gebannt an der silbernen Klinge, die Custers Fingern entglitt und mit der Spitze voran durch die Luft flog. Plötzlich schien sie aus einem gleißenden Bogen zu bestehen. Gleichzeitig nahm er hinter dem schillernden Schleier Custers Bewegung wahr, mit der seine Rechte hinunter zur Dienstwaffe fuhr. Es war ausgerechnet die Seite seines Körpers, die von Geoffrey und Neukomm abgewandt war. In Morettis zertrümmertem Gesicht öffnete sich ein Loch zu einem warnenden Schrei. In Custers Gürtelholster steckte seine Dienstpistole! Und Custer war schnell, er war sogar verdammt schnell...

Moretti konnte gar nicht so schnell schreien, wie Custers Finger den Kolben der Waffe umspannten, das Holster anhoben und ohne herauszuziehen abdrückten. Morettis Konzentration kehrte zurück auf den Dolch. Um ihn herum explodierte alles in einem gleißenden Feuerball und er sah Licht am Ende des Tunnels. Er prallte zurück in der Gewissheit, getroffen zu werden. Die Ketten klirrten, die Handschließen schnitten ihm ins Fleisch seiner Gelenke, als er zurückzuckte. Doch er spürte keine Hitze und keinen Schmerz. Fast erleichtert schloss Moretti die Augen. Wenn sterben so einfach war... Wenn nur das stechende Sirren in den Ohren nicht wäre - und der Lärm!

Custers Lauf war jedoch durch die rasche Vierteldrehung seines Körpers nicht auf Moretti, sondern auf Geoffrey gerichtet. Neukomm und er sahen der Stichflamme entgegen, die aus dem schwarzen Kunststoffholster schoss. Geoffrey hätte schwören mögen, dass er dahinter direkt ins schwarze Loch des Laufs geguckt hatte. Die laute Detonation ließ das uralte Gemäuer erzittern. Oder waren es zwei gewesen? Oder noch mehr? Nicht nur Morettis Herz stand vor Entsetzen fast still. Aus den Wänden und von der Decke lösten sich kleine Gesteinsbrocken; Kiesel und Staub rieselten auf ihre Köpfe herab. „Geoffrey!“, schrie Werner Neukomm gellend. Dabei sah er Custer rudernd die Arme in den Himmel werfen, und wie ihm die Beine unter dem Hintern weggerissen wurden. Mit einem wütenden Schrei taumelte er, versuchte aus der Rücklage mit dem Oberkörper wieder nach vorne zu kommen.

Moretti hörte Männerstimmen rufen, das Trampeln schwerer Schuhe, den dumpfen Aufschlag eines Körpers. Seines Körpers? Dann unterschied er Sutters Stimme aus dem Gewirr und öffnete irritiert die Augen. Seine Kinnlade sackte herab, dass es möglich war, dass er so völlig neben sich stand. Der Dolch war an seinem Gesicht vorbeigeschrammt, ohne ihn zu verletzen. Stattdessen sah er, wie der Schlächter mit seinem knochigen Rücken auf die Steinbodenplatten krachte. Sie hörten es knacken, und Custer schrie von Schmerz gepeinigt grell auf.

Zappelnd wie ein Käfer auf dem Rücken lag Morgan Custer, der Schlächter von Bern, ihm zu Füssen. Winselnd und heulend, mit angezogenen Knien halb zusammengerollt, hielt er mit der Linken die rechte Hand vor die Brust und wand sich vor Schmerzen wimmernd auf dem kalten Fußboden. Zwischen seinen Fingern, aus der rechten Schulter unterhalb des Schlüsselbeins und seiner rechten Wade ergoss sich Blut aus seinen Wunden. Die Scharfschützen hatten ganze Arbeit geleistet: sie hatten Custer schachmatt gesetzt, und dennoch war kein lebenswichtiges Organ so stark verletzt, dass es ihn ins Jenseits befördert und ihn somit der Justiz entzogen hätte, wie dieser es sich vorgestellt hatte.

Stattdessen fühlte er den bohrenden Schmerz in seinen Wunden. Die Wut auf sich selbst und auf die ganze Welt sprang ihn an wie ein Wolf sein wehrloses Opfer, als er sich seiner Fehleinschätzung bewusst wurde: Er hatte seine Gedanken nicht zu Ende gedacht und bei seinen rasend schnellen Überlegungen nicht in Betracht gezogen, dass sie ihn gar nicht erschießen würden! Die Männer wollten den Schlächter lebend haben, um ihn vor Gericht zu stellen! Die Schweizer waren nicht so unklug wie die Amerikaner, die aufs Geradewohl zuerst schossen und erst hinterher überlegten, dass sie es vielleicht hätten besser machen können! Mit einem schnellen Tod eines solchen Monsters war den Opfern nicht Genugtuung getan! Und genau damit hatte er verdammt noch mal nicht gerechnet! Er hatte sich auf den Tod eingestellt, um ihn mit offenen Armen zu empfangen, stattdessen lag er nun in seinem eigenen Blut am Boden und winselte vor Schmerzen! Dabei war ihm nur zu klar bewusst, dass sein Vorhaben in die Hose gegangen und von den dämlichen Schweizern vereitelt worden war! Er hätte lauthals gelacht, wenn er noch die Kraft und die Luft dazu gehabt hätte!

Einen Augenblick lang konnte Moretti nicht die Augen von Custer lösen. Erst Sekunden später durchforschte sein Blick den Raum und er atmete erleichtert aus, als er Geoffrey unversehrt auf seinen Beinen stehen sah. Aus Sutters Hand ragte der Lauf seiner kleinkalibrigen Waffe.

„Guter Schuss, Kari“, rief Geoffrey ihm erleichtert zu. „Der Scheißkerl hätte mich glatt ins Jenseits befördert.“

Karl Sutter nickte ihm zu, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, seinen Kollegen vor herumfliegenden Kugeln zu bewahren. Dank seiner seitlichen Stellung hatte er Custers Bewegung und Absicht erkannt, sofort gehandelt und tief gezielt. Seine Kugel hatte Custer ins rechte Hinterteil getroffen, die Richtung seiner Waffe verändert und ihm die Füße unter dem Leib weggerissen, bevor die Leute der Sondereinheit zurückgeschossen hatten.

Custer wand sich auf dem kalten Boden und brüllte aus Leibeskräften. Die Waffe war seiner Hand entfallen, und obwohl sie unweit neben ihm lag, war er nicht imstande, sie sich wieder anzueignen. Sein Brüllen versank in einem gurgelnden Röcheln. Er blutete nicht nur aus seinem knochigen Hintern, sondern jetzt quoll auch Blut aus seinem Mund, ein klares Zeichen, dass durch das Knacken vermutlich ein paar Rippen zu Bruch gegangen waren und sich in seine Lunge gebohrt hatten. Custer konnte kaum noch atmen, aber vermutlich war er nicht lebensgefährlich verletzt. Mit einem gesunden Lungenflügel konnte er leben – und er würde den Prozess und die darauffolgende Haftstrafe über sich ergehen lassen müssen!

Neidhart schob das Mikro seines Headsets vor dem Gesicht etwas näher zum Mund und bestellte die Sanitäter aus dem draußen wartenden Rettungswagen her: „Bringt zwei Bahren mit – eine für den Mörder und eine für Moretti! Der Kommissario ist schwer verletzt!“

Moretti fand diese Bemerkung leicht übertrieben, merkte aber gleich, nachdem ihn Geoffrey endlich von den Handschellen befreit hatte, dass Neidhart gar nicht so unrecht hatte. Die Männer mussten ihm unter die Achseln greifen, um ihn auf den Beinen zu halten. „Wie lange seid Ihr denn schon hier gewesen, Jungs?“, fragte er mit wachsbleichem Gesicht, während er, schwer auf die beiden gestützt, zum Steintisch humpelte, um sich niederzusetzen und sich dabei die Handgelenke massierte, um die Durchblutung wieder anzukurbeln.

Geoffrey grinste ihn an: „Lange genug, Kommissario.“

Dieser verzog unwillig die Brauen, zuckte allerdings augenblicklich vor Schmerzen zusammen. Aus seinem gesunden Auge blitzte er den Kollegen wütend an: „Hättet Ihr mir den Rest nicht ersparen können, Ihr Pisser?“

„Und uns den Spaß verderben?“, schmunzelte Neidhart, der fast gleichzeitig wie Sutter zu ihm trat.

Moretti spuckte wütend einen Priem blutigen Speichel auf den Boden. „Das hat euch Scheißern natürlich gefallen, dass ich eins aufs Maul gekriegt habe, hä?“

Der Leiter des Sonderkommandos zuckte entschuldigend die Achseln. „Tut mir leid, Kommissario, wir standen noch nicht gut genug, wir wollten nichts riskieren. Außerdem wollten wir den Scheißkerl lebend haben – er soll schließlich für all das büßen, was er seinen Opfern angetan hat! Das ist das Mindeste, was wir denen noch als Genugtuung mitgeben können!“

„Eigentlich sollten wir den Mistkerl in seinem eigenen Blut ersaufen lassen!“, knurrte Sutter mit düsterem Blick finster, der mit gespreizten Beinen über Custer stand, der sich vor Schmerzen und Atemnot wand. Mit der rechten Hand hinter sich an den Gürtel greifend, bückte er sich, packte Custers Rechte und ließ die Handschelle um sein Gelenk zuschnappen, dann machte er einen großen Schritt über ihn hinweg, packte die Linke und machte den vor Schmerz brüllenden Mörder dingfest. Aus dem Tunnel trabten die ersten Sanitäter mit der tragbaren Bahre heran. Sutter machte einen Schritt zur Seite und gab den Platz neben Custer frei, damit sie sie auf den Boden legen konnten.

Moretti machte zufrieden einen Schritt auf ihn zu. Er sah, wie sich Christina und Frank von Hesse erleichtert in den Armen lagen, nachdem Sutter ihren Stiefbruder dingfest gemacht hatte.

Die Sanitäter bückten sich, packten unter den Achseln und an den Beinen zu und hoben ihn hoch, um ihn auf die Bahre zu legen. Röchelnd vor Atemnot und mit Schaum vor dem Mund brüllte Custer derart zetermordio, dass sie das Einstürzen der alten Mauern befürchten mussten, doch das Rieseln hatte aufgehört. Die Erbauer hatten gute Arbeit geleistet und ihre Tunnel für Jahrhunderte errichtet.

„Seht zu, dass Ihr den Scheißkerl wieder zusammenflickt! Ich will ihn vor dem Richter sehen, und dann im Knast!“, wies Moretti die Sanitäter grantig an, ehe er sich mit einem fiesen Lächeln an den Schlächter wandte: „Und dich werde ich jedes Jahr einmal zu Valentinstag dort besuchen und hoffen, dass sie dich drin verrotten lassen, du verdammter Hurensohn!“, warf er ihm mit unflätiger Genugtuung an den Kopf.

Custer war nicht in der Lage, zu antworten, zusammengekrümmt röchelte er nur noch.

Der ältere Sanitäter nickte mit einem breiten Grinsen, als Scherrer mit einem zweiten Team mit Bahre aus dem Tunnel getrabt kam. „Wir tun unser Bestes, Kommissario. Können Sie laufen oder sollen wir Sie raustragen?“, erkundigte er sich, bevor der Abteilungsleiter atemlos heran war.

„Mein Gott, Paolo, Gott sei Dank!“, stieß er tief aufseufzend aus. Mit erleichterter Miene schob sich Scherrer zwischen sie und packte Morettis Arm. Dieser musste seinen ganzen Körper drehen, nur der Kopf allein gelang ihm nicht, weil alles an ihm so schmerzte, dann fielen sich die Freunde mit feuchten Augen in die Arme. Scherrers Atem ging heftig und stoßweise, sein Gesicht glänzte vor überstandener Anspannung.

Einen Augenblick lang waren alle durch den rührseligen Moment abgelenkt. Custer lag noch immer wimmernd auf seiner Bahre am Boden, und bevor er es sich versah, stand Christina von Lanthen an seiner Seite und trat ihm mit einem höhnischen Lächeln wütend ihren kleinen Fuß in den angeschossenen Hintern, genau an die Stelle, wo sein Blut aus der Wunde ausgetreten war, die Sutters Kugel in seinen Allerwertesten gerissen hatte. Custer heulte gepeinigt auf, während die kleine Frau tobend schrie und dabei aller Aufmerksamkeit auf sich lenkte: „Verrotten sollst du in deiner Zelle, du Scheißkerl! Du bist eine Schande für unsere Familie! Es sollte verboten sein, dass du dasselbe Blut wie ich in dir trägst!“

„Fuck!“, stieß er anstelle einer Antwort vor Schmerzen jaulend aus.

Christinas Miene war verzerrt vor ohnmächtiger Wut, ihre aufgestauten Gefühle überschwemmten sie bei seinem Anblick, Angst und Aggression brachen sich stürmisch Bahn. Wieder und wieder hob sie den Fuß und hackte ihm mit den Absätzen wie eine Furie in die Seite, trat ihm in die Niere und die kleinen Rippen und wieder in den Hintern, während sie unkontrolliert weiterschrie: „Fick dich selbst, du Hurenbock! Wie du siehst, waren sie doch nicht so dumm, wie du gedacht hast, Scheißkerl!“

Custer krümmte sich und brüllte ununterbrochen wie am Spieß vor Schmerzen, und noch eine Oktave höher, als sie ihn wieder in den verletzten Hintern trat. Gellend schrie er um Hilfe, doch sekundenlang bewegte sich niemand. Seiner Meinung nach verletzten die Polizeibeamten ihre Dienstpflicht, weil sie nicht sofort eingriffen, um ihm zu helfen, aber er konnte sich nicht wehren, wegen der Handschließen konnte er noch nicht einmal die Arme nach hinten reißen, um Christinas Stiefelette abzuwehren; er konnte nichts anderes tun, als sich brüllend zu winden und weiter um Hilfe zu rufen!

In der Tat ließen die Männer die Tobende länger gewähren, als unbedingt nötig gewesen wäre; jeder einzelne Tritt, mit dem sie Custer Schmerzen zufügte und dem Schlächter ihre Angst und für die Polizisten auch die Morde an den unschuldigen Opfern heimzahlte, war ein kleines Bisschen Genugtuung für jeden von ihnen, nicht nur für Christina selbst. Alle, auch Moretti, der es ihr am liebsten gleichgetan hätte, standen mit hängenden Armen da, als wären sie von dem Vorfall völlig überrumpelt und nicht fähig, etwas dagegen zu unternehmen. Scherrer und Frank August warfen sich beredte Blicke zu und grinsten; sie waren mit ihr völlig einer Meinung.

Bevor Moretti den Arm nach ihr ausstreckte und Scherrer endlich einschritt, trat Christina sicher fünf-, wenn nicht sogar sechsmal wutentbrannt zu. Erzürnt war ihre Stirn gekraust, ihre Augen funkelten mit den Fackeln und den Tränen, die ihr vor Enttäuschung und Erleichterung wie Bäche über die Wangen rollten, um die Wette.

Scherrer und Frank August zogen die Tobende schließlich sanft an den Armen von ihrem Stiefbruder fort, der sich weiter die Seele aus dem Leib brüllte. „Kommen Sie, er ist es nicht wert“, sagte Scherrer und bedeutete Hesse, dass er sie rausbringen solle. 

Schluchzend, weil die Anspannung nun nachließ, ließ sich die junge Frau von Custer wegziehen und fiel stattdessen ihrem großen Bruder um den Hals. Frank August nahm seine hysterisch weinende Schwester beschützend in die Arme und führte sie durch den Tunnel hinaus. Die Sanitäter hoben die Bahre mit Custer auf und folgten ihnen.

Moretti ging über den Vorfall hinweg, als hätte er nichts gesehen. Insgeheim gönnte er dem Scheißkerl die Prügel von Herzen! Das war das Wenigste, was er verdient hatte und womit er ihnen die Todesangst entgelten konnte, die er ihnen eingejagt hatte!

Erleichtert über das Gelingen des Jobs und den glimpflichen Verlauf des Geiseldramas klopften sich die Männer gegenseitig auf die Schultern oder schlugen in der Luft klatschend die Hände gegeneinander.

Seufzend blickte Moretti nach oben zur Decke, als versuchte er, durch die Mauern zu sehen. „Was denkt ihr, was ist da draußen los?“, erkundigte er sich ahnungsvoll und antwortete immer noch nicht auf die ihm gestellte Frage.

Franz Scherrer bedachte ihn mit einem kleinen, spitzbübischen Lächeln. „Die Presse und halb Bern dürften inzwischen eingetroffen sein“, meinte er vielsagend.

Moretti warf ihm aus seinem gesunden Auge einen ärgerlichen Blick zu und drehte sich dann wieder zum Sanitäter zurück, ohne Scherrers Hand loszulassen. „Dann werde ich lieber zu Fuß rauskommen“, murmelte er gedehnt. „Auf der Bahre wäre zu peinlich!“