D er Schmerz pulsiert von der Brust durch meinen Körper und zieht meine Sinne unsanft aus der schwarzen Bewusstlosigkeit.
Meine Glieder sind schwer, als hätte jemand Gewichte darauf verteilt. Unter meinen Fingern spüre ich weichen Stoff. Ein Bettlaken vielleicht? Oder die Polster eines Sofas? Langsam nimmt die Erinnerung in meinem Inneren Form an. Das fremde Mädchen. Die Männer, die plötzlich aufgetaucht sind.
Ich blinzele und schließe die Augen sofort wieder – selbst das spärliche Licht, das mich umgibt, schmerzt.
Einige Sekunden verstreichen, dann öffne ich die Augen erneut, und diesmal gelingt es mir, sie offen zu halten. Ich drehe den Kopf und lasse den Blick durch den kleinen Raum mit den altmodischen Möbeln wandern.
Ich liege auf einem mit Samt bezogenen Sofa. In der Ecke steht ein Regal voller Bücher, und über ein paar Sesseln, die um ein Holztischchen mit einem Kandelaber darauf gruppiert sind, brennt eine Lampe. Ihr Schein wird von den nachtschwarzen Fenstern zurückgeworfen. Als ich versuche, mich aufzusetzen, muss ich feststellen, dass meine Hände vor dem Bauch gefesselt sind. Hitze jagt durch meinen Körper. Wo bin ich? Ist das hier die Traumunion?
Ich versuche es erneut, und diesmal schaffe ich es, mich aufzurichten. Ein stechender Schmerz durchzieht meinen Kopf. Ich schlucke und versuche die Benommenheit wegzublinzeln. Es funktioniert nicht.
Einen Moment sitze ich regungslos da, merke, wie meine Sicht unscharf wird. Bin ich doch noch in Somna? Mit meinen Gedanken versuche ich die Fesseln um meine Hände zu lösen. Nichts tut sich. Also tatsächlich nicht Somna, sondern Corpora. Die wache Welt.
Meine Finger fliegen zu meiner Hosentasche, und Erleichterung durchströmt mich, als ich den Zettel mit der Notiz meines Vaters ertaste. Wärme strahlt davon aus und schenkt mir neue Entschlossenheit.
So leise ich kann, lasse ich meine Turnschuhe auf den Holzboden sinken und stehe auf. Ich zerre an meinen Fesseln. Keine Chance. Meine Hände sind mit einem dicken Seil verknotet, das mir schmerzhaft die Haut aufreibt. Der Knoten ist mit den Fingern nicht zu erreichen.
Auf der Suche nach etwas Scharfem sehe ich mich im Raum um und mache dabei ein paar schwankende Schritte. Was auch immer sie mir in Somna verabreicht haben – es macht mich immer noch benommen.
Zuerst schaue ich mir das Regal genauer an, doch darin stehen nur alte Bücher. Wenn ich mich nicht irre, sind die Titel in deutscher Sprache verfasst. Bin ich in Deutschland? Zumindest würde das zur Traumunion passen. Schließlich steht deren Zentrale mitten in Berlin. Aber wie kann das sein?
Ich drehe mich um, lasse den Blick durch den restlichen Raum schweifen. Nichts. Nicht mal ein Nagel ragt aus der Wand.
Mit wenigen Schritten durchquere ich das Zimmer und presse das Gesicht ans Fenster. So gut es mit den verknoteten Händen geht, schirme ich meine Augen gegen die Spiegelung ab.
Ich kann eine sporadisch von Lampen erhellte Auffahrt und eine steinerne Hausfront mit Erkern erkennen. Unter meinem Fenster sehe ich die Schemen großer Autos. Ich schlucke. Wo bin ich? Wie bin ich hierhergekommen? Und vor allem: Wie komme ich hier wieder weg? Kann ich irgendwie das Fenster öffnen und einen Sprung auf die Dächer der Autos wagen?
Doch bevor ich prüfen kann, ob sich das Fenster öffnen lässt, überkommt mich erneuter Schwindel, und ich sinke gegen die Fensterbank. Etwas in meinem Hals zieht sich zusammen. Nun ist das eingetroffen, wovor meine Mutter mich immer gewarnt hat. Was ihr so unendlich viele schlaflose Nächte bereitet hat. Dass mir in Somna etwas passieren würde.
Jäh erstarre ich. Vor der Tür sind Schritte zu hören. Ohne nachzudenken, greife ich mit meinen gefesselten Händen nach dem Kandelaber, der ganz in der Nähe zwischen den Sesseln steht. Er ist schwerer als gedacht, und ich muss alle Kraft meines benommenen Körpers aufwenden, um ihn in einer Art Abwehrhaltung vor mir zu erheben.
Ein Schlüssel dreht sich im Schloss, und die Tür wird geöffnet.
Ein blonder Typ steht im Rahmen – vermutlich nur ein paar Jahre älter als ich. Auf seinem Gesicht zeichnet sich Überraschung ab.
Dann lacht er. »Das würde ich an deiner Stelle lassen.«
Sein Englisch hat einen ganz leichten Akzent.
Der Kandelaber erzittert über meiner Schulter.
»Wo bin ich?«
Meine Stimme klingt schwach. Gar nicht so, wie ich es beabsichtigt hatte.
Der Typ sagt nichts. Er trägt ein dunkles Sportoutfit, und in diesem Moment fällt mir der grüne Anhänger auf, der auf seinem Shirt baumelt.
Ich kann den Kandelaber nicht länger halten, und er fällt laut polternd zu Boden.
»Wie heißt du?«, fragt der Typ bloß.
Ich erlaube mir, mich erneut gegen das Fenster in meinem Rücken zu lehnen. Lieber das, als hier das Gleichgewicht zu verlieren und vor diesem Typen zu Boden zu stürzen. Ist das Mitleid, das sich da plötzlich auf seinen Zügen zeigt?
»Wie bin ich hierhergekommen?« Mein Name geht ihn gar nichts an.
»Mein Onkel hat dich hergebracht. Hast eine ordentliche Dosis Debix abbekommen –«
Mein Gesicht muss meine Verwirrung offenbaren, denn er sagt: »Du hast keine Ahnung, was Debix ist, oder?«
Ich sage nichts.
Er schüttelt den Kopf, als wolle er einen Gedanken verscheuchen.
»Ist jetzt eh egal.«
Kurz sieht er mich wieder an, als würde ich ihm leidtun. Dann wird sein Gesichtsausdruck hart. »Komm mit. Ich soll dich zu den anderen bringen. Die warten schon länger darauf, dass du aufwachst.«
Er sagt es, als wäre ich zu spät zu einer Verabredung. Dann geht er zur offenen Tür.
Ich bewege mich nicht.
»Eins kann ich dir versichern. Dich zu weigern wird dir nichts bringen.«
Fast klingen seine Worte traurig. Oder täusche ich mich? Erneuter Schwindel lässt den Holzboden des Salonzimmers kippen, und ich muss mich mit den gefesselten Händen an der Fensterscheibe abstützen. Ich blinzele. Atme tief.
Als ich wieder klar sehen kann, steht der Blonde neben mir und packt mich am Shirt. Unsanft werde ich von ihm in Richtung Tür und hinaus auf einen langen Gang gezogen. Kaum bemerke ich den makellosen Teppich und die alten Holztüren, die die Wände säumen, während mich der Typ vor sich herschiebt. Einmal verliere ich das Gleichgewicht und knalle nur deshalb nicht gegen die Wand, weil der Blonde mich auffängt.
Irgendwann öffnet er eine Tür. Es sind ausnahmslos Männer, die uns ihre Köpfe zuwenden, als wir eintreten. Grüne Anhänger funkeln wie eine unausgesprochene Warnung auf ihren Brustkörben.
»Ah, Paul!«, sagt ein Grauhaariger, der uns entgegenlächelt.
Der Mann steht neben einem großen Bett mit altmodischen Holzverschnörkelungen.
Auf dem Bett liegt jemand. Als der Blonde – offensichtlich heißt er Paul – mich weiter in den Raum zieht, erkenne ich, dass es ein kleiner Junge ist. Er ist vielleicht acht oder neun und hat einen dunklen Anzug an, die Hände auf dem Bauch gefaltet. Fast sieht es aus, als wäre er auf seinem Totenbett aufgebahrt – wären da nicht die sanften Atembewegungen und die klobige silberne Maske, die er über den Augen trägt. Sie zeichnet seine Traumaktivität auf, so viel weiß ich aus den Berichten über die Traumunion.
Eine Uhr tickt unglaublich laut in die Stille hinein. Mir ist schlecht, und alles, was ich tun kann, ist, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Da komme ich direkt vor dem grauhaarigen Mann zum Stehen, und werde losgelassen.
»Willkommen, Traumgängerin«, sagt er und streckt seine Hand nach mir aus. Instinktiv weiche ich zurück und stoße dabei gegen Paul, der direkt hinter mir steht.
»Wie heißt du?« Beginnt er ebenso wie Paul wenige Minuten zuvor.
Als ich nicht antworte, zuckt er mit den Schultern, als wäre mein Name sowieso völlig gleichgültig.
Eine dunkle Ahnung befällt mich.
»Paul? Tust du uns den Gefallen?«, fragt der Alte.
Paul geht, ohne mich zu beachten, zum Bett. In absoluter Stille beugt er sich über den schlafenden Jungen, nimmt fast liebevoll seinen Kopf in die Hände und berührt mit seiner Stirn die des Jungen.
Einen Moment lang passiert nichts. Ich überlege, ob ich den Augenblick nutzen und fliehen sollte. Doch bevor ich einen klaren Gedanken fassen kann, werde ich davon abgelenkt, dass der Blonde verschwindet. Einfach so. Als würden sich seine Konturen in Luft auflösen. Genauso wie ich es immer in den Dokus über die Traumgänger gesehen habe.
Stille liegt ungebrochen über dem Raum. Ich merke, wie sich mehrere Augenpaare in meinen Rücken bohren.
»So. Jetzt du, Traumgängerin.« Der Grauhaarige schiebt mich so plötzlich in Richtung des Bettes, dass ich stolpere und fast auf den schlafenden Jungen falle. Ich werde zurückgerissen und kann den herben Atem des Mannes riechen, als er mir ins Gesicht zischt: »Vorsichtig. Wenn du irgendwas versuchst, bist du dran. Das verspreche ich dir.« Ich erstarre, als ich etwas Kaltes an meinem Hals spüre. Den Lauf einer Waffe?
Das Adrenalin beschert meinen schwerfälligen Gedanken Klarheit: Hier kann ich nichts gegen die Männer ausrichten. Wenn ich eine Chance haben will, muss ich nach Somna gehen. Dort verfüge ich über Traumwandlungen. Am besten spiele ich das eingeschüchterte Mädchen und tue, was mir gesagt wird. Schwer fällt mir das nicht. Meine gefesselten Hände zittern, als ich mich zu dem Jungen hinunterbeuge und seinen Kopf umfasse.
Ich spüre den Mann dicht neben mir.
Nichts wie weg hier.
In meinem benommenen Zustand fällt mir der Einstieg nach Somna leichter als je zuvor. Es ist wie eine Erlösung, sich den Emotionen hinzugeben, die mir von dem Jungen entgegengespült werden. Aufregung, Freude und Angst reißen mich davon, ich lasse das seltsame Zimmer und die auf mich gerichteten Augenpaare hinter mir, und für einen Moment bin ich schwerelos, umgeben von Emotionen und Helligkeit.
Als ich die Augen öffne, stehe ich auf einem Feld. Ein Meer aus Getreideähren wogt um meine Hüften, und in der Ferne zeichnen sich verschwommen die Konturen eines Gebirges ab. Sommerwind zerrt an meinen Haaren.
Doch bevor ich irgendetwas tun kann, werde ich zu Boden gerissen. Noch während ich den Kopf drehe, um meinen Angreifer sehen zu können, spüre ich, wie sich Fesseln um meinen ganzen Körper legen. Scheiße. Ich bin in Somna. Und trotzdem war er schneller als ich.
»Wehr dich nicht. Dann geht es ganz schnell«, höre ich Pauls Stimme direkt neben meinem Ohr.
Ich muss etwas tun, doch meine Gedanken bewegen sich unendlich langsam. Und noch bevor ich einen von ihnen zu fassen bekomme, wird mein Körper sanft in die Luft gehoben. Gemeinsam mit Paul, der gut einen Meter Abstand hält, fliege ich über die Ähren hinweg.
Ein Licht. Grell und allumfassend, wie ein leuchtender Bogen, taucht vor uns auf. Und davor bewegen sich schemenhafte Gestalten. Ich weiß, was das ist. Und ich weiß, dass ich diesem Ding nicht zu nahe kommen darf. Das vertraute Grauen ballt sich tief in mir zusammen, während wir unaufhaltsam auf das strahlende Tor zusteuern.
Ich stemme mich gegen die Fesseln und verwende meine gesamte Kraft darauf, mich trotz der Benommenheit zu konzentrieren. Mit einem Knall bersten die Seile, die mich umschließen, und fallen wie tote Schlangen zu Boden. Doch die Euphorie, die mich in eine zufällige Richtung losrasen lässt, währt nur kurz. Etwas trifft mich an der Schulter, und unvermittelt verliere ich an Geschwindigkeit. Ohne mich abfangen zu können, schlage ich im Dreck auf. Mein ganzer Körper schreit vor Schmerz.
»Hast die Kleine wohl nicht im Griff.« Ein weiterer Traumgänger landet gemeinsam mit Paul an meiner Seite, gerade steckt er eine Waffe zurück in den Holster. Debix, denke ich verschwommen, während Paul etwas Unverständliches murmelt. Doch sie müssen mir eine schwächere Dosis verpasst haben, denn ich schaffe es, bei Bewusstsein zu bleiben.
Ich blinzele. Es ist so hell. Viel zu hell. Jemand packt mich und zerrt mich auf die Füße. Da ist ein Stöhnen. Mein Stöhnen. Um mich herum bewegen sich Gestalten. Sind das die Männer von zuvor? Nein, es sind mehr. Viel mehr. Mein Körper prallt gegen fremde Schultern und Rücken, während ich durch eine Menschenmenge gezerrt werde.
Dann werde ich losgelassen. Fast blind stolpere ich dem Tor entgegen und lasse mich davor auf die Knie fallen. Wenn ich die Hände ausstrecken würde, würden sie in dem seltsamen Strahlen verschwinden.
»Jetzt, Max«, sagt jemand hinter mir. »Du musst sie hinter das Tor stoßen. Aber pass auf, dass du nicht selbst hineinfällst.«
Unbändige Angst überkommt mich. Doch es ist nicht meine eigene. Ich bin völlig ruhig. So viel weiß ich. Als hätte das Debix und die Ausweglosigkeit meiner Situation alle Emotionen in mir abgetötet. Es ist die Angst des Träumers, die ich spüre. Die Angst des kleinen Jungen, der jetzt neben mich tritt.
Mit unglaublicher Anstrengung sehe ich zu ihm auf. In dieser Position ist er einen guten Kopf größer als ich.
Seine wachen, blauen Augen sehen mich an, und einen Moment existieren nur sie und die Angst in ihnen.
»Max!«, ertönt es aus dem Hintergrund. »Wir haben doch darüber gesprochen. Das ist deine Aufgabe. Du willst doch so werden wie wir alle, oder?«
Ich werde von irgendjemandem gepackt und auf die Beine gestellt. Ein Schritt, und ich wäre auf der anderen Seite des Tors. Der Gedanke hat plötzlich etwas Tröstliches. Als hätte ich schon einmal eine ähnliche Situation erlebt.
Ich greife nach der Erinnerung, die vor mir liegt, doch sie entflieht mir immer wieder. Da spüre ich zierliche Hände an meinem Rücken.
Ich schließe die Augen und warte. Bin bereit, mich nach vorne fallen zu lassen, sobald mir die Hände auch nur den kleinsten Schubs geben.
Doch nichts passiert.
»Wir können es auch anders regeln«, höre ich eine Männerstimme, und etwas klickt, als würde ein Revolver geladen.
»Hier, Max, nimm. Aber lass sie nicht los.«
Jetzt durchströmt mich doch Angst, die definitiv meine eigene ist.
»Als ob es das einfacher für ihn machen würde«, höre ich eine andere Stimme.
Die Kinderhände rutschen über meinen Rücken.
Dann geschieht alles ganz schnell. Ein Knall. Abermals ein Stich, diesmal in meiner Seite. Ein Schmerzenslaut, der meinem eigenen Mund entfährt. Ein Aufschrei, der aus verschiedenen Männerkehlen erklingt.
Haben sie mich erschossen?
Ich lasse mich auf die Knie fallen. Jetzt wird er kommen: Der Schmerz. Die Dunkelheit. Der Tod. Doch nichts dergleichen passiert. Stattdessen spüre ich, wie die Schwärze aus meinem Sichtfeld weicht, die Benommenheit sich zurückzieht und neue Stärke durch meinen Körper strömt.
Mein Kopf ruckt nach oben.
Ich liege inmitten einer Menschenmenge vor dem strahlenden Tor. Direkt vor mir steht eine Handvoll Männer und sieht sich hektisch um.
Als ich ihren Blicken folge, kann ich gerade noch sehen, wie eine Gestalt ein paar Meter von uns entfernt kehrtmacht und die Flucht ergreift.
Und da erkenne ich den schwarzen Haarschopf, der hinter der zierlichen Gestalt herweht. Die Traumgängerin. Kann das sein? Zusammen mit einer anderen, vermummten Gestalt fliegt sie davon, und ich verschwende keine Sekunde. Das ist meine Chance! Ich katapultiere mich in die Höhe und schieße erst über die Köpfe der fremden Menschen und dann über die Ähren des Weizenfeldes hinweg.
Meine Seite schmerzt, und als ich die Hand dorthin gleiten lasse, ertaste ich einen schmalen Pfeil. Mit einem Ruck ziehe ich ihn aus dem Fleisch. Es ist, als würde irgendeine neue Droge durch meine Adern fließen, die mich handeln lässt, ohne nachzudenken. Ich bin ein einziges Bündel an Energie und Reaktion.
War das die Traumgängerin? Mit was zum Teufel hat sie mich da gerade getroffen? Ich werfe einen Blick über die Schulter und sehe, dass einige der Männer mir folgen.
Unter mir verändert sich die Landschaft, breitet sich eine unwirtliche Fläche aus leicht verschwommenen Felsbrocken aus. Vielleicht kann ich in dem Labyrinth aus Steinen meine Verfolger abschütteln.
Etwas zischt an meinem Kopf vorbei. Nein. Sie werden es nicht schaffen, mich noch einmal zu betäuben. Ich schlage eine scharfe Rechtskurve ein und rase direkt in einen Felsspalt hinein.
Die steinernen Wände nehmen mich auf wie eine schützende Umarmung. Doch das Gefühl bleibt nur einen winzigen Moment bestehen. Dann höre ich, wie jemand hinter mir brüllt. Scheiße. Ich muss mir etwas einfallen lassen.
Ohne zu zögern, forme ich das Erste, was mir einfällt. Keine Sekunde später ertönt ein lauter Knall. Ich entscheide, mich nicht umzusehen, um herauszufinden, welcher der Männer gegen die Glasscheibe geflogen ist, die ich kurzerhand in der Felsspalte habe erscheinen lassen. Was auch immer passiert ist. Es war Notwehr.
Die Rufe der Männer klingen gedämpft. Dann höre ich Glas splittern und rase durch eine Öffnung im Fels, zurück auf das Feld hinaus. Ich muss weg. Weit weg. Und zwar schnell.
Doch bevor mein Kopf einen Plan ausspucken kann, höre ich etwas, das mich zusammenschrecken lässt.
Meinen Namen.
Er wurde nicht gerufen, sondern geflüstert. Eindringlich. Zischend. Irgendwo aus dem Felslabyrinth heraus. Gerade laut genug, dass ich ihn hören konnte.
Ein irrwitziger Drang lässt mich umkehren und zu der Stelle zurückfliegen, an der ich die Stimme gehört habe.
Da ist eine weitere Felsspalte. Eng und schmal. Und aus der Dunkelheit des Spalts sehen mich zwei Augen an. Dann streckt sich mir eine Hand entgegen.
Ich erstarre in der Luft, stürze fast zu Boden.
»Schnell, Selena«, zischt die fremde Traumgängerin.
»Wer bist du?«, entfährt es mir.
»Ich will dir helfen, verdammt.« Unsere Blicke verhaken sich ineinander.
Da höre ich wieder Rufe hinter mir. Mein Kopf wirbelt herum, und ich erkenne drei Traumgänger, die auf mich zurasen.
Ich muss hier weg, doch irgendetwas hält mich an Ort und Stelle. Ich kann nicht fliehen, aber auch nicht der Fremden in ihr Versteck folgen. Es ist, als wäre ich in der Entscheidung erstarrt.
Dann ist der Moment vorbei und mit ihm die Chance zur Flucht. Diesmal treffen mich mehrere Geschosse genau über dem Herzen, und heißer Schmerz fährt durch meinen Körper, gefolgt von einer Dunkelheit, die sich fast unmittelbar über mich legt.
Ich spüre, wie ich stürze.
Doch es folgt kein Aufprall. Stattdessen reißt jemand an meinem Arm. Ein letztes Mal zwinge ich mich, die Augen zu öffnen, und sehe direkt in das Gesicht der Traumgängerin. Ihr Blick geht über mich hinweg, auf etwas, das ich nicht sehen kann. Alles in ihren Zügen spiegelt Entschlossenheit.
Dann verschwindet die Welt um mich herum, und ich werde abermals in die Dunkelheit davongetragen.