8 Ria

I ch stehe am Fenster und sehe hinaus in die Nacht. Hier, mitten in Berlin, wird es niemals komplett dunkel. Laternen erhellen die Straße, die sich unter mir an der Spree entlangschlängelt, und ich entdecke ein paar Passanten, die die Sommernacht wachhält.

Das Büro meines Vaters ist sicherlich eines der guten: Mit einem großen Eckfenster, das die Sicht über den Fluss und die Straßen rund um den Sitz der Traumunion freigibt. Die Deckenleuchten malen mein Spiegelbild auf die Scheibe vor mir und verbergen die Konturen der Stadt. Erschöpfung, Angst, Aufregung … Hoffnung. Das alles vermengt sich in meinem Inneren und hinterlässt seine Spuren auf meinem Gesicht.

Aber eins weiß ich: Egal, was jetzt passiert, egal, wie lange sich der Blick meines Vaters noch in meinen Rücken bohrt, ich kann meinen Ausflug nach Somna nicht bereuen. Dafür hat es sich zu richtig angefühlt.

Nur der Gedanke an Yunus, der mich einfach hat stehen lassen, brennt in mir wie Galle. Warum hat er mich im Stich gelassen? Nachdem er es gewesen ist, der mich überhaupt nach Somna gebracht hat? Nachdem wir uns fast –

Ich versuche, den Gedanken zu verdrängen und wende mich zu meinem Vater. Er sitzt an seinem Schreibtisch mit dem riesigen Computerbildschirm und den gerahmten Fotos. Ich gehe zu dem Sofa auf der gegenüberliegenden Seite und lasse mich darauf fallen.

»Ria.«

Mein Vater scheint nach den richtigen Worten zu suchen, betrachtet seine Hand und dreht sie schnell vom Handrücken zur Handfläche und zurück. Er testet, ob er sich in einem Traum befindet. In Somna ist das Gehirn der Träumer nämlich nicht in der Lage, die Handfläche schnell genug mit dem Handrücken zu ersetzen. Hat man als Klarträumer auf beiden Seiten einen Handrücken, weiß man, dass man sich in Somna befindet. In Situationen, die meinem Vater absurd vorkommen, macht er immer diese Bewegung. An diesem Abend schon unzählige Male. Wie ein nervöser Tick.

Ich greife nach einem der Dekokissen auf der Couch und umklammere es vor dem Bauch.

»Ria«, wiederholt er.

»Was?«, platzt es aus mir heraus. Endlich legt er seine Hand auf den Schoß.

»Das muss ein riesiger Irrtum sein.«

Ich seufze. Das also wieder.

»Ist es nicht, Papa. Das haben wir jetzt doch schon mehrmals durch.«

»Aber …«, beginnt er schwach, und ihm scheinen die Worte auszugehen. Seit er mich auf dem Tempelhofer Feld abgeholt und hierhergebracht hat, drehen wir uns im Kreis.

»Papa. Glaub mir.« Ich hole tief Luft und zwinge mich, die ungewohnten Worte mit so viel Überzeugung wie möglich über die Lippen zu bringen: »Ich bin eine Traumgängerin.«

Er sieht mich nur an und schweigt. Wieder dreht er seine Hand hin und her.

»Kannst du das bitte lassen?«, frage ich entnervt.

Mein Vater antwortet nicht, aber er lässt die Hand zurück auf den Schoß sinken. Es ist so still zwischen uns, dass ich das monotone Rauschen der Klimaanlage hören kann.

»Wieso hast du mir nichts davon gesagt?«, murmelt er endlich, und ich muss lachen.

»Ich hab’s dir doch gesagt. Zigmal hab ich’s dir gesagt. Aber du hast mir ja nicht geglaubt.«

Meine Stimme klingt weniger wütend und viel verletzter, als ich es vorgehabt habe. Aber wie kann er behaupten, dass ich ihm nie erzählt hätte, dass ich nicht träume?

»Ich hätte bestimmt eine Lösung gefunden«, sagt er, als hätte er mich gar nicht gehört.

»Eine Lösung?«

»Ja. Eine Lösung. Eine Lösung, die nicht so ein riesiges Chaos verursacht hätte.« Er sieht mich verärgert an.

Erneut lache ich freudlos auf.

»Sorry, dass dir das Ganze hier Unannehmlichkeiten bereitet.«

Sein Gesicht zuckt, und plötzlich wandelt sich sein Ärger in Verzweiflung. Der Pressesprecher der Traumunion ist aus seiner gesamten Haltung gewichen, und da sitzt nur noch mein hilfloser Papa vor mir, der den Blick senkt.

»Du kannst keine Traumgängerin sein, Ria.«

Gerade will ich etwas Entnervtes erwidern, als er hinzufügt: »Du darfst keine Traumgängerin sein.«

Er sagt es nicht abschätzig. Eher klingt es wie ein Wunsch, den er wahr werden lassen will, indem er ihn nur laut ausspricht.

»Warum?«, flüstere ich.

Er sieht mich an, zögert. Es wirkt, als würde er innerlich mit sich kämpfen.

»Weil die Traumgängergabe etwas sehr Wertvolles ist.«

Ärger kocht in mir hoch.

»Und ich habe sie nicht verdient?«

Er schüttelt den Kopf.

»Es gibt viele Leute, die alles für diese Gabe geben würden. Und damit meine ich alles. Immer wieder verschwinden Traumgänger, und neue tauchen auf. Das Leben als Traumgänger ist gefährlich, Ria. Und als Traumgängerin …« Er bricht ab.

»Aber die Traumunion kann mich doch beschützen«, entfährt es mir.

Wieder zögert er, und jeder Muskel seines Gesichts scheint sich zu versteifen. Dann nickt er zustimmend. »Es ist gut, dass die Traumunion dich gefunden hat.«

Wie von einer jähen Unruhe befallen, steht er auf. »Sie wollen einen Test mit dir machen. Du sollst gemeinsam mit Giacomo in einen Traum einsteigen. Noch heute Nacht.«

Ich nicke wortlos und spüre, wie neben der Angst auch Freude in mir aufsteigt: Ich werde noch einmal in Somna sein. Noch heute Nacht.

Mein Vater sieht mich ausdruckslos an. »Ich hab ihnen gesagt, dass ich der Träumer sein will. Es soll mein Traum sein, in den du einsteigst. Dann kann ich dabei sein.«

Ich weiß nicht, ob mich das ärgern oder freuen soll. Glaubt er mir noch immer nicht und will es mit eigenen Augen sehen, oder ist das väterliche Fürsorge?

Mein Blick wandert zum Schreibtisch, auf dem die Fotos in ihren silbernen Rahmen stehen. Darunter ist auch eines von mir: ein Bild, das mein Vater bei einem unserer wenigen gemeinsamen Urlaube gemacht hat. Darauf bin ich vielleicht zwölf Jahre alt. Zusammen mit den Fotos von Anna und Kilian wirkt mein Vater wie der reinste Vorzeige-Papa.

Er macht ein paar Schritte in Richtung Tür.

»Ich muss jetzt schlafen gehen. Damit ich sobald wie möglich träume.«

»Und was soll ich in der Zwischenzeit machen?« Ich kann es nicht fassen. Werde ich gerade schon wieder einfach alleingelassen?

Mein Vater hält inne. »Du könntest dich auch ein bisschen ausruhen. Es ist ziemlich spät, fast schon Mitternacht. Ich sage Bescheid, dass man dich hier abholt.«

Ich ziehe die Stirn kraus.

»Steh mal auf.«

Widerwillig gehorche ich.

Mein Vater zieht an einer Schlaufe am Sofa, die ich bislang nicht bemerkt habe, und die Couch verwandelt sich in eine Liegefläche. Schweigend zerrt er ein Kissen und eine Decke aus einer Schublade und reicht sie mir.

Fragend sehe ich meinen Vater an, und er scheint zu merken, was ich denke.

»Ab und an schlafe ich hier. Wenn ich …«, er zögert, »es nicht mehr nach Hause schaffe.«

Meinem Blick ausweichend, räumt er die Sofakissen auf den Boden.

»Das ist manchmal besser für mich … und Anna.«

Ich sage nichts. Stattdessen helfe ich ihm, die Liegefläche freizuräumen.

Wir schweigen, bis er schließlich an der Tür steht und mir zunickt. »Bis später. Versuch zu schlafen, ja?«

Als sich die Tür hinter ihm schließt, stehe ich einen Moment verloren in dem großen Büro. Da ich nichts Besseres zu tun habe, knipse ich nacheinander die Lampen aus und streife meine Schuhe ab. Dann lege ich mich in meinen Klamotten auf die Schlafcouch und ziehe mir die Decke über die Beine. Draußen ist es heiß, aber hier drinnen bläst die Klimaanlage unerbittlich.

Ich starre in das Halbdunkel. Die Straßenlaternen werfen Schatten in das Büro und lassen alles noch viel unvertrauter wirken. Die Fotos auf dem Schreibtisch lächeln geisterhaft zu mir herüber.

Ich schließe die Augen und versuche die kreisenden Gedanken in meinem Kopf zu beruhigen. Schlafen. Ich soll schlafen. Aber wie kann ich schlafen, wenn ich weiß, dass mich Giacomo Laurenti – Generalsekretär der internationalen Traumunion – jederzeit für einen weiteren Ausflug nach Somna abholen wird? Wie kann ich schlafen – jetzt, wo alle mein Geheimnis kennen? Jetzt, wo es nicht mehr lächerlich und verrückt, sondern wahr sein soll? Jetzt, wo Yunus Dede und ich auf der Spitze des Alex’ gesessen haben und er mich dann vollkommen im Stich gelassen hat?

Meine Finger finden mein Handy und tippen auf das Symbol einer Social-Media-App. Ich scrolle durch den Feed und verteile Likes für das Strandfoto einer Klassenkameradin, die Pose eines Models und das Essen einer berühmten Sterneköchin.

Als mir ein Bild von Yunus angezeigt wird, verharre ich kurz darauf. Er hat es gestern gepostet. Auf dem Foto posiert er mit dem indischen Traumgänger, den ich zum Test gebracht habe. Welcome to the land of dreams steht darunter.

Wie konnte ich mich nur von seiner Attraktivität und Berühmtheit so blenden lassen? Ausgenutzt und im Stich gelassen hat er mich. Energisch scrolle ich weiter, und ein Bild von Lil, Basso und den anderen Jungs taucht auf. Sie stehen auf einem Bergkamm und grinsen übermütig in die Kamera. Basso hat seinen Arm um Lils Schulter gelegt, und sie sieht wie immer umwerfend aus mit ihrem langen, aschblonden Pferdeschwanz und den Shorts.

Wie automatisch öffne ich die Telefonapp und tippe auf das kleine Symbol mit der Videokamera neben Lils Namen. Sofort erscheint schemenhaft mein eigenes Bild, während es klingelt.

Ich muss mit Lil reden. Sie wird Ordnung in das Chaos in meinem Kopf bringen.

»Ryry!« dringt Lils neuester Spitzname für mich durch den Lautsprecher, und auf dem Display erscheint das verpixelte Gesicht meiner besten Freundin. Sie lacht. »Ey, Basso. Lass mich mal. Das ist Ria!«

Das Bild wackelt. Lils Arm ist zu erkennen, dann eine Tischplatte mit mehreren Gläsern darauf, und ein Raum, in dem, den undeutlichen Formen und der Geräuschkulisse nach, gerade eine Party stattfindet.

»Riaaa!«, grölt jemand im Hintergrund. Ich muss grinsen, während ich hektisch die Lautstärke meines Handys herunterregle.

Dann ist wieder Lils Gesicht zu sehen.

»Warte mal. Ich gehe raus. Wir sind gerade auf einer Party bei Bassos Cousin«, sagt sie. »Ich kann dich übrigens kaum sehen. Viel zu dunkel bei dir. Wo bist du denn?«

»Im Büro meines Vaters«, antworte ich, aber bezweifle, dass sie mich überhaupt hört. Ich knipse die Lampe an, die neben dem Sofa steht, und rutsche in den Lichtkegel, die Decke noch immer über den Knien.

Geräuschfetzen, die ich nicht zuordnen kann, kommen aus dem Lautsprecher meines Handys, dann scheint Lil endlich die Party verlassen zu haben, und ihr Gesicht taucht wieder auf.

»Ah, besser«, befindet sie und strahlt mich an. »Na du, wie ist es in der Hauptstadt? Vermisst du uns auch gebührend?«

Diese Worte zusammen mit dem so vertrauten Grinsen lassen etwas in mir losbrechen, das ich bis jetzt eisern festgeklammert habe.

»Lil!« Ihr Name ist Weinen und Lachen zugleich. Was zum Teufel kann ich sagen, um ihr die Lage zu erklären?

Kurz gefriert ihr Gesicht auf dem Display, und als sie sich wieder bewegt, hat sich ihre Stirn in besorgte Falten gelegt.

»O Mann, die Verbindung ist echt schlecht.«

»Lil«, wiederhole ich. »Ich war in Somna!«

Einen Moment denke ich, sie wäre schon wieder eingefroren, aber dann blinzelt sie.

»Was?«

»Ich war in Somna. Mit Yunus Dede. Ich bin eine Traumgängerin. So wie ich es immer gesagt habe!«

Wieder blinzelt sie.

»Was?!« Diesmal klingt das Wort nicht verständnislos, sondern entgeistert. Lil ist außer meinen Eltern die Einzige, der ich erzählt habe, dass ich nicht träume – und sie hat mir immer geglaubt.

»Ja!« Ich muss mich zusammenreißen, nicht zu schreien.

Lils Bild wackelt.

»Ey, Basso! Lass mich mal! Ich telefoniere!«

»Ich will doch nur hallo sagen!« Ein blondes Gesicht mit einem riesigen Grinsen schiebt sich ins Bild. »Hallo, Ria! Wie läuft’s mit deinem langweiligen Sommerjob?«

Ein Knacksen, ein Gerangel, dann bleibt das Video schon wieder hängen. Stille erfüllt den Raum. Die Leitung ist unterbrochen. Frustriert versuche ich einen neuen Anruf zu starten.

Nach ein paar Sekunden erscheint Lils verpixeltes Gesicht .

»Du warst in Somna?«, ruft sie ohne Umschweife.

»Ja!« Die Ereignisse der letzten Tage und Stunden sprudeln aus mir heraus, und ich bin mir nicht sicher, ob meine Worte überhaupt einen Sinn ergeben, aber Lil beschwert sich nicht. Als ich zu der Stelle komme, an der die Traumkommissare aufgetaucht sind und Yunus verschwunden ist, spüre ich, wie sich meine Kehle zusammenzieht.

Ich blinzele, um die Bilder des auf mich zurasenden Metallgitters vor meinen Augen zu vertreiben und mich ganz auf Lils gebanntes Gesicht zu konzentrieren.

Als ich erzähle, wie Yunus auf dem Feld davongerannt ist, holt Lil empört Luft. Doch dann friert ihr Gesicht erneut ein. Frustriert schüttele ich das Gerät, als würde sich Lils Video dadurch wieder bewegen. Aber ich weiß, dass sie sich vermutlich gerade irgendwo in einem abgelegenen norwegischen Dorf befindet und es eher ihre Internetverbindung ist als meine, die Probleme macht.

Ich bleibe allein in der Stille des Büros zurück und stöhne. Wie viel hat sie verstanden?

Eine Sekunde später bekomme ich die Antwort in Form einer Textnachricht.

Waaaaas? Ria! Das ist ja total crazy!

Sie scheint das Wichtigste mitbekommen zu haben.

Sorry, Internet ist hier nicht so. Wir sind voll in der Pampa, folgt die nächste Nachricht.

Du warst echt mit YUNUS DEDE in Somna?!

Ich muss lächeln, denn ihre Nachrichten nehmen mir ein wenig die Einsamkeit.

Jaaaaa, schreibe ich zurück.

Als Antwort kommt eine unzusammenhängende Reihe an Emoticons.

Sie versucht mich noch einmal anzurufen, diesmal ohne Video, aber die Verbindung wird gar nicht erst aufgebaut. Auch wenn die norwegische Einöde kein richtiges Gespräch mit Lil zulässt, tut es gut, das alles mit ihr teilen zu können. Zu wissen, dass sie irgendwo da draußen ist und die Sache hier genauso verrückt findet wie ich.

Es ist, als wäre mir das Ganze erst jetzt, wo ich es Lil erzählt habe, wirklich passiert.

Ich lege mich wieder hin und knipse die Lampe aus. Irgendwann schwimmen die Buchstaben vor meinen Augen, und ich sehe kaum noch, was ich tippe. Doch ich höre nicht auf, Lil alle Einzelheiten zu beschreiben. Schlafen ist keine Option.

Ein Geräusch lässt mich hochschrecken, und im ersten Moment bin ich vollkommen desorientiert. Das Licht hat sich verändert, und ich liege auf dem Sofa, den Kopf auf dem Kissen. Bin ich doch eingeschlafen?

Graue Morgendämmerung hat sich im Zimmer ausgebreitet. Und da steht jemand, direkt vor dem Sofa, und sieht mich an.

»Yunus«, entfährt es mir. Sofort bin ich wach und rutsche von ihm weg.

»Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken.«

Ich ziehe mir die Decke fester um den Körper und fahre mir mit einer Hand durchs Haar. Bestimmt sehe ich total zerzaust aus.

Eine Nachricht, die mir Lil vor gefühlten Minuten geschickt hat, taucht in meinem Kopf auf: DER Yunus Dede?! Dieser berühmte, unglaublich heiße Typ?! Mit dem warst du auf dem Alex?! In Somna?!

Zögernd setzt Yunus sich auf den Rand der Couch.

»Sorry, Ria.«

Jetzt sieht er mich an, als würde er doch überlegen, aufzustehen und abzuhauen. Sein Blick zuckt immer wieder zur Tür. Mein Herz schlägt zu schnell.

»Ich wollte nur schauen, ob es dir gutgeht.«

Ich starre ihn an. Der Schlaf hat sich noch nicht ganz von meinen Gedanken gelöst, auch wenn das Adrenalin des jähen Erwachens meinen gesamten Körper in einen Fluchtbereitschaftsmodus katapultiert hat.

»Mir geht es gut. Danke der Nachfrage«, sage ich und höre Bitterkeit in meiner Stimme mitschwingen.

Er zieht etwas aus seiner Hosentasche hervor. Sein Handy.

»Ich hab was für dich gemacht.«

Was wird das jetzt? Eine Entschuldigung dafür, dass er mich auf dem Feld hat stehen lassen?

Während in meinem Kopf die Optionen kreisen, tippt Yunus auf seinem Smartphone herum und hält es mir dann entgegen.

Ich starre auf ein Bild von mir selbst, wobei … es ist gar kein Bild. Es ist ein Video. Das Foto von mir verschwindet, Yunus taucht auf und spricht in die Kamera:

»Das ist Ria Maywald. Die erste weibliche Traumgängerin, die in die Traumunion aufgenommen wurde. Ja, ihr habt richtig gehört. Sie ist eine Traumgängerin!«

Ein Rauschen hebt in meinen Ohren an, das Yunus’ weitere Worte übertönt. Ich starre auf das Video, auf dem jetzt wieder ich zu sehen bin. Auf dem Tempelhofer Feld. Wie ich in den Traum von Yunus’ Bruder einsteige. Einen Moment bin ich da, dann verschwinde ich einfach.

Wieder sagt der Yunus im Video etwas, und dann ist der Clip vorbei.

Wortlos sehe ich zu Yunus auf.

»Es ist nur ganz kurz«, sagt er, und es klingt entschuldigend. »Aber ich hatte nicht viel Zeit. Als ich rausgefunden habe, dass die Traumunion dich hat, habe ich es so schnell wie möglich geschnitten.«

»Du hast gesagt, dass du das Video gelöscht hast!«, ist das Erste, was aus mir herausplatzt.

»Habe ich auch.«

»Und was ist dann das da?« Ich deute grob in die Richtung seines Handys. Er schiebt es in seine Tasche, als hätte er Angst, dass ich es ihm gleich entreißen würde.

»Ich habe noch mal eins gemacht – als du wieder in den Traum gegangen bist«, gibt er zu und hat den Anstand, kleinlaut zu klingen.

»Willst du …« Ich räuspere mich. »Willst du das veröffentlichen?«

Er nickt.

»Ja. Auch wenn ich eigentlich auf einen besseren Zeitpunkt warten wollte. Aber jetzt muss ich es ja irgendwie wiedergutmachen, dass ich dich in diese Situation gebracht habe.«

Er lächelt, als hätte er gerade etwas Nettes zu mir gesagt.

Durch meinen Körper rieselt Entsetzen. Was soll das heißen, eigentlich wollte er auf einen besseren Zeitpunkt warten? Hat er das hier geplant? Hat er sich deshalb mit mir auf dem Tempelhofer Feld getroffen? Bin ich nur eine gute Story für ihn? Natürlich! Hat etwas tief in meinem Inneren nicht genau das hier bereits geahnt?

In mir entsteht eine Wut, die ich bisher nicht gekannt habe. Ich starre Yunus an. Spüre seine Nähe und würde am liebsten noch weiter von ihm wegrutschen. Hat er mich ausgenutzt? Für seinen Kanal. Für seine Berühmtheit. Zu seiner eigenen Unterhaltung.

Der einzige klare Gedanke, der mir über die Lippen kommt, ist: »Ich wäre fast gestorben in Somna. Ich bin vom Alex gefallen, und da war diese Plattform. Da wäre ich fast draufgeknallt.«

Sein Blick verändert sich, doch ich schaffe es, weiterzusprechen: »Und dann wache ich auf, und du bist weg. Ich habe dich noch wegrennen sehen. Du bist einfach abgehauen.«

»Ich habe versucht, dich zurückzuholen.« Seine Stimme klingt verteidigend. »Ich habe Emre sofort geweckt. Du hättest im gleichen Moment auftauchen müssen. Schließlich waren wir in seinem Traum. Bist du aber nicht. Da habe ich Panik bekommen.«

»Also ist es meine Schuld, dass du mich alleingelassen hast?«

Meine Stimme zittert.

»Nein. Ich hatte einfach Angst, dass dich die Traumunion erwischt hat. Es war eine Kurzschlussreaktion – sorry.«

Ich kreuze die Arme vor der Brust und muss mich zusammenreißen, um nicht zu weinen. Nicht vor Yunus Dede.

»Ria, ich …«

Beim Klang meines Namens aus seinem Mund schlucke ich.

»Ich wollte nicht, dass die Traumunion dich in die Finger bekommt. Das war nie der Plan.«

»Nie der Plan?«, wiederhole ich.

»Nein. Mir hat es einfach so Spaß gemacht, mit dir in Somna zu sein. Da habe ich alles andere vergessen und bin unvorsichtig geworden.«

Sein Blick geht wieder tief in mich hinein und lähmt meine Wut. Ich weiß, dass wir beide gerade an den Moment auf dem Alex denken. An das Rot der untergehenden Sonne. An seine Hand auf meiner.

Dann reißt sich Yunus von mir los. »Ich wollte dich in Sicherheit bringen, bevor ich irgendetwas veröffentliche. Ich wollte nicht, dass dich die Traumunion bekommt. Das musst du mir glauben, Ria. Als sie mich gefragt haben, mit wem ich da auf dem Alex war, habe ich versucht zu lügen, aber sie hatten dich schon erkannt.«

Ohne nachzudenken, schüttele ich den Kopf. »Ich will nicht, dass du das Video veröffentlichst.«

Überrascht sieht er mich an.

»Du bist doch hier, um mich um Erlaubnis zu bitten, oder?«, fahre ich ihn an. »Und ich sage nein. Ich verbiete dir, das Video zu veröffentlichen.«

»Aber ich muss es veröffentlichen.«

Jetzt spüre ich wieder Wut in mir aufkochen. Offenbar will er unbedingt eine gute Story für seine Kanäle haben. Die weibliche Traumgängerin. Das gibt bestimmt einiges her.

»Nein. Musst du nicht. Du darfst es nicht. Ich erlaube es dir nicht.«

»Aber das Einzige, was dich jetzt schützen kann, ist Bekanntheit. Glaub mir!«

»Schützen wovor?«, schreie ich ihn an und erschrecke mich selbst über die Lautstärke meiner Stimme.

»Du hast keine Ahnung, wie gefährlich es ist, Traumgänger zu sein«, platzt es aus ihm heraus, und sein Blick fliegt wieder zur Tür, als hätte er Angst, dass uns jemand hören könnte. Unwillkürlich halte ich die Luft an. Warum ist das alles, was er dazu sagt? Genauso wie mein Vater –

Yunus greift nach der Traumgängerkette, die ihm um den Hals hängt, und hält sie mir entgegen. »Das hier tragen wir nicht zum Spaß.«

Es klingt bitter. In mir steigt die Erinnerung auf, wie Yunus mir gestern Abend in einem stinkenden Hinterhof irgendwo in Berlin einen ganz ähnlichen Satz entgegengebrüllt hat.

»Die Traumgängergabe ist selten. Und sie ist begehrt, das muss dir doch klar sein. Die Träume von anderen verändern können. Das Unterbewusstsein beeinflussen können. Das hat Traumgänger schon immer zur Zielscheibe gemacht.«

Er starrt auf den Boden, und seine Stimme ist plötzlich kaum mehr als ein flaches Raunen, als er weiterspricht.

»Weißt du, dass man die Traumgängergabe stehlen kann?«

Mein Mund ist trocken.

»Das erzählen wir offiziell nicht. Je weniger Menschen es wissen, desto besser. Aber Klarträumer können die Gabe an sich reißen. Indem sie einen Traumgänger in Somna umbringen. Dann geht die Gabe auf den Mörder über. So einfach ist das.«

Die Worte scheinen mir über den ganzen Körper zu laufen und eine Gänsehaut zu hinterlassen. So einfach ist das .

Yunus sieht mich nicht an, während er weiterspricht. In dieser Art, die so wenig wie Yunus Dede, der berühmte Traumgänger, wirkt.

»Und darum haben wir die Ketten. Das ist kein Schmuck. Das sind Giftkapseln. Wenn wir in Somna in die Gefahr geraten, dass uns jemand umbringt, sollen wir sie aufbeißen. Das Gift tötet sofort.«

Jetzt sieht er mich an. Kurz und intensiv.

»Wir sollen uns umbringen, Ria. Damit die Gabe nicht gestohlen wird, sondern nach unserem Tod auf einen zufällig in diesem Moment geborenen Menschen übergeht. Damit die Gabe nicht in die Hände derer fällt, die sie nur zu ihren eigenen Zwecken nutzen wollen. Das ist die Bürde der Traumgänger. Das ist es, was wir versprechen, wenn wir in die Traumunion eintreten.«

Ich öffne den Mund, weiß nicht, was ich sagen soll, und schließe ihn wieder. Yunus lacht hohl auf.

»Drei Mal darfst du raten, woher die Erlbachs, Laurentis und Grahams so viele Traumgänger unter ihren Nachkommen haben.«

Wieder dieses unechte, freudlose Lachen. Wie tiefe Resignation, zu einem kehligen Laut geworden.

»Und weißt du, wen man besonders leicht verschwinden lassen kann? Menschen mit armer oder unwichtiger Herkunft und … na ja … Mädchen. Die wurden so lange aus der Weitergabe der Traumgängergabe herausgehalten, bis die meisten Menschen vergessen haben, dass auch sie Traumgänger sein können.«

Ich atme stoßweise.

»Woher weißt du das?«

Jetzt sieht er wieder etwas unsicher aus.

»Na ja, wissen tue ich es nicht. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich richtigliege. Und die Tatsache, dass du traumgehen kannst … als Mädchen …« Er bricht ab.

Ich schüttele den Kopf. »Das glaube ich nicht. Das würde die Traumunion nie zulassen. Sie wurde doch genau deshalb gegründet, um Somna vor machtgierigen Leuten zu schützen. Jeder, der die Gabe hat, wird in die Union aufgenommen. Die Herkunft spielt dabei keine Rolle. Das sagen sie doch immer.«

Yunus zuckt mit den Schultern.

»Die Traumunion als Ganzes vielleicht. Aber bei den einzelnen Traumgängern sieht das ganz anders aus. Und erst recht bei den großen Traumgängerfamilien. Wenn ich recht habe, dann ist das ein Riesending, Ria.«

Unter seinen dicht zusammengezogenen Augenbrauen sieht er mich mit einer Intensität an, die mich erstarren lässt. Als würde er mich allein mit seinem Blick festhalten.

»Ich will das aufdecken. Mit meiner Reichweite könnte ich wirklich etwas bewirken. Was ist, wenn es noch mehr weibliche Traumgänger gibt und gewisse Leute sie nur immer wieder verschwinden lassen? Du könntest der erste Beweis dafür sein.«

Etwas an seinem letzten Satz gräbt sich tief in mein Inneres und hinterlässt eine schneidende Kälte. Ich bin nur ein Beweis. Nur ein Werkzeug. Nur jemand, den er für seine Zwecke gebraucht hat.

All die Gefühle, die ich in mir habe – ich kann sie nicht mehr zurückhalten: Der Strudel aus Angst, Wut und Verwirrung entlädt sich, indem ich die Decke von mir reiße, aufstehe und mich vor Yunus aufbaue.

»Ich verbiete dir, das Video zu veröffentlichen«, schreie ich und erkenne meine eigene Stimme nicht wieder.

Mein Hals beginnt zu kribbeln. Doch ich habe keine Zeit, über die roten Flecken nachzudenken, die sich gerade mit Sicherheit auf meiner Haut bilden. Zu erfüllt bin ich von einer Wut, die ich so noch nie gefühlt habe. Als hätte mein Besuch in Somna eine Tür in meinem Inneren aufgestoßen, aus der nun Emotionen quellen, die ich in dieser Intensität nicht kannte.

Auch Yunus erhebt sich. »Wir haben keine andere Wahl! Dich kann jetzt nur noch Bekanntheit schützen. Das musst du mir glauben!« Seine Stimme rutscht unkontrolliert ein paar Töne nach oben. »Wir müssen dafür sorgen, dass sie gar nicht anders können, als dich offiziell in die Traumunion aufzunehmen. Dann bist du zumindest ein bisschen sicherer.«

Ein festes Gewicht drückt sich auf meine Brust. Ich schüttele den Kopf, als könnte ich Yunus’ Worte damit loswerden, und ich merke, wie Tränen mir mit aller Macht in die Augen steigen. Aber ich werde nicht weinen.

Offenbar lässt mein Gesichtsausdruck Yunus innehalten. Er kommt auf mich zu, bleibt vor mir stehen, öffnet den Mund und schließt ihn wieder.

Und plötzlich sehe ich in ihm den Yunus, neben dem ich in Somna auf dem Alex gesessen habe. Es sind dieselben Augen, die jetzt über mein Gesicht streifen, als würden sie darin nach den richtigen Worten suchen. Dieselben Brauen, die sich nachdenklich zusammenziehen.

Er streckt eine Hand nach mir aus, verharrt jedoch unschlüssig, offenbar unsicher, ob er mich berühren darf oder nicht.

Yunus Dede. Was ist, wenn er es wirklich nur gut meint? Wenn er mich wirklich nur beschützen will? Ich müsste nur einen Schritt auf ihn zugehen und wäre in seinen Armen. Die Möglichkeit hängt in der Luft und hat etwas Tröstliches und zugleich Beängstigendes an sich. Nur ein Schritt. Aber ein Schritt, den ich nicht gehen kann –

In diesem Moment höre ich ein Geräusch, und mein Blick zuckt zur Tür.

Giacomo Laurenti steht im Rahmen. Er taxiert zuerst mich, die bis zum Schreibtisch zurückgewichen ist, dann Yunus, der nur Zentimeter von mir entfernt steht und nun, ebenso wie ich, Giacomo anstarrt.

Der Generalsekretär ist der Erste, der sich fängt. Ein Lächeln breitet sich auf seinen Lippen aus, doch ich kann den Tadel in seiner Stimme hören, als er fragt: »Yunus, was machst du denn hier?«

Nun hat auch Yunus sich wieder unter Kontrolle. Betont entspannt tritt er einen Schritt zurück und sieht dem obersten Leiter der Traumunion entgegen.

»Hi, Giacomo«, sagt er, und ich kann nicht anders: Ich muss seine schauspielerischen Fähigkeiten bewundern. Jetzt wirft er mir ein sanftes Lächeln zu. »Ich wollte nur sehen, wie es Ria geht. Nach all dem, was passiert ist.«

Ohne zu zögern, kommt er auf mich zu und umarmt mich. Sein Duft umhüllt mich, und ich bin so perplex, dass ich die Umarmung weder erwidern noch Yunus von mir schieben kann. »Halt die Ohren steif«, sagt er, und während ich noch denke, was für ein bescheuerter Satz das ist, flüstert er mir ins Ohr: »Sag ihm nichts.«

Dann lässt er mich los, wendet sich ab und drängt sich an Giacomo vorbei hinaus auf den Gang.

Als seine Schritte auf dem Flur verhallen, wird es still.

 

Sag ihm nichts. Was soll das heißen?

Giacomo Laurentis Blick liegt auf mir. Ich bewege mich nicht und zwinge mich, ruhig zu atmen. Jetzt bin ich alleine in einem Raum mit dem Generalsekretär der Traumunion.

Mir fällt auf, dass Giacomo die Traumgängeruniform trägt. Ein erneutes Kribbeln steigt in mir empor, und ich bin mir sicher, dass er die roten Flecken auf meinem Hals bemerken wird.

Sag ihm nichts.

»Ria!« Er strahlt mich an, doch die Herzlichkeit erreicht seine Augen nicht. »Über dich hört man ja die wildesten Dinge.«

Unter seinem Blick legt sich ein nervöses Lächeln auf mein Gesicht. Eine Antwort bringe ich nicht heraus. Aber was soll man dazu schon sagen?

»Eine weibliche Traumgängerin, hm? Das wäre ja mal was.«

Er zwinkert mir zu, und ich schweige noch immer. »Ich würde das gerne selbst sehen. Dich in Somna. Wäre das okay?«

Sein Ausdruck hat etwas Väterliches. Als würde er mit einem kleinen Kind reden. Und plötzlich fühle ich mich auch wie eines. Wie das kleine Rieschen. Das kleine Rieschen, dem endlich geglaubt wird.

Ich nicke und bringe ein leises »Klar« heraus.

»Schön. Dann komm mal mit.«

Er öffnet die Tür, und ich atme tief ein, bevor ich ihm schweigend aus dem Raum folge. Durch die Gänge der Traumunion, vorbei an gläsernen Besprechungszimmern und Teeküchen mit stylischen Lounge-Sesseln und durch Türen, die mit einem Piepsen aufspringen, wenn Giacomo seine Smartwatch vor den Sensor hält. Ein paar Mal sieht er sich nach mir um und lächelt mir aufmunternd zu, aber er versucht keinen Smalltalk. Vielleicht ist auch er zu müde dafür.

Irgendwann weiß ich, wohin er mich bringt: In die Räume, in denen auch die Tests für die anderen Anwärter stattfinden. Mir fällt ein, dass ich heute eigentlich wieder Besucher begrüßen und hierherführen müsste. Etwas sagt mir allerdings, dass der Sommerjob für mich bereits jetzt vorbei ist.

Giacomo bleibt vor einer Tür stehen, neben der ein grünes Licht brennt. Es signalisiert, dass in dem Zimmer jemand schläft – bereit, dass wir in seinen Traum einsteigen. Mein Vater wartet dort auf mich, erinnere ich mich.

Aufregung breitet sich in mir aus. Somna. Noch einmal nach Somna. Noch einmal in einen Traum einsteigen. Noch einmal dieselben Gefühle erleben, wie vor wenigen Stunden. Na ja, bestimmt nicht dieselben Gefühle wie mit Yunus. Aber vermutlich ist das auch besser so.

Giacomo öffnet die Tür und bleibt dann so abrupt stehen, dass ich fast in ihn hineinlaufe.

»Joseph.« Es klingt wie eine Frage.

»Hi, Giac.«

Giacomo löst sich aus seiner Erstarrung und gibt den Blick auf einen älteren Mann mit Glatze und grauem Bart frei, der ebenfalls die Uniform der Union trägt.

»Ria«, wendet sich Giacomo mir zu. »Das hier ist Joseph Hoggs, mein Stellvertreter.«

»Guten Morgen, Ria. Schön, dich kennenzulernen.« Joseph mustert mich kritisch.

Mir wird schlagartig bewusst, dass ich seit dem Aufstehen noch keine Möglichkeit hatte, in einen Spiegel zu schauen. Doch während ich noch den Impuls unterdrücke, mir über die Haare zu fahren, wendet der Mann sich schon ab.

»Ich hätte es nur ungern verpasst, unsere kleine Überraschung mit eigenen Augen zu sehen, Giac. Da dachte ich mir, ich warte hier auf euch.«

Irgendetwas stimmt mit dem Lächeln nicht, das er Giacomo zuwirft, doch ich komme nicht dazu, darüber nachzudenken. Denn in diesem Moment fällt mein Blick auf die Person im Bett.

»Ich dachte, wir steigen in den Traum meines Vaters ein«, rutscht es mir über die Lippen.

»Der träumt gerade nicht. Wir hatten keine Zeit mehr zu warten«, erklärt Giacomo, während er an der Seite des Bettes Position bezieht.

Ein ungutes Gefühl kriecht meinen Körper hinauf, und ich muss an Yunus’ Worte denken. Was ist, wenn ich der Traumunion doch nicht vertrauen kann? Eine beängstigende Sekunde nimmt mich der Gedanke ein und lässt meinen Hals abermals kribbeln. Dann verdränge ich ihn.

Das hier ist die Traumunion. Die berühmte Institution, die von aller Welt beobachtet wird. Die Institution, die gegründet wurde, um Dinge, wie Yunus sie beschrieben hat, zu verhindern. Das hier ist Giacomo Laurenti. Giacomo Laurenti . Und er will mit mir in einen Traum einsteigen.

Mein kurzes Unwohlsein weicht einer Aufregung, die jeden Winkel meines Kopfes erfüllt. Auf Giacomos Deuten hin stelle ich mich an das Kopfende des Bettes. Der Mann namens Joseph steht direkt hinter mir, und ich kann seinen Blick auf mir spüren.

So oft habe ich in den letzten Tagen irgendwelche Menschen in diese Räume geführt. Jetzt werde ich es selbst sein, die in den Traum einsteigt.

Doch bevor ich mich auch nur zu dem Träumer hinabbeugen kann, wird die Tür aufgerissen.

»Giac!«

Ein Mann steht im Türrahmen. Er ist nicht viel älter als ich. Vermutlich achtzehn oder neunzehn. Seine blonden Haare werden ihm von Gel aus dem Gesicht gehalten, und mir fällt auf, dass er unter seiner offensichtlichen Attraktivität ziemlich erschöpft wirkt.

Schwer atmend sieht er sich um, stockt, als er Joseph entdeckt. Seine Miene wandelt sich von Überraschung zu einer kontrollierten Maske. »Entschuldigt.«

Er macht einen Schritt in den Raum und schließt die Tür hinter sich. Ist er nicht einer von Luisas Cousins? Ich meine, eine vage Ähnlichkeit ausmachen zu können.

»Ich dachte, du könntest vielleicht meine Hilfe bei dieser Sache gebrauchen, Giac?«

Giacomo sieht ihn an, einen Ausdruck auf dem Gesicht, der irgendwo zwischen Verärgerung und Ungeduld liegt.

Er nickt einmal kurz mit dem Kopf und wendet sich dann mir zu.

»Ria, das ist Paul Erlbach. Einer meiner Assistenten.« Er räuspert sich. »Gut. Wenn wir jetzt nicht noch auf jemand anderen warten müssen –«, er wirft den Männern einen kühlen Blick zu, »dann können wir ja loslegen. Nach dir, Ria.«

Er macht eine einladende Geste in Richtung des Träumers, und ich weiß, dass das mein Zeichen ist. Mein Mund ist trocken, als ich den Träumer vor mir betrachte. Es ist ein junger Mann, aber viel kann ich von seinem Gesicht unter der Schlafmaske nicht erkennen.

Du musst seinen Traum erfühlen. Yunus’ Worte hallen in meinem Kopf wider.

Mein Herz schlägt heftig. Doch dieses Mal habe ich keinen Zweifel, dass es klappen wird. Ich bin eine Traumgängerin. Das weiß ich. Habe es eigentlich schon immer gewusst.

Ich beuge mich nach vorne und nähere meine Stirn der des schlafenden Mannes. Im Raum herrscht absolute Stille. Nur der Stoff der Bettdecke raschelt, als ich mich mit der einen Hand darauf abstütze.

Dann spüre ich sie. Emotionen, die nicht die meinen sind. Sie schlagen mir entgegen wie eine Welle und erreichen ihren Höhepunkt, als meine Stirn die des Fremden berührt. Ich versuche, mich ihnen hinzugeben – mich selbst, die Blicke der Männer und meine Aufregung zu vergessen – und spüre, wie ich davongespült werde. Es sind Freude und Lust, die mich umschließen. Aber es sind nicht meine Gefühle. Es wird hell, wieder dunkel und plötzlich ohrenbetäubend laut.

Ich werde heftig angerempelt, öffne die Augen und kann gerade noch einem Körper ausweichen, der sich an mir vorbeischiebt. Farbige Lichter durchschneiden eine Dunkelheit aus zuckenden, tanzenden Körpern. Ein Club. Ich bin mitten in einem Tanzclub gelandet.

Laut lache ich auf. Ob wegen meiner eigenen Freude, dass ich tatsächlich wieder in Somna bin, oder wegen der guten Laune des Träumers, in dessen Traum ich eingestiegen bin, weiß ich nicht.

Fast habe ich Lust, mitzutanzen. Dabei bin ich nie wirklich ausgehfreudig gewesen. Das überlasse ich eher Lil, die nie müde wird, mich auf irgendwelche Partys zu schleifen.

»Ria«, sagt jemand an meinem Ohr und fasst mich an der Schulter.

Ich drehe mich um und sehe Giacomo vor mir.

»Na, dann haben die anderen wohl recht gehabt.« Er wirkt nicht überrascht, eher anerkennend.

Hinter ihm tauchen Paul und Joseph auf und scannen die Umgebung. Alle drei Männer wirken unfassbar fehl am Platz in der Kulisse des Clubs. Meine Tanzlaune fällt in sich zusammen, und Nervosität greift nach meinem Inneren. Plötzlich kommt mir der Raum viel zu stickig und laut vor.

Auch Giacomo scheint diesen Eindruck zu haben, denn ich sehe, wie er die Augen schließt, und kurz darauf verklingt die laute Bassmusik zu einer sanften Hintergrundmelodie.

»Komm mal mit«, raunt Giacomo mir zu, und ich folge ihm über die Tanzfläche auf einen Ausgang zu.

Das hier fühlt sich so echt, so real an, dass ich einen Moment verwirrt bin, als eine Frau an mir vorbeigleitet, das Gesicht verschwommen wie hinter einer beschlagenen Scheibe. Somna. Ich bin in Somna.

Mit einem diffusen Glücksgefühl im Bauch trete ich durch die Tür und bin nicht im mindesten überrascht, als ich dahinter eine malerische Außenterrasse mit Blick auf das Meer vorfinde. Warme Nachtluft umspielt meine Haare. Auf der Terrasse tummeln sich einige Menschen. Manche mit klar erkennbaren, andere mit verschwommenen Gesichtszügen.

Ich stelle mich neben Giacomo, der am Rand der Terrasse steht und sich den im Mondschein glänzenden Wellen zugewandt hat. Gerade als ich tief die salzige Luft einatme, um meine Gedanken zu ordnen, treten die beiden anderen Traumkommissare neben uns.

»Du bist also tatsächlich eine Traumgängerin«, murmelt Giacomo, ohne mich anzusehen.

Ich warte.

»Als Traumgänger kann man Dinge in Somna willentlich verändern. Das weißt du bestimmt.«

Jetzt sieht er mich an, und ich nicke.

»Traumwandlungen heißt das«, ergänzt jemand neben mir. Joseph. Auch er sieht mich an, und in seinen braunen Augen stehen Fragen, aber ich bin mir nicht sicher, welche.

»Ich weiß«, erwidere ich. »Yunus hat mir erklärt wie das geht.«

»Ah. Natürlich hat er das.« Da ist ein wissendes Lächeln auf Giacomos Gesicht, das das Glücksgefühl in meinem Bauch schrumpfen lässt.

»Kannst du es uns vormachen?«, fragt Joseph.

»Ich soll irgendwas verändern?«, hake ich nach – halb, um sicherzugehen, und halb, um mir Zeit zu verschaffen.

»Ja. Egal was.«

Mein Blick wandert zum dritten Traumkommissar. Paul. Doch von ihm ist keine Hilfe zu erwarten. Mit verschränkten Armen steht er da, wartet einfach nur ab. Gibt es eigentlich eine Regel, dass alle Traumgänger gutaussehend sein müssen?

Ich versuche meine Nervosität zu vertreiben. Was hat Yunus noch mal gesagt? Man muss die passende Emotion spüren. Die passende Emotion wozu? Was könnte ich verändern? Ist das hier ein Test? Und was passiert, wenn ich ihn nicht bestehe?

Ich sehe hinauf in den Nachthimmel, weg von den aufmerksamen Mienen der Männer. Mein Körper ist ein einziges Kribbeln. Ich bin mit dem Generalsekretär der internationalen Traumunion und seinem Team in Somna. Ich bin eine Traumgängerin. Irgendeine Traumwandlung werde ich doch wohl hinkriegen.

In meinem Kopf dreht es sich. Auch der Anblick der Sterne kann mich nicht beruhigen. Im Gegenteil.

»Wow.«

Es war eher ein Keuchen als ein Wort, ausgestoßen von einem der Traumkommissare neben mir. Auch mir steht der Mund offen. Hunderte Kometen jagen über den Himmel und erleuchten die Nacht.

Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Nur mit Mühe kann ich mich von dem Kometenschauer abwenden, doch dann drehe ich mich zu Giacomo. Er nickt mir anerkennend zu. »Gut gemacht.«

Kurz überlege ich zuzugeben, dass ich ein solches Himmelsspektakel gar nicht beabsichtigt hatte. Doch dann schweige ich. Auch wenn ich nicht weiß, wie es mir gelungen ist … auf seltsame Weise entsprach diese Traumwandlung genau meinen Emotionen.

Giacomo wendet sich zurück zum Club, auf dessen Terrasse die Leute gebannt Richtung Himmel schauen. Dann spüre ich plötzlich, wie sein Griff auf meiner Schulter fester wird.

»Schade«, höre ich ihn sagen und sehe verständnislos zu ihm auf – gerade noch rechtzeitig, um mitzukriegen, wie seine Konturen vor meinen Augen an Schärfe verlieren. Seine Hand löst sich von mir, und einen Moment später ist er ganz verschwunden.

Ich fahre zu Paul und Joseph herum, doch auch sie kann ich nirgends entdecken. Ich stehe alleine am Rande der Terrasse. Im Club hat jemand die Musik wieder aufgedreht. Die Mauern zittern im Rhythmus des Basses, und einige Menschen um mich herum strömen zurück auf die Tanzfläche.

»Giacomo?« Obwohl ich weiß, dass mir niemand antworten wird, rufe ich ihre Namen. »Paul? Joseph?«

Weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll, gehe ich zurück in den Club. Der Bass dröhnt in meinen Ohren und nimmt mir die Orientierung. Warum nur muss die Musik so laut sein? Gerade als ich mir die Hände schützend über die Ohren halten will, bricht die Musik ab. Jähe Stille erfüllt den Raum, dann Protestrufe.

»Wer macht denn immer die Musik aus?«, schreit irgendjemand.

Bewegung kommt in die unscharfen Körper vor mir. Irgendwo fliegt eine Faust, ertönt wütendes Gebrüll. Eine Frau mit verschwommenem Gesicht stolpert in meine Richtung und verfehlt mich um wenige Zentimeter. Wie versteinert stehe ich da und beobachte die Schlägerei, die sich vor mir entspinnt.

Ich sollte verschwinden. Weg hier. Zurück in die Traumunion. Vermutlich ist es das, was Giacomo, Paul und Joseph gemacht haben, und ich habe nur die Aufforderung dazu verpasst.

Ich schließe die Augen und versuche die Geräuschkulisse vor mir auszublenden. Der Testraum mit dem schlafenden Mann. Da komme ich her. Da will ich wieder hin.

Die Schreie um mich herum nehmen ab, und eine seltsame Stille drückt sich auf meine Ohren. Dann schlage ich die Augen auf.

Fast falle ich vornüber auf das Bett des Träumers, doch ich kann mich gerade noch rechtzeitig abfangen. Eine Hand packt mich am Arm. »Da bist du ja endlich!« Paul starrt mich an. Ein paar seiner gegelten Haarsträhnen sind ihm aus der Frisur gerutscht und hängen ihm in die Stirn. »Wo warst du?«

Ich blinzele, da sich meine Augen erst an das Licht im Testraum gewöhnen müssen. Warum will er das wissen? Wir waren doch zusammen in Somna.

Paul sieht sich zu Giacomo um, der neben der Tür an der Wand lehnt. Dessen Gesichtsaudruck ist ganz anders als Pauls. Er hat die Arme verschränkt und wirkt ruhig. Sehr ruhig. Als müsste er sich noch einmal ausgiebig Zeit nehmen, mich zu betrachten.

Auch Joseph hat wieder seinen Scannerblick aufgesetzt, doch diesmal liegt eine Spur Verblüffung darin.

Paul lässt mich los. »Du hättest schon vor mindestens einer Minute wieder hier sein müssen«, sagt er.

»Sorry«, ist das Erste, was mir dazu einfällt.

Die drei Männer sehen sich an, und es ist einer dieser Blickwechsel, die ein Gespräch ersetzen. Unausgesprochene Worte hängen in der Luft.

Etwas vibriert in die Stille hinein. Giacomo sieht auf seine Smartwatch und löst sich dann abrupt von der Wand.

»Nun, das war aufschlussreich. Joseph, Paul, in fünf Minuten in meinem Büro!« Damit schwingt die Tür hinter ihm zu.

Ich sehe mich zu den anderen um und spüre, wie sämtliche Euphorie aus meinen Adern weicht.