M it trockenem Mund beiße ich von meinem Brötchen ab und sehe mich in der Mensa der Traumunion um. Es ist erst kurz nach halb sieben, und außer ein paar Traumgängern, die mich unverhohlen neugierig mustern, ist kaum jemand unterwegs. Ihre Blicke machen mir die Traumgängeruniform, die ich trage, unangenehm bewusst. Es fühlt sich an, als hätte ich mich verkleidet – und alle würden es bemerken.
Ein kleiner Junge mit voll beladenem Teller und einem bis an den Rand gefüllten Becher schlurft an mir vorbei. Auch er sieht mich immer wieder von der Seite an.
Es ist Ishaan, der indische Junge, den ich vor ein paar Tagen zu seinem Test gebracht habe. Es kommt mir vor, als wäre das Ewigkeiten her. Er sieht aus, als hätte er nicht gut geschlafen. Vielleicht der Jetlag. Oder er fühlt sich einsam und überrumpelt von den plötzlichen Veränderungen in seinem Leben. Willkommen im Club.
Ich gebe mir einen Ruck und deute auf den leeren Stuhl mir gegenüber. »Willst du dich zu mir setzen?«
Abrupt bleibt er stehen, gerät ins Straucheln. Saft schwappt aus seinem Becher und landet auf dem Boden. Erst starrt er auf die kleine, orange Pfütze, dann sieht er wieder mich an und schüttelt wortlos den Kopf.
Okay. Nein ist auch eine Option.
Ich wende mich ab und zwinge mich zu einem weiteren Bissen von meinem Brötchen. Versuche mich innerlich auf den eng getakteten Tag vorzubereiten.
Eigentlich hätte es gestern schon mit ein paar Videodrehs für Yunus’ Kanal losgehen sollen, aber die wurden auf heute verschoben. Ich frage mich, ob Yunus sich doch geweigert hat, seine Profile zur Verfügung zu stellen. Ich werde aus seinem Verhalten einfach nicht schlau. Erst beschuldigt er die Traumunion grausamer Verbrechen, und dann sagt er gestern in Giacomos Büro fast kein einziges Wort. Und jetzt? Was tut er jetzt? Ich weiß es nicht. Jedenfalls nimmt er keine Videos mit mir auf – so viel steht fest.
Gerade als mein Blick erneut zu der digitalen Uhr über dem Eingang der Mensa wandert, öffnet sich die Tür, und Paul betritt den Raum. Er entdeckt mich und hebt grüßend die Hand.
»Bereit?«, fragt er, als er mich erreicht.
Auch er sieht aus, als hätte er nicht gut geschlafen.
Ich schlucke den letzten Bissen herunter und mache ein zustimmendes Geräusch. Dann stehe ich auf, bringe mein Tablett weg, und gemeinsam verlassen wir den Raum.
»Gut geschlafen?«, fragt Paul, während wir über den Innenhof laufen.
»Geht so«, murmele ich.
»Wenn du irgendwas brauchst, kannst du jederzeit zu mir kommen. Das weißt du, oder? Egal, was es ist.« Er sieht mich mit einem Lächeln an.
Ich bemühe mich, es zu erwidern, und murmele einen leisen Dank. Auf keinen Fall darf Paul erfahren, dass ich sein Telefonat gestern Abend mit angehört habe, und mich der Gedanke daran die halbe Nacht wachgehalten hat.
Wenn wir uns sehen, wirkt er immer so nett. Aber das Gefühl, dass Yunus mit seinen Vermutungen recht haben könnte und Paul nur eine Maske zur Schau trägt, hat sich tief in mein Inneres gegraben. Abermals verfluche ich mich dafür, dass ich mein Handy abgegeben habe. Das war meine einzige Verbindung nach draußen. Meine einzige Verbindung zu Lil und damit zu der einen Person, der ich in dieser Situation blind vertrauen kann.
Als könnte Paul meine Gedanken lesen, sagt er in einem verständnisvollen Tonfall: »Ich bin übrigens dran an der Smartwatch. Da kannst du dann die Nummern deiner wichtigsten Freunde draufspielen. Ich kann mir vorstellen, wie blöd das für dich war, dein Handy abzugeben.«
»Ja, das stimmt. Danke!«, sage ich gleichermaßen erleichtert wie verblüfft. Was steckt hinter diesen braunen Augen, die jetzt mitfühlend auf mich gerichtet sind? Ich kann ihn einfach nicht richtig lesen.
Wir betreten ein Gebäude und gehen einen der langen, backsteinernen Gänge entlang. Alle, die uns begegnen, mustern mich mehr oder weniger unauffällig. Jeder hat mittlerweile von mir gehört. Wie könnten sie auch nicht? Laut Paul sind die Medien voll von Berichterstattungen über mich, obwohl ich selbst noch nichts davon zu Gesicht bekommen habe. Zumindest dafür war es gut, mein Handy abzugeben, schätze ich.
»Drehen wir heute die Videos für Yunus’ Kanal?«, zwinge ich mich zu fragen.
»Du hast Glück, ich habe etwas viel Besseres mit dir vor«, sagt Paul. »Simulationstraining! Das wird dir helfen, deine Emotionen in Somna zu lenken.« Er räuspert sich. »Nachher drehen wir dann noch ein paar Interviewschnipsel.« Mir fällt auf, dass er einem Teil meiner Frage ausweicht.
»Veröffentlicht Yunus die dann über seine Profile?«, hake ich nach.
»Wir werden erst mal unsere eigenen Kanäle verwenden«, sagt Paul nach einer kurzen Pause.
»Aber Yunus soll doch auch noch was posten, oder?« Wir biegen um eine Ecke.
Jetzt sieht Paul mich an. »Yunus hat sich entschieden, seine Profile eine Weile zu pausieren.«
Ich starre ihn an, doch er öffnet nur wortlos eine Tür. Was soll das denn bitte heißen? Das klingt ganz so, als würde sich Yunus weigern zu kooperieren. Widersetzt er sich wirklich Giacomos Anweisungen? Ist es das wert? Das hier ist die internationale Traumunion. Die berühmte, ehrwürdige internationale Traumunion. Was will Yunus mit seinem Verhalten bezwecken?
Wir betreten einen weiteren Innenhof und kommen vor einem kleinen Gebäude zum Stehen, das Paul mir gestern auf unserer Tour bereits gezeigt hat. Auf den backsteinernen Mauern thront eine verputzte Kuppel. »Willkommen im VR -Dom«, verkündet Paul und hält mir die Tür auf.
Der Raum, den wir betreten, ist mit einem federnden Boden ausgelegt und komplett fensterlos. An einer Art Garderobe hängen seltsam aussehende, schwarze Anzüge, und ich kann einige technische Gerätschaften sowie mehrere Türen entdecken, die von dem Raum abgehen. Alles wird von gleißenden Deckenstrahlern erhellt.
»Bereit für dein erstes Emotionstraining?«, fragt Paul und grinst.
Ich kann nicht verhindern, dass eine gewisse nervöse Vorfreude in mir aufsteigt, und zucke lächelnd mit den Schultern.
»Normalerweise würden wir etwas langsamer anfangen. Mit Meditation zum Beispiel, um herauszufinden, wie gut du deine eigenen Emotionen ordnen kannst. Aber bei dir muss alles etwas schneller gehen. Immerhin sollst du schon bald zu den anderen aufschließen. Wir werfen dich quasi ins kalte Wasser und schauen mal, wie du dich schlägst!«
Das wischt das Lächeln von meinem Gesicht.
»Keine Angst«, sagt Paul, »es tut nicht weh.«
Er geht auf die Garderobe zu und greift nach einem der schwarzen Anzüge, die daran hängen. Sie sind den Traumgängeruniformen nicht unähnlich, der Stoff sieht jedoch um einiges dicker aus.
Paul dreht sich zu mir um, legt den Kopf schief und mustert mich. Sein Blick gleitet über meine Beine, Hüften und Schultern. Ich spüre, wie mir die Hitze den Körper hinaufkriecht. Endlich greift er nach einem weiteren Anzug und hält ihn mir hin.
»Hier. Zieh den bitte an.«
Damit ist er schon wieder ein paar Schritte weiter und öffnet einen Wandschrank.
Ich sehe mich nach einer Umkleide um, doch bevor ich es bei einer der Türen versuchen kann, ruft Paul mir zu: »Keine Sorge, ich sehe nicht hin!«
Da sein Kopf immer noch hinter der Schranktür verborgen ist, atme ich tief ein, gehe hinter der Garderobe in Deckung und streife meine Uniform ab. Dann ziehe ich eilig den schwarzen Anzug an und lasse meine Traumgängerkette darunter verschwinden. Er passt perfekt, nur am Rückenverschluss scheitere ich, weil meine Finger bereits in denen am Anzug eingenähten Handschuhen stecken.
»Fertig? Soll ich dir helfen?«
Ich zucke zusammen und drehe mich zu Paul um. Er hat die Hände nach dem Reißverschluss ausgestreckt. Ist da eine gewisse Verlegenheit in seinen Zügen zu erkennen?
Ich nicke, wende ihm den Rücken zu und spüre, wie seine Finger mir die Haare aus dem Nacken streifen. Unwillkürlich muss ich an Yunus denken, seine warme Berührung. Mein Hals kribbelt. Dann hat Paul den Reißverschluss zugezogen und lässt mich los.
»Hier. Das musst du noch aufsetzen.«
Er holt einen seltsam geformten Helm unter der Garderobe hervor.
»Was ist das?«
Ich drehe das Ding in der Hand. Die Innenseite ist mit etwas gespickt, das nach Dutzenden kleinen Saugnäpfen und silbernen Metallplättchen aussieht. Skeptisch blicke ich Paul an.
»Damit messen wir deine Hirnströme, während du in der Simulation bist. Und hier«, er deutet auf eine Ausbuchtung direkt über dem glänzenden Visier des Helms, »sind mehrere Kameras integriert, die deine Mimik aufzeichnen und ein Wärmebild deines Gesichts erzeugen. Mit diesen Daten kann unser Programm deine aktuelle Emotion errechnen und auf die Simulation übertragen. Offiziell heißt das Ding Neuroscanner. Aber mein Cousin Leo nennt ihn den Wuthut.« Paul lacht, aber als er meinen Gesichtsausdruck sieht, zuckt er mit den Schultern.
»Ohne diese Technik könnten wir Traumwandlungen gar nicht außerhalb von Somna trainieren. Die laufen ja nun mal über Emotionen.«
Er sieht mich bestärkend an.
»Dann mal los! Komm mit!«
Barfuß folge ich Paul und klemme mir dabei den Helm unter den Arm. Ich versuche den charmanten, zu Witzen aufgelegten Jungen vor mir mit der harten Stimme zu verbinden, die ich gestern durch die Tür meines Zimmers hinweg belauscht habe. Doch es gelingt mir nicht.
»So.« Paul lässt sich in der Mitte des Raumes auf dem Boden nieder. Kurz zögere ich, doch was habe ich für eine Wahl. Egal, was Pauls eigentlicher Plan sein mag, jetzt ist er hier, um mir zu erklären, wie ich traumgehen kann. Wie in Somna alles für mich möglich wird. Das ist es doch, was ich immer wollte, oder nicht? Und überhaupt, das hier ist nur eine Simulation. Was soll also schon passieren?
Ich setze mich ihm gegenüber. »Bevor wir anfangen, muss ich dir noch ein paar Grundlagen erklären.« Er räuspert sich und macht eine ernste Miene. »Bei den Simulationen geht es um eine Art Sicherheitstraining. Du weißt ja schon, dass es nicht ungefährlich ist, Traumgänger«, er stockt, »äh, Traumgängerin zu sein. In Somna kann man angegriffen oder sogar umgebracht werden. Dagegen haben wir drei Waffen.« Er hebt die Finger und zählt mit. »Erstens: Traumwandlungen. Wir verändern etwas um uns herum oder sogar etwas an uns selbst, um aus einer brenzligen Situation zu entkommen. Dafür braucht man die passende Emotion, sonst funktioniert es nicht. Deshalb ist das Herzstück unserer Ausbildung die Emotionskontrolle.«
Er hebt einen weiteren Finger.
»Zweitens: Flucht. Ich kann dir nicht sagen, wie wichtig dieses Mittel ist, Ria.« Eine steile Falte zieht sich über Pauls Stirn. »Es ist absolut keine Schande, in die Traumunion zurückzukehren. Lieber, du verlässt Somna rechtzeitig, als dass dir irgendetwas passiert. Verstanden?«
Ich nicke, und mein Mund wird trocken. Denn ich kann mir denken, was die letzte Option ist.
»Drittens: deine Träumgängerkette«, bestätigt Paul meinen unausgesprochenen Verdacht und hebt einen weiteren Finger. »Wenn du keine Möglichkeit mehr siehst, mit dem Leben davonzukommen, ist es deine oberste Pflicht zu verhindern, dass deine Gabe in die Hände des Mörders fällt.«
»Ist das schon mal vorgekommen? Dass sich jemand mit der Kette das Leben nehmen musste, um sein Gabe zu schützen?« Meine Stimme kommt mir sehr laut vor in dem leeren Raum.
Einen Moment zögert Paul. »Es ist schon eine ganze Weile her, ein Junge aus dem Jahrgang meines Onkels –« Er bricht ab.
Ich schlucke schwer, während die Einsicht tief in mein Inneres sickert: Es geht hier nicht um mich – und auch nicht um die anderen Traumgänger. Ging es nie. Es geht um das, was wir können. Protector non dominus. Hüter, nicht Herrscher. Die Traumunion steht immer an oberster Stelle.
Plötzlich fühle ich mich noch einsamer als zuvor. Etwas drückt mir die Kehle zu, und ich versuche erneut zu schlucken.
Auch Pauls Lächeln, das er nun aufsetzt – mit kleinen Grübchen auf den glattrasierten Wangen –, kann die Kälte, die seine Worte in mir hinterlassen haben, nicht vertreiben.
»Aber das ist natürlich die allerletzte Option. Mach dir darüber nicht zu viele Gedanken«, höre ich ihn sagen.
Als ich nicht auf seine Worte reagiere, klopft er sich auf die Schenkel und erhebt sich.
»Okay. Genug der Vorrede.« Er grinst. »Dann lass uns mal sehen, was du so draufhast!«
Ich bringe ein wackeliges Lächeln zustande und greife nach der Hand, die er mir hinhält, um mir aufzuhelfen. Da scheint ihm etwas einzufallen. »Hast du schon mal meditiert?«
Ich schüttele den Kopf.
»Nicht so richtig. Das macht mich immer nur müde.«
Einen Moment überlegt Paul, dann zuckt er mit den Schultern.
»Ist auch nicht so wichtig. Vielleicht hast du auch so schon ein ganz gutes Gespür für deine Emotionen. Immerhin hast du es trotz deiner Gabe geschafft, bisher nicht durchzudrehen. Kann sein, dass du ein Naturtalent bist.«
Ich erwidere seinen Optimismus nur mit einem gequälten Lächeln. Bei der Sache mit dem Naturtalent bin ich mir nicht so sicher …
Paul geht zurück zu dem Wandschrank und dreht sich kurz darauf mit einem Touchpad in der Hand zu mir um.
»Setz bitte jetzt den Helm auf!«
Ich hole tief Luft und folge seiner Anweisung. Augenblicklich umgibt mich Dunkelheit und Stille. Ich zucke zusammen, als sich an mehreren Punkten meines Kopfes etwas Kühles und Feuchtes festsaugt. Doch bevor ich mir den Helm wieder vom Kopf reißen kann, knackt es in meinen Ohren.
»Kannst du mich hören, Ria?«
Ohne etwas zu sehen, drehe ich mich zu allen Seiten und will mir gar nicht vorstellen, wie dämlich und orientierungslos ich dabei aussehe.
»Ja«, murmele ich, in der Hoffnung, dass der Helm ein Mikrophon hat.
»Super«, höre ich Pauls Stimme. »Lass mich mal schauen, ob die Elektroden funktionieren … Ja, sieht gut aus. Bereit?«
Gerade will ich fragen, wofür ich denn bereit sein soll, da sehe ich plötzlich eine Steppe vor mir. Nein. Ich bin in einer Steppe. Der Helm lässt alles so realistisch erscheinen, dass ich irritiert bin, als ich einatme und kühle Klimaanlagenluft in meine Lungen strömt.
In meinen Ohren ertönt Grillenzirpen. Und als ich an mir herabsehe, erkenne ich, dass ich auch in der Simulation einen schwarzen Ganzkörperanzug trage.
Doch bevor ich auch nur einen weiteren Gedanken fassen kann, höre ich ein lautes Getöse und reiße den Kopf hoch. Ein riesiger Feuerball rast auf mich zu. Er nähert sich mit einer solchen Geschwindigkeit, dass ich nichts tun kann, als aufzuschreien und mich auf den Boden fallen zu lassen – der viel härter ist als die sandige Savanne vor meinen Augen. Im nächsten Moment geht mein gesamtes Sichtfeld in Flammen auf, und der Anzug, in dem ich stecke, vibriert überall. Dann erscheint der Schriftzug »Session Over« vor den knisternden Flammen, und ich reiße mir den Helm vom Kopf.
Ich liege bäuchlings auf dem Boden des VR -Doms und rappele mich hoch.
»Was war das denn?«
Paul lehnt mit dem Tablet in der Hand an der Wand und lacht.
»Das könnte ich dich auch fragen«, ruft er zurück. »Du musst dich schon wehren, Ria. Benutz deine Traumgängerkräfte.«
»Aber wie denn?«
Meine Knie und Handflächen pochen dort, wo ich aufgeschlagen bin.
»Du musst in den Helm sprechen, welche Traumwandlung du dir wünschst. Falls die errechneten Emotionen dazu passen, setzt das Programm sie für dich um. Gerade hättest du aber wohl keine Chance gehabt.« Er sieht auf das Tablet herab. »Laut Analyse war deine Emotion zu sechsundachtzig Prozent Angst und zu vierzehn Prozent Verwirrung«, liest er vor, während er auf mich zuschlendert. »Damit hättest du dich nicht wirklich schützen können.«
Ich starre ihn nur an und versuche den Ärger in mir in Schach zu halten. Paul lässt das Tablet sinken und kommt vor mir zum Stehen.
»Okay. Was für eine Traumwandlung hättest du zum Beispiel beschwören können, Ria?«
»Keine Ahnung.« Mir entfährt ein Schnauben. »Warum sollte denn überhaupt ein Feuerball auf mich zufliegen?«
»In Somna weiß man nie. Mit den ganzen Albträumen, die gerade so en vogue sind.«
Auf seinen Lippen liegt ein schiefes Grinsen, aber sein Blick wirkt ernst, fast besorgt. Ich reiße mich zusammen. Er hat ja recht. Was weiß ich schon über Somna?
»Ich hätte eine Mauer erscheinen lassen können?«, seufze ich.
Paul nickt zustimmend.
»Ja. Zum Beispiel. Eine feuerfeste Mauer. Was hättest du dafür für Emotionen gebraucht?«
»Entschlossenheit?«, rate ich.
Wieder nickt Paul, als wäre ich seine Lieblingsschülerin.
»Entschlossenheit ist eine der grundlegendsten Emotionen für Traumwandlungen. Nur wenn du in deine Traumwandlung vertraust, wird sie sich materialisieren. In diesem Fall hätte dir vermutlich auch noch ein wenig Angriffslust oder Aggression gutgetan. Es ist immerhin nicht gerade leicht, sich einem Feuerball entgegenzustellen.«
»Hm«, mache ich dumpf, unsicher, was ich dazu sagen soll.
Paul hat sich schon wieder dem Tablet zugewandt. Und erneut taucht die steile Falte zwischen seinen Augenbrauen auf.
»Dann konfrontieren wir dich mal mit dem Klassiker: einem Klarträumer, der dir deine Gabe wegnehmen will.«
Klarträumer. Das Wort hinterlässt wie immer ein ungutes Gefühl in meinen Eingeweiden. »Ihr könnt alle Klarträumer werden. Jeder von euch kann lernen, in seinen Träumen aufzuwachen und diese bewusst zu lenken.« So hatte es meine Lehrerin schon in der Grundschule gesagt. Wie falsch sie damit lag. Zumindest was mich anging …
»Alles okay?«, reißt Paul mich aus der Erinnerung. »Du musst dir keine Sorgen machen. Das hier ist dein erstes Training. Keiner erwartet, dass deine Traumwandlungen gleich perfekt sind. Und außerdem – es ist nur eine Simulation. Hier kann dir nichts passieren.«
Wieder lächelt er auf diese ermutigende Weise, und ich verzichte darauf, ihm zu erklären, woran ich wirklich gedacht habe. Das bisschen Innenleben, das nicht von Kameras, hirnstromableitenden Helmen und eingepflanzten Chips analysiert wird, möchte ich dann doch für mich behalten.
»Und wenn es gar nicht mehr geht, dann kannst du einfach fliehen. Auch in der Simulation. Das ist manchmal die beste Option.«
»Fliehen«, wiederhole ich. »Alles klar.«
»Klingt wenig glorreich, kann dir im Ernstfall aber das Leben retten.«
Ich meine, Sorge in seinem Gesicht zu sehen, und bin überrascht, als er mir die Hand auf den Arm legt. Auch er scheint kurz aus dem Takt gebracht von seiner impulsiven Geste. Denn einen Moment später zieht er die Hand abrupt zurück.
Ich räuspere mich und stülpe mir den Helm wieder über den Kopf. »Wollen wir?«
Pauls Schritte entfernen sich, und ich versinke in einer weiteren Simulation. Es ist eine von vielen an diesem Vormittag. Paul schickt mich in diverse Städte und Landschaften, in denen überall Gefahren auf mich lauern. Ein paar Mal sterbe ich, hin und wieder entkomme ich. Ob ich mich verbessere oder wirklich etwas dabei lerne, weiß ich nicht. Auf alle Fälle wird mir irgendwann schwindelig.
Nach einer Simulation, die ich durch ein panisches »Raus aus Somna« beendet habe, kommt Paul wieder auf mich zu.
In seiner Hand hält er mehrere Powerriegel, von denen er mir einen anbietet. Wir lassen uns auf dem Boden nieder und hungrig reiße ich die Plastikverpackung auf.
Paul beißt ebenfalls von einem Riegel ab und betrachtet mich nachdenklich. Mir fällt auf, dass die steile Falte auf seiner Stirn nicht verschwunden ist. Im Gegenteil. Sie hat sich sogar noch tiefer eingegraben.
»Was ist?«, frage ich, und er sieht ertappt aus.
»Nichts.«
»War ich so schlecht?«
Er zögert, dann lächelt er mich aufmunternd an.
»Es ist nicht leicht, seine Emotionen zu kontrollieren. Seine Angst beiseitezuschieben. Das schafft vermutlich niemand beim ersten Mal.«
Er sieht aus, als wolle er noch etwas sagen, doch dann beißt er einfach von seinem Riegel ab.
»Aber …?«, versuche ich ihn zum Weitersprechen zu animieren. Ich weiß, dass da noch mehr ist.
»Aber bei dir haben wir leider nicht so viel Zeit. Und …«
»Und was?«
Er seufzt.
»Und bei dir sind die emotionalen Ausschläge auf den Skalen sehr hoch. Du warst im obersten Perzentil der Emotionsintensität. In jeder einzelnen Simulation.«
Ich blinzele.
»Bitte was?«
»Das bedeutet, dass nur einer unter hundert Menschen so intensive Emotionen spürt wie du. Das ist per se nicht schlecht. Es kann zu besonders mächtigen Traumwandlungen führen. Aber wenn du die Emotionen nicht lenken kannst, könnte das ein Problem werden.«
»Weil meine Traumwandlungen dann nicht funktionieren?«
Er nickt.
»Ja, zumindest nicht unbedingt so, wie du willst. Im Gegenteil. Du könntest unfreiwillige Traumwandlungen auslösen. Und die sind nicht immer schön.«
Ein Stück des Riegels bleibt mir im Hals stecken, und ich muss husten. Paul klopft mir auf den Rücken, bis ich ihm mit einer Geste zu verstehen gebe, dass es mir wieder besser geht. Meine Gedanken rasen. Ich muss an die Sonne denken, die so plötzlich untergegangen ist, als ich mit Yunus auf dem Alex saß, und an den Kometenschauer, den ich bei meinem letzten Somna-Besuch nicht beabsichtigt hatte. Unkontrollierte Traumwandlungen. Vermutlich ist das alles, was ich bisher zustande gebracht habe. Gerade will mich Unbehagen überspülen, als mir das Fluggerät einfällt, das ich bei meinem ersten Somna-Aufenthalt habe entstehen lassen. Das hatte ich doch genau so beabsichtigt, oder? Zumindest mehr oder weniger.
Ich zwinge ein Lächeln auf mein Gesicht.
»Na, zur Not kann ich ja immer fliehen. So wie du es mir beigebracht hast.«
Ich bin erleichtert, als die Falte auf Pauls Stirn verschwindet und er lacht.
»Ja. Das kannst du auf jeden Fall schon gut.«
Ich halte das Lächeln auf meinem Gesicht. Na, wer sagt’s denn? Nach außen hin konnte ich schon immer gut meine Emotionen kontrollieren. Jetzt muss ich es nur noch innerlich schaffen.
Eine Weile sitzen wir schweigend da und essen. Dann entscheide ich, dass ich diesen Moment ebenso gut nutzen kann.
»Paul …«, beginne ich.
Er sieht auf.
»Ja?«
»Woher kommen die Albträume?«
Er kaut langsam und schluckt, als müsse er über seine Antwort nachdenken.
»Wir vermuten, dass es illegale Traumgänger sind, die sie verursachen«, sagt er dann. »Traumgänger, die sich nicht bei der Traumunion gemeldet haben und jetzt Somna manipulieren.«
»Aber warum sollten sie das tun?«
Er zuckt mit den Schultern.
»Macht? Mit Träumen kann man das Unterbewusstsein der Menschen verändern. So hat ja damals auch der große Traumkrieg angefangen.«
»Aber was erreicht man damit, allen Menschen Albträume zu bereiten?«
Ich weiß, dass Paul mir keine Antwort geben kann, aber ich muss trotzdem fragen. Wie erwartet schüttelt er den Kopf.
»Ich habe keine Ahnung. Aber genau deswegen ist es so wichtig, dass du so schnell wie möglich deine Ausbildung erhältst. Und dass wir dieses PR -Desaster mit Yunus’ Videos lösen. Nur so kannst du uns helfen.«
Wortlos kaue ich weiter. Ich soll dabei helfen, Somna zu beschützen. Kann ich das? Hüter, nicht Herrscher. Ich als Hüterin von Somna. Ria Maywald, Traumgängerin. Ich muss nur lernen, meine Emotionen zu kontrollieren.
Ein Kribbeln läuft durch meinen Körper und hinterlässt einen leichten Schwindel. Vielleicht ist das aber auch die Unterzuckerung. Eilig greife ich nach einem weiteren Riegel. Was auch immer Paul und die anderen Traumgänger mit mir vorhaben, eines schwöre ich mir: Ich werde versuchen meine Gabe zu trainieren und dann für das Gute einzusetzen. Für die Sicherheit Somnas. Und solange die Traumunion dasselbe Ziel hat, stehe ich auf ihrer Seite.