1 Selena

I ch schiebe mich durch die Menschen und sauge tief die Luft ein. Es sind die gewohnten Gerüche. Die Fische und das Salz des Meeres, der Duft des Marktes. Auch wenn ich mir abends den Schweiß abwasche, kann ich sie manchmal noch an meinen Armen riechen.

Hier riecht es besonders gut. Hier, wo einer der Stände mit gebratenen Brassen, Forellen und Barschen steht. Ich strecke die Tüte mit meinen Einkäufen vor mir aus und dränge mich durch die laut schwatzenden Menschen. Dann biege ich ab.

Die Gasse, die sich in immer enger werdenden Windungen den Hügel hinaufzieht, stülpt ihren Schatten über mich, und der wohltuend kühle Meereswind bläst mir in den Nacken. Langsam lasse ich das Gerede der Menschen auf dem Markt hinter mir. Wie der Fischfang heute lief, wer gerade auf eine große Reise gegangen ist, bei wem eine Schwangerschaft vermutet wird.

Weiter und weiter klettere ich in die Schläfrigkeit unseres Dorfes hinauf, vorbei an den weißen Häuschen mit Blumenkästen und geschlossenen Fensterläden. Die Plastiktüte in meiner Hand raschelt bei jedem Schritt.

Als ich auf die Straße trete, die sich hinauf zu unserem Haus zieht, wische ich mir mit der Hand die lockigen Haare aus dem Gesicht. Sofort treibt ein Windstoß sie mir wieder in die Augen. Ich drehe mich um und lasse den Blick über das Dorf schweifen, das sich mittlerweile ein gutes Stück unter mir befindet: Von hier oben sieht das Treiben der Menschen fast rhythmisch aus, friedlich. Die Sonne taucht den Hang in ein goldenes Licht. Ich liebe diese Tageszeit. Diese paar Minuten, in denen der Himmel noch einmal alles zum Strahlen bringt, bevor die Sonne rot hinter den umliegenden Inseln untergeht. Es ist, als wolle der Tag sein eigenes Werk noch einmal im besten Licht erscheinen lassen, ehe er es der Nacht überlässt.

Ich setze mich auf die Mauer am Rande der Straße, will noch nicht zurück nach Hause. Ich kann die Anspannung meiner Mutter nicht ertragen, die sich an Tagen wie diesem aufbaut. Sie wird immer schweigsamer, sieht andauernd auf die Uhr und läuft mit versteinerter Miene durch die Gegend. Es ist Angst. Da bin ich mir sicher. Aber ich weigere mich, ihre Angst zu übernehmen.

Die Sonne wandert immer weiter Richtung Horizont, die Marktstände im Dorf werden zusammengepackt, und irgendwann weiß ich, dass ich nach Hause muss. Ich wende mich wieder zum Hang und zwinge mich, meine Schritte zu beschleunigen. Es ist nicht mehr weit. Um eine Straßenbiegung geht es noch, dann stehe ich vor unserer kleinen, weiß getünchten Mauer.

Mit der Schulter werfe ich mich gegen die Tür zum Hof, und das Schloss springt knackend auf.

»Selena, du sollst das doch nicht immer machen!«

Meine Mutter steht im Hof, das dunkle Haar zu einem dicken Knoten gebunden, und sieht mir verärgert entgegen.

»Ich hab den Fisch, Mama«, ignoriere ich ihre Ermahnung.

Sie schnalzt mit der Zunge. »Leg ihn in die Küche und geh dich umziehen. Dein Onkel ist gleich da.«

Ihr Blick huscht zum Gästehaus hinüber, in das heute neue Feriengäste eingezogen sind.

Ich verkneife mir einen Kommentar, betrete das Haus und lege die Tüte mit dem Fisch auf den Küchentisch. Dann steige ich die Treppe hinauf in mein Zimmer.

Dort angekommen werfe ich mein Handy auf den Schreibtisch und öffne den Schrank. Wie immer wähle ich enganliegende Sportkleidung. Man weiß nie, was einen erwartet. Besser, man ist vorbereitet. Sobald ich in der schwarzen Hose und dem roten Langarmshirt stecke, nehme ich ein Haargummi von dem Nagel an der Wand, direkt neben meinem Spiegel. Ich fahre mir durch die Haare. Das Salz des Meeres hat sich daraufgelegt, sich mit dem Schweiß des Tages vermischt und lässt meine Haare nun in schwarzen, schimmernden Strähnen herabhängen.

Die Haare zu fettig, das Kinn zu breit, die Nase zu eckig, der Körper zu klein. Aber was soll ich mit Schönheit schon anfangen? Hier auf der Insel sieht mich eh niemand außer den Dorfbewohnern und ein paar Gästen, die in unserem Ferienapartment wohnen.

Ich binde meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und wende mich von meinem Spiegelbild ab. Dann verlasse ich das Zimmer und steige die Treppe hinunter.

In der Küche ist meine Mutter dabei, Kartoffeln zu kochen und den Fisch zu braten. Wortlos beginne ich damit, Teller auf den Tisch zu stellen.

Vor dem Fenster hat sich die Dämmerung über unseren Hof gelegt. In der Küche ist nichts zu hören außer dem Zischen des Öls und dem Klappern der Teller zwischen meinen Fingern. Ich sage nichts, weil ich weiß, dass absolut nichts meiner Mutter die Nervosität nehmen kann. Zumindest nichts, was ich sagen könnte. Oder eher: Nichts, was ich bereit wäre zu sagen. Würde ich das Ganze jetzt abblasen, behaupten, dass es doch nicht notwendig wäre – das würde sie vermutlich erleichtern. Aber das geht nicht. Mein ganzer Körper lechzt danach, wieder zu träumen. Länger als ein, zwei Wochen halte ich es einfach nicht aus, ohne in einen Traum einzusteigen.

»Aber du bleibst nur ganz kurz drinnen, ja?«, sagt meine Mutter plötzlich.

»Ich bleibe so lange, wie es nötig ist.«

»Und wenn du jemanden von der Traumunion siehst, kommst du sofort zurück, ja?«

»Natürlich.«

Meine Mutter nickt zögernd, als würde sie diese Antwort tatsächlich beruhigen.

Ich kann nicht fassen, dass wir jedes Mal dasselbe Gespräch führen.

In diesem Moment klingelt es. Erleichtert stelle ich den letzten Teller ab und betätige den Summer, der unser Tor aufspringen lässt. Als ich wenige Sekunden später die Haustür öffne, strömt angenehm kühle Abendluft in unser Wohnzimmer. Mein Onkel kommt mir mit seiner Tochter an der Hand entgegen. Wie immer trägt Loukas ein herzliches Lächeln auf dem Gesicht und drückt mir zur Begrüßung einen Kuss direkt aufs Ohr, der mein Trommelfell schmerzhaft vibrieren lässt.

»Hallo, Eleni«, begrüße ich meine Cousine, gehe in die Knie und ziehe die Sechsjährige in eine Umarmung. Ich kann keine Nervosität in ihren Augen entdecken, eher positive Aufregung. Das ist gut. Wir sind mittlerweile ein eingespieltes Team.

»Können wir heute wieder fliegen? Oder in die Achterbahn? Oder ausreiten?«, flüstert sie mir zu.

»Ich gebe mein Bestes«, raune ich zurück.

Zufrieden wendet sich meine Cousine ab und begrüßt meine Mutter. Dann verschwindet sie mit ihrem Vater die Treppe hinauf – wie immer an solchen Abenden hat Eleni bereits früh gegessen und kann es kaum erwarten schlafen zu gehen. Ich kann ihre Schritte durch die Zimmerdecke hören. So leise wie möglich stellen meine Mutter und ich den Fisch und die Beilagen auf den Tisch. Oben wird es still.

Irgendwann kommt mein Onkel die knarzende Treppe herunter. »Sie ist eingeschlafen.« Er lächelt erleichtert, als er die Küche betritt. »Heute war ich mir nicht sicher – sie war den ganzen Tag so aufgeregt.«

Er lässt sich auf einen Stuhl sinken und sieht zufrieden auf das Essen vor sich. Neben meiner Mutter sieht er hünenhaft aus. Manchmal kann ich gar nicht glauben, dass die beiden Geschwister sind. Wo Loukas groß und breitgebaut ist, ist meine Mutter klein und zierlich. Wo er die Entspannung selbst ist, macht sie sich viel zu viele Sorgen. Nur die krausen Haare haben beide geerbt, genau wie ich.

»Träumt Eleni in letzter Zeit denn gut?«, fragt meine Mutter beiläufig und schiebt sich eine Gabel mit Kartoffeln in den Mund.

Mein Onkel und ich wechseln einen Blick. Wir wissen beide, weshalb sie das fragt.

»Gerade schlafen ja alle schlecht.« Loukas räuspert sich.

Meine Mutter nickt, ohne von ihrem Essen aufzusehen.

Ja, alle schlafen schlecht. Oder vielmehr: Alle träumen schlecht. Anfangs haben die Leute im Dorf noch Witze darüber gemacht. Doch dann wurde klar, dass es sich um ein weltweites Phänomen handelt, das die Zahlen übermüdeter Autofahrer und Unfälle in die Höhe schnellen lässt. Jetzt macht keiner mehr Witze. Jetzt diskutieren die Experten und Forscherinnen im Fernsehen über die Gründe und fordern Aufklärung.

»Und? Wie lief dein Tag, Loukas?«, versuche ich wenig geschickt das Thema zu wechseln.

Mein Onkel und ich unterhalten uns über den Fischfang und über die Fußballschuhe, die ich neulich zu meinem sechzehnten Geburtstag bekommen habe.

Irgendwann haben wir alle aufgegessen, und meine Mutter verkündet, dass sie die Küche aufräumen würde, wir sollten schon mal ohne sie hochgehen.

Ich nicke, bevor ich mit leicht schlechtem Gewissen und wachsender Aufregung die Treppe hinaufsteige.

Das, was ich vorhabe, ist gefährlich. Das weiß ich, seit ich aufgehört habe zu träumen. Seit ich meinen Vater das letzte Mal gesehen habe … Aber trotzdem kann ich nicht anders: Ich freue mich auf die Traumwelt!

Leise betreten Loukas und ich mein Zimmer. Eleni liegt in meinem Bett unter der dünnen Decke und atmet tief. Im Schein der Nachttischlampe betrachte ich ihr Gesicht und lächle. Sie träumt. Das kann ich am Zucken ihrer Augenlider erkennen. Als würde ihr Blick darunter immer wieder hin- und herfliegen. Wir haben Glück. Normalerweise dauert es ein paar Stunden, und Loukas und ich schlafen zwischendrin nicht selten ein, ehe wir Eleni in einer Traumphase erwischen. Manchmal ist es erst in den frühen Morgenstunden so weit.

Mein Onkel grinst erleichtert.

»Bereit?«, fragt er und setzt sich behutsam neben meine Cousine aufs Bett.

Ich nicke und kann die Vorfreude kaum verbergen. Muss ich aber auch nicht. Meine Mutter ist ja nicht da.

Vorsichtig beuge ich mich über Eleni. So sanft ich kann, lege ich meine Stirn an ihre und meine Hände auf ihre dunklen Locken. Jetzt muss ich loslassen. Mein Gehirn von Leere durchfluten lassen, mich nur auf Eleni konzentrieren, die im Traum nervös zuckt. Ich spüre das gewohnte Gefühl in meinem Inneren, während eine Welle aus Emotionen auf mich zurollt und mich verschluckt. Diesmal sind es Angst und Verwirrung, die über mich hereinbrechen. Ich bemühe mich, mich den Emotionen vollkommen hinzugeben, meine eigenen Gedanken auszuschalten – und die Welt löst sich auf: Elenis warme Haut an meiner Stirn, die weiche Matratze unter mir, die Atemgeräusche meines Onkels. Dann spüre ich, wie das gewohnte helle Strahlen durch meine Lider drängt, ehe es wieder dunkler wird. Ich schlage die Augen auf.

 

Vor mir türmt sich etwas auf. Riesig, dunkel und tosend. Mir bleibt kaum Zeit, Luft zu holen, da werde ich von der gewaltigen Welle erfasst und durch kalte, undurchsichtige Wassermassen gewirbelt. Sofort spüre ich Panik in mir aufwallen, weiß nicht, wo unten und oben ist. Auf so einen Albtraum war ich nicht vorbereitet.

Irgendwo unter dem Adrenalin, das mir plötzlich durch die Adern jagt, weiß ich, was zu tun ist. Das hier ist ein Traum. Ich kann das. Hier gehorcht mir alles.

Ich mobilisiere alle Kraftreserven meines nach Sauerstoff schreienden Gehirns – und entspanne mich. Widerstandslos lasse ich meinen Körper von den Wogen herumreißen, gebe mich der Macht der Natur hin und schaffe es einen winzigen Moment, die Panik in mir zu ersticken. Dieser Moment ist alles, was ich brauche. Ich spüre, wie die Wassermassen, die mich in die Tiefe ziehen, an Kraft verlieren. Und das gibt mir neue Zuversicht.

Kurz darauf legt sich der Druck auf meinem Kopf, verschwindet die Kälte des Wassers, und endlich kann ich einen tiefen Atemzug nehmen. Unter Wasser. Ich kann unter Wasser atmen. Euphorie durchströmt mich. Ich liebe Somna. In der Traumwelt ist alles möglich.

Während ich dem Licht entgegentauche, das durch die Wasseroberfläche bricht, spüre ich, wie sich das Meer um mich herum immer weiter beruhigt. Zwischen sanft hin- und herschaukelnden Wellen tauche ich auf.

Ich muss lachen. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass ich nun Eleni entdecke, die nur ein paar Meter von mir entfernt ungläubig das ruhige Meer betrachtet. Ihre Erleichterung überträgt sich durch den Traum auf mich und rieselt durch meinen Körper. Im strahlenden Sonnenschein schwimme ich zu meiner Cousine herüber.

Als sie mich bemerkt, kann ich es in ihren Augen sehen: wie ihr zunächst unfokussierter Blick klarer wird, sie zu begreifen beginnt. Abwartend beobachte ich sie. Sobald Eleni erkennt, dass sie sich in einem Traum befindet, können zweierlei Dinge passieren: Entweder sie erschrickt sich und fällt direkt aus dem Traum hinaus zurück in mein Zimmer, oder aber sie schafft es, sich im Traum zu halten, und wir beide können zusammen im bewussten Zustand Somna erkunden. Letzteres macht ziemlich viel Spaß. Und auch heute zeigt Eleni, dass sie eine talentierte Klarträumerin ist: Sie grinst mich an und offenbart die Zahnlücke zwischen ihren Milchzähnen, die sie auch im Traum nicht eingebüßt hat.

»Los, komm«, rufe ich, tauche unter und schwimme los.

Ein Glücksgefühl jagt durch meinen Körper, während ich mich mit kräftigen Armzügen durchs Wasser schiebe. Ich liebe es, mich zu bewegen! Das nun warme, ruhige Wasser streift an meinen Seiten entlang, und ich nehme Fahrt auf. Wie immer bleibt die Unterwasserwelt um mich herum verschwommen, so, als hätte ich einen Teil meiner Sehkraft eingebüßt. Lediglich Träumer und alle Dinge, die sie sehen, treten auch in Somna für mich in aller Klarheit heraus.

»Nur der Blick eines Träumers lässt die Dinge klar erscheinen.« So habe ich es einmal meinem Onkel erklärt und bin mir dabei ziemlich philosophisch vorgekommen.

Ich höre Eleni hinter mir kichern und drehe mich um. Sie hat sich in eine Meerjungfrau verwandelt. Ich unterdrücke den Drang, die Augen zu verdrehen. Jedes Mal, wenn Eleni in ihren Träumen aufwacht, gibt sie sich die Form irgendeines Fabelwesens.

Wir jagen über den Sandboden, entdecken einen Fischschwarm, in den wir uns hineinstürzen, und lassen uns von der Strömung tragen.

Irgendwann tauchen wir wieder auf, und ich kann in der Ferne die Umrisse einer Insel erkennen, die mir bekannt vorkommt. Eleni entdeckt sie ebenfalls und steuert kichernd und mit kräftigen Schwanzbewegungen darauf zu.

Wie erwartet taucht kurz darauf die Kaimauer unserer Insel vor uns auf. Die Fischerboote unserer Nachbarn sind davor vertäut, und auf dem kleinen Marktplatz kann ich einen riesigen Eisstand ausmachen.

Ich drehe mich zu Eleni um.

»Warst du das?«, frage ich, obwohl ich die Antwort bereits kenne.

Sie gluckst zufrieden.

Ich schwimme zum Landungssteg und greife nach dem glitschigen Holz.

»Na gut«, sage ich, »dann holen wir uns ein Eis.«

Ich stemme mich auf den Steg und ziehe Eleni – wieder zum Menschen geworden – ebenfalls hinauf.

Kurz schließe ich die Augen und merke sofort, wie mich warme, trockene Kleidung umhüllt.

Als ich die Augen wieder öffne, ist Eleni bereits an mir vorbei über den Steg und zum Eisstand gerannt. Ich folge ihr.

Genau wie auf unserer wirklichen Insel scheint auch hier die Sonne wärmend auf den Marktplatz herab. Nur fehlen die Verkaufsstände, und irgendwie ist hier alles etwas besser in Schuss, als es in Wirklichkeit der Fall ist: Die verschwommenen Fassaden der Häuser glänzen, die Pflastersteine unter meinen Füßen fühlen sich an wie glattpoliert.

Ich gehe auf den Eiswagen zu, der in aller Klarheit aus der Unschärfe seiner Umgebung hervorsticht. Eleni streckt mir ein Eis entgegen, das ich dankend annehme. Dann lasse ich den Blick schweifen. Es sind einige Leute auf dem Marktplatz. Die meisten gehören zur Traumkulisse: Sie sind unscharfe Silhouetten, deren Gesichtszüge nur dann hervortreten, wenn Eleni sie ansieht – Traumstatisten. Und zwischen ihnen erstaunlich viele Träumer, die gestochen scharf aus der verschwommenen Masse heraustreten. Ich behalte sie im Auge, man kann nie wissen.

Zusammen mit Eleni setze ich mich auf eine Bank, und wir essen unser Eis. Es schmeckt köstlich. Zum Glück, denn so richtig weiß man in Somna nie, was man bekommt. Hier kann es einem auch passieren, dass das Eis nach Käsefüßen schmeckt oder sich plötzlich in ein Ungeheuer verwandelt – oder in sonst etwas, was dem Unterbewusstsein der Träumer gerade entspringt. Aber gerade dieser Nervenkitzel – nicht zu wissen, ob die Idylle jeden Moment in sich zusammenbrechen könnte – lässt das Eis noch besser schmecken.

»Können wir für immer hierbleiben, Sel?«, fragt Eleni neben mir, und ich spüre, wie ihre Zufriedenheit durch mich hindurchströmt.

Gerade will ich lachend zu einer Antwort ansetzen, da bleibt mein Blick an etwas hängen: Ein Augenpaar, das mich von der anderen Seite des Marktplatzes her ansieht. Es fühlt sich wie ein elektrischer Schlag an, der durch meinen Körper fährt. Mein Herz beginnt zu rasen, und ich setze mich auf. Es ist, als hätte etwas in mir nur darauf gewartet. Auf den Beweis, dass die Idylle trügt. Auf dieses Mädchen, die Züge klar wie die einer Träumerin, doch der Blick eindeutig fokussierter.

Wir sehen uns an, bis sich eine Gruppe von Träumern zwischen uns schiebt.

Ich beuge mich zur Seite, um an dem Rücken eines korpulenten Mannes vorbeizuspähen. Doch das Mädchen ist verschwunden.

Jäh zieht eine Gänsehaut über meinen Körper. Habe ich mir das gerade eingebildet? Nein. Die Fremde hat mich angesehen – fokussiert, wach … und wissend.

»Wenn du jemanden von der Traumunion siehst, kommst du sofort zurück«, hallt die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf wider.

Aber das kann nicht sein. Sie kann nicht von der Traumunion sein. Sie ist ein Mädchen .

Dennoch, auch wenn ich mich von der Angst meiner Mutter nicht anstecken lassen möchte, werde ich das Gefühl nicht los, dass hier etwas nicht stimmt.

Mein gesamter Körper spannt sich an. Elenis Zufriedenheit, die mich durchströmt, hält mich gerade noch davon ab, von der Bank aufzuspringen. Dann passiert es. Im Augenwinkel nehme ich eine jähe Bewegung wahr, erkenne eine schwarz gekleidete Silhouette und weiß intuitiv, dass es das Mädchen ist. Ich wirble herum.

Sie steht regungslos da, die Augen auf mich gerichtet. Aus der Nähe ist ihr Blick noch intensiver. Und in diesem Moment wird mir klar, dass ich das Mädchen schon einmal gesehen habe. In Somna? In der wachen Welt? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur: Da ist eine Vertrautheit, die mich gleichzeitig beruhigt und eine erneute Welle des Schocks durch meinen Körper jagt. Für einen kurzen Moment kann ich nichts tun als sie anzustarren. Sie starrt zurück.

Die glatten schwarzen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, über den breiten Wangenknochen funkeln dunkle Augen.

»Hi.« Sie haucht das Wort mehr, als dass sie es sagt. Mein Blick zuckt über ihren Körper. Keine Uniform. Keine Traumgängerkette. Und doch. Das hier ist keine schlichte Klarträumerin. Das weiß ich mit absoluter Sicherheit. Obwohl das unmöglich ist. Unmöglich.

Langsam und kontrolliert erhebe ich mich von der Bank.

»Was willst du von mir?« Meine Stimme ist brüchig.

Sie blinzelt.

»Ich … Du bist Theo Parkers Tochter, nicht wahr?«

Etwas in mir löst sich und stürzt ins Bodenlose. Sie kennt meinen Vater. Meinen Vater. Ich weiche zurück und stoße rücklings mit jemandem zusammen. Im Augenwinkel sehe ich, wie Eleni erschrocken aufspringt.

Noch immer suche ich nach etwas, das die Fremde als Mitglied der Traumunion verrät. Woher kennt dieses Mädchen meinen Vater?

Sie macht einen Schritt auf mich zu, will nach mir greifen. Da stolpere ich und falle auf harte Pflastersteine. Die Eiswaffel in meiner Hand zerbricht, und die klebrig kalte Masse verteilt sich über meine Finger.

»Selena!«

Das Mädchen steht über mir. Ihr Ausdruck ist so wach, so drängend. Mein Herz hämmert.

»Eleni! Weg hier!«, rufe ich meiner Cousine zu und sehe, wie sich die Augen der Fremden weiten.

»Nein! Warte!«, ruft sie, beugt sich abrupt zu mir herunter und packt meinen Arm. Ihr Griff ist fester, als ich es erwartet habe. Ich höre Eleni – oder mich selbst – aufschreien, ganz sicher bin ich mir nicht. Dann schaffe ich es, mich loszureißen. Weg. Sofort weg.

Wie eine äußere Schale fällt der Traum von mir ab, und darunter spüre ich eine andere Realität: Meinen gebeugten Rücken, die Matratze unter mir und Elenis schweißnasse Locken zwischen meinen Fingern.

Ich fahre auf. Die Eiscreme an meiner Hand verklebt Elenis Haare. Ohne nachzudenken, wische ich die Reste am Bettlaken ab.

»Du bist ja schon wieder da«, höre ich Loukas hinter mir. Doch ich sehe mich nicht zu ihm um, sondern rüttele an Elenis Schultern, bis diese die Augen aufreißt und hektisch meinen Blick sucht.

»Sorry«, flüstere ich und umarme sie, »aber du musst kurz den Traum wechseln, okay?«

Elenis Atem stößt warm und hektisch gegen meinen Hals. Ich streichle ihr über den Rücken und warte, bis er sich ein wenig verlangsamt.

»Es war nur ein Albtraum. Du kannst jetzt weiterschlafen. Denk an was ganz anderes. Athen. Denk an Athen, ja?« Ich schenke ihr ein hoffentlich beruhigendes Lächeln und bette sie wieder auf ihr Kissen.

»Was ist los?«, fragt Loukas, nachdem Eleni die Augen wieder geschlossen hat.

Ich versuche meinen Gesichtsausdruck so entspannt wie möglich wirken zu lassen.

»Nichts.« Ich schlucke. »Nur ein schlechter Traum.«

Er sieht von mir zu Eleni, zu dem Eis auf dem Bettlaken.

»Du solltest Eleni mal Schwimmunterricht geben«, bemerke ich beiläufig, aber mein Onkel fällt nicht so leicht auf mein Lächeln herein wie meine Cousine.

»Was ist passiert?«, brummt er und will nach meinem Arm greifen – ganz wie das Mädchen eben in Somna. Ich zucke zurück. Eine tiefe Furche entsteht zwischen den Augenbrauen meines Onkels.

»Was ist passiert, Sel?«, wiederholt er sanft.

Ja. Was ist eigentlich passiert? Was genau an diesem Mädchen hat mich so aus der Fassung gebracht? Der Blick meines Onkels bringt ein wenig Klarheit in meinen Kopf zurück.

»Da war ein Mädchen …«, beginne ich.

»Ein Mädchen?«

»Ja, eine junge Frau. Ungefähr in meinem Alter. Und sie …«, ich zögere, »sie war wach

»Eine Klarträumerin?«

Ich schüttele den Kopf und sehe, wie die Furche auf Loukas’ Stirn immer tiefer wird. Sein Zweifel hängt in der Luft, aber er spricht ihn nicht aus. Das muss er auch nicht – ich weiß genau, was er denkt. Es gibt keine weiblichen Traumgänger. Zumindest keine außer mir.

»Ist ja auch egal. Ich bin jedenfalls abgehauen. Mama wäre stolz auf mich.«

Ich höre den Sarkasmus in meiner Stimme und rutsche von Loukas weg. Irgendwo in mir spüre ich den Impuls, einfach wieder in Elenis Traum einzusteigen und zu dem Marktplatz zurückzukehren. Vielleicht ist das Mädchen noch da.

Loukas betrachtet mich nachdenklich. »Dir ist klar, dass du vorsichtig sein musst, Sel«, sagt er, und ich weiß, dass er mir ansieht, was ich denke.

Ohne seinem Blick zu begegnen, lege ich mich neben Eleni auf die Matratze. Mein Arm pocht im Rhythmus meines Herzschlags, genau dort, wo die Fremde ihn gepackt hat. Vorsichtig sein. Ja. Vorsichtig bin ich schon mein ganzes Leben lang. Aber plötzlich weiß ich nicht mehr, wie lange ich das noch sein kann.

Ich lege meinen Kopf neben den der schlafenden Eleni, starre an die Zimmerdecke, lausche ihren Atemzügen und den dumpfen Schritten, mit denen Loukas mein Zimmer verlässt. Vor meinen halb geschlossenen Augen schwimmt das Gesicht der Fremden.

Im Türrahmen webt eine Spinne ein Netz. Sie bewegt sich schleichend und effizient, nie hastig, während sie ihren Faden hervorpresst. Immer dichter wird das Netz. Eine Fliege surrt in der gegenüberliegenden Zimmerecke.