15 Selena

»S elena!«

Schwindel lässt mich zu Boden stürzen. Ich reiße die Augen auf. Metallene Tischbeine. Eine weiße Wand. Helles, unnatürliches Licht.

»Selena!«

Es ist mehr ein Zischen als ein Flüstern, mit dem Eric meinen Namen sagt. Unsanft zieht er mich auf die Beine, und ich schnappe nach Luft. Ich bin wieder im Schlaflabor.

Wie betäubt lasse ich mich von Eric aus dem Raum und die Treppe hinauf zerren. Mehrfach stolpere ich über die Stufen und meine eigenen Füße, doch Eric zieht mich jedes Mal wieder unsanft hoch. Als sich die Tür des Büros hinter uns schließt, fährt er zu mir herum. »Wo warst du?«, ruft er.

Ich muss daran denken, wie er mich vorhin angelächelt hat, als ich ihm gesagt habe, dass ich mit ihm die Tore zerstören würde. Es war, als hätte ich ihm ein Geschenk gemacht. Von dieser Freude ist nun nichts mehr zu spüren.

»Der Blonde. Das war der Typ«, sage ich atemlos. »Einer meiner Entführer. Und er hatte wieder ein Mädchen dabei.«

Noch immer pumpt der Schock darüber Adrenalin durch meine Adern und hält mich davon ab, vor Erschöpfung zu kollabieren.

Erics Blick wandert über mein Gesicht, als müsste er es neu zusammensetzen. Vermutlich ergeben meine Worte für ihn nicht viel Sinn. Aber nichts in meinem Kopf ergibt gerade Sinn … Es kostet mich alle Kraft, ruhig zu atmen.

»Das war einer der Männer, vor denen Mo mich gerettet hat«, setze ich erneut an, »der auf dem Motorrad. Und er hatte das Mädchen aus der Traumunion dabei – diese Ria! Sie wollten sie bestimmt hinter das Tor stoßen!« Meine Stimme bricht.

Eric weicht zurück und lässt sich auf die Schreibtischplatte sinken. Dann sagt er in einem Ton, der so klingt, als würde er die Antwort nicht hören wollen: »Was hast du gemacht, Selena?«

Jetzt spüre ich Wut in mir hochkochen. Warum will er nicht verstehen, was ich ihm hier gerade sage?

»Ich habe das Tor zerstört! Ich musste doch irgendetwas tun!«

»Du hast das Tor zerstört?«, wiederholt er tonlos. »Haben die Traumkommissare dich dabei gesehen?«

»Das war doch genau das, was du wolltest!«, erwidere ich, ohne seine zweite Frage zu beantworten.

»Ja, aber doch nicht vor den Augen der Traumunion!«, ruft er und springt von der Tischplatte auf. »Haben die gesehen, wie du das Tor zerstört hast?«

»Ja. Klar. Ich lass doch nicht zu, dass sie ein Mädchen umbringen.«

Eric fasst sich an den Kopf und macht ein paar ziellose Schritte. »Verdammt. Selena. Die haben dich gesehen. Und sie wissen jetzt, was wir machen. Ist dir klar, was du da getan hast?«

Er kommt auf mich zu, ungezügelter Zorn auf seinem Gesicht.

»Was willst du eigentlich von mir?«, fauche ich. Ich deute warnend auf ihn, und es fehlt nicht viel, dann würde sich mein Finger direkt in seine Brust bohren. »Du hast mich angelogen!«

Er hat die Dreistigkeit, überrascht auszusehen.

»Von wegen, man kann die Traumlandschaft wiederaufbauen! Ich habe es versucht und habe gerade mal die Hälfte einer Stadt hervorgebracht, den Rest hat das Nichts jedes Mal wieder geschluckt. Da ist immer noch ein riesiges Loch in Somna! Es ist unmöglich, die Löcher wieder zu füllen!«

In mir vermengen sich Frustration und Wut mit der Sorge um dieses fremde Mädchen zu etwas, das mich davon abhält, mich zu beruhigen.

Es sieht aus, als würde die Luft aus Eric entweichen. »Das stimmt nicht, Selena«, sagt er. »Ja, du hast recht. Es ist nicht leicht, die Traumlandschaften wiederaufzubauen. Aber zusammen können wir es schaffen, da bin ich mir ganz sicher. Sobald wir alle Tore zerstört haben, fangen wir damit an. Versprochen. Aber dafür müssen wir Kraft sammeln. Und unerkannt bleiben.« Er atmet tief ein, versucht offensichtlich, sich zu beruhigen. »Wobei es dazu vielleicht schon zu spät ist. Die wissen jetzt, wie du aussiehst.«

»Na und?«, rufe ich trotzig. »Das wussten sie vorher auch. Die haben versucht, mich umzubringen, schon vergessen?«

»Aber jetzt wissen sie, wer du bist. Was du bist!«

Fast weiche ich zurück, so erschreckt mich Erics jähe Lautstärke. Es ist, als würde in ihm etwas brodeln, das nun zum ersten Mal an die Oberfläche dringt. Er bleibt direkt vor mir stehen.

»Selena. Die werden dich jagen .« Das letzte Wort spricht er langsam aus, betont jede Silbe. »Uns bleibt keine Zeit mehr. Wir müssen die Tore jetzt noch schneller zerstören.«

»Wer sagt, dass ich dir noch immer dabei helfen will?«

Ich sehe ihm ins Gesicht. Etwas dahinter scheint zu arbeiten. Abzuwägen.

»Selena, ich …«

»Was?!«

Es tut gut, das Wort herauszuschreien.

Er schweigt – der Blick gequält, die Lippen stumm aufeinandergepresst.

Ich schnaube.

Gerade als die Stille zwischen uns unerträglich wird, wird die Tür aufgestoßen. Mo steht im Türrahmen und sieht uns prüfend an.

»Alles okay bei euch?«

Ich werfe Eric einen möglichst vielsagenden Blick zu und dränge mich an Mo vorbei auf den Gang, ohne auf ihre Frage zu reagieren.

»Selena«, höre ich Eric in meinem Rücken. »Wo gehst du hin?«

Statt zu antworten, steuere ich auf den Aufzug zu. Ich brauche frische Luft.

»Bleib hier!«, ruft er mir hinterher.

Ich wirbele herum.

»Du hast mir gar nichts zu sagen!«

Damit steige ich in den Aufzug und Genugtuung erfüllt mich, als ich feststelle, dass Eric mir nicht folgt. Er traut sich nicht. Es ist genau wie Mo gesagt hat, er verlässt nie das Apartment. Ich lehne mich an die verspiegelte Wand und versuche, ruhig zu atmen. Wieder muss ich an den Typen auf dem fliegenden Motorrad denken. Es ist, als hätte sich das Bild in meine Netzhaut gebrannt. Und diese Ria? Schwebt sie wirklich in Gefahr? Oder … Jäh durchzuckt mich ein Gedanke: Kann es sein, dass sie mit diesem Paul unter einer Decke steckt? Habe ich doch zu überstürzt reagiert, als ich das Tor zerstört habe?

 

Unten angekommen, durchquere ich die Lobby, ignoriere den Gruß des Portiers und trete in die Straßenschlucht vor dem Gebäude. Bereits jetzt am Morgen ist sie erfüllt von einer stickigen Hitze, die aus jeder betonierten Fläche, jedem Auspuff und jeder der unzähligen surrenden Klimaanlagen zu strömen scheint. Es ist wie eine verschwitzte Umarmung, aus der man sich nicht befreien kann. Kurz muss ich innehalten, da mich ein Schwindel erfasst. Dann habe ich mich wieder unter Kontrolle und laufe den Bürgersteig entlang, als hätte ich ein Ziel.

Die Menschen um mich herum tragen verschiedene Grade der Erschöpfung auf ihren Gesichtern. Da sind Businessmenschen in schwarzen Anzügen und Kostümen, die zu ihrem ersten Termin eilen. Da sind Touristen, die mit überforderten Augen die Häuserfassaden betrachten und davon ausgehen, dass man ihnen ausweicht. Da ist der müde Bettler, der dem Strom stumm die Hand entgegenhält.

In New York fühle ich mich, als wäre ich die Zuschauerin eines Films, in dem die Komparsen allesamt die Hauptrolle spielen wollen. Vielleicht ist das der einzige Aspekt, der mir an großen Städten wirklich gefällt. Hier bin ich nicht besonders. Hier bin ich nicht komisch. Hier bin ich keine Traumgöttin, wie Eric es genannt hat. Ich bin einfach nur eine junge Frau, die etwas übermüdet aussieht. So wie alle anderen auch.

»Selena!«

Ich drehe mich um. Mo drängt sich hinter mir zwischen ein paar Menschen hindurch, ihren Rucksack über der Schulter.

Einen Moment zögere ich, aber dann bleibe ich stehen.

»Hey«, sagt sie außer Atem, und wir fallen nebeneinander in einen zügigen Schritt. »Was war denn das da oben?«

Ich zucke mit den Schultern. Ist sie mir nachgelaufen, um mich zurückzuholen? Das kann sie aber so was von vergessen.

»Selena, ich weiß, du willst vermutlich gerade allein sein. Aber ich … Darf ich dich ein bisschen begleiten?«

Ich betrachte ihr Gesicht und mache dann ein Geräusch, das Mo als Zustimmung interpretiert. Überrascht stelle ich nach ein paar Metern fest, dass Mo offenbar nichts sagen möchte. Sie geht neben mir an den Fassaden und Hauseingängen vorbei, überquert mit mir die Straßen, und synchron weichen wir den entgegenkommenden Menschen aus. Ich beginne, mich zu entspannen.

Wir erreichen einen betonierten Platz mit zahlreichen Bänken und wenigen Bäumen, der laut einer Tafel als Park bezeichnet wird. Zwischen den Bänken steht eine Gruppe von Menschen, die Schilder in die Luft halten.

Kurz komme ich ins Stocken, als ich die Worte auf den Schildern lese und höre, was einer der Demonstranten in ein Megaphon ruft: »Wir fordern freie Träume! Wo bleibt die Reaktion der Traumunion? Wo bleibt der Schutz, den sie uns immer versprechen? Was passiert da gerade in Somna? Wer nicht merkt, dass seine Träume manipuliert werden, ist blind! Wir müssen uns wehren! Jetzt! Wir dürfen nicht länger auf die Union vertrauen! Lernt jetzt alle das Klarträumen! Lernt, eure Träume selbst zu lenken. Lernt, euch zur Wehr zu setzen!«

Eine Frau kommt mit einem eifrigen Gesichtsausdruck auf uns zu und drückt mir einen Zettel in die Hand.

KLARTRÄUM -KURS . JETZT ANMELDEN steht in Großbuchstaben darauf.

Ich lächle sie an und beschleunige meine Schritte. Den Zettel werfe ich in den nächsten Mülleimer. Mo folgt mir.

Erst als ich die Rufe der Demonstranten nicht mehr höre, werde ich langsamer. Das Schweigen zwischen Mo und mir ist jetzt nicht mehr angenehm. Das kann ich deutlich spüren. Sie betrachtet mich von der Seite, und ich versuche es zu ignorieren.

Meine Gedanken rasen. Wer nicht merkt, dass seine Träume manipuliert werden, ist blind! Plötzlich spüre ich Schweiß aus all meinen Poren drängen.

Wir biegen in eine ruhigere Seitenstraße ein. Mo kickt einen leeren Pappbecher vor uns über den Bürgersteig.

»Was haben Eric und du in Somna gemacht, Selena?«

Ich schlucke. Jetzt sind wir beim Thema. Ich versuche es mit einer Gegenfrage. »Bist du nie mit Eric in Somna?«

Mo zuckt mit den Schultern.

»Doch, schon«, sagt sie und schweigt.

»Dann machen er und ich vermutlich etwas Ähnliches in Somna wie du sonst auch«, versuche ich möglichst überzeugend auszuweichen.

Wieder kickt sie den Pappbecher.

»Wie lange bist du schon bei ihm? Er hat dich adoptiert, richtig?«, frage ich und hoffe, dass meine Ablenkungstaktik funktioniert. Über die Tore reden will ich jetzt nicht.

Mo schweigt, bis wir den Pappbecher erreicht haben und sie ihm wieder einen heftigen Tritt versetzt. Diesmal fliegt er besonders weit und landet auf der Straße, wo er von einem vorbeifahrenden Taxi überrollt wird.

»Ja. Als ich klein war. Aus Japan.«

Irgendetwas lässt mich befangen schweigen. Ja, ich bin ohne meinen Vater aufgewachsen, aber ich hatte immer meine Mutter. Ich wusste, wo ich herkomme. Wie muss es sein, als Adoptivtochter aufzuwachsen?

Jetzt, wo ich darüber nachdenke, fällt mir kein besonders herzlicher Moment zwischen Eric und Mo ein. Plötzlich habe ich den Drang, Mo zu berühren, tue es aber nicht. Sie starrt auf den Asphalt vor uns. Die Stadt um uns herum kommt mir unfassbar laut vor.

»Ich habe einen Job, mit dem ich mein eigenes Geld verdiene«, sagt sie. »Und demnächst habe ich genug gespart, um mir eine Reise nach Japan zu leisten.«

Ich frage sie nicht, warum sie sich die Reise nicht einfach von Eric bezahlen lässt. Stattdessen lächle ich zurück, dankbar, dass sie das Thema Somna hat fallen lassen.

»Wo arbeitest du denn?«

»In einem Laden in Brooklyn. Da wollte ich eigentlich gerade hin.«

»Kann ich mitkommen?«, frage ich, einem Impuls folgend.

Mo sieht mich überrascht an.

»Okay«, sagt sie schlicht. Die Fragen stehen ihr ins Gesicht geschrieben, und ich rechne es ihr hoch an, dass sie keine von ihnen stellt.

Auf viele davon hätte ich vermutlich sowieso keine Antwort gehabt. Zum Beispiel auf die Frage, warum ich mit nach Brooklyn will. Es ist schlicht ein innerer Drang, irgendetwas zu machen, das mich möglichst weit weg vom Schlaflabor und all dem bringt, was ich heute erfahren habe. Zur Hölle mit Eric und seinem »Bleib hier«. Ich mache, was ich will. Und jetzt will ich nach Brooklyn fahren.

»Da lang«, sagt Mo irgendwann und deutet auf den Eingang einer U-Bahn-Station.

Wir laufen die Treppen der Station hinunter, kaufen Tickets und betreten einen der silbernen Wagen, die ratternd vor uns zum Stehen kommen.

Die Fahrt verbringen wir schweigend, und ich bin die meiste Zeit damit beschäftigt, die anderen Fahrgäste zu beobachten. Vermutlich kann mich nichts so gut von meinen kreisenden Gedanken ablenken wie eine Fahrt in der New Yorker U-Bahn. All die unterschiedlichen Gerüche, Farben, Formen und Größen. Ich genieße es, dass niemand mich beachtet. Vielleicht habe ich die wahre Magie von Großstädten bisher unterschätzt. Der Wagen rumpelt in einer ohrenbetäubenden Lautstärke über die Schienen.

Irgendwann gibt mir Mo ein Zeichen, und wir steigen aus. Von der Straße weht uns heiße, abgasschwere Luft entgegen, als wir die Treppe nach oben laufen. Ich blinzele in die Sonne und stelle fest, dass Brooklyn eine ganz andere Atmosphäre verströmt als Manhattan.

Die Straßen sind leerer und die Häuser kleiner, mit ausladenden Feuertreppen. Alles scheint eine Spur langsamer zu sein als auf der Landzunge gegenüber. Und eine Spur weniger perfekt.

In der Nähe ist eine der Wände komplett mit einem farbenfrohen Graffiti bemalt. Ich erstarre. Täusche ich mich oder ist das das Gesicht der rothaarigen Traumgängerin, das dort einen Teil der Wand ziert? Hastig wende ich den Blick ab, doch es fühlt sich an, als hätten sich die Augen des Mädchens in mich gebohrt. Ein Graffiti. Es ist nur ein Graffiti. Ich sehe schon Gespenster. Ohne mich noch einmal umzudrehen, folge ich Mo um eine Ecke.

Vor einem vergitterten Ladenfenster bleibt sie stehen, geht in die Hocke und zieht einen Schlüssel aus der Tasche. Ratternd saust das Gitter nach oben und legt eine gläserne Ladentür frei.

Mo schließt die Tür auf, und ein Geruch strömt mir entgegen, den ich nicht ganz zuordnen kann. Ich bleibe am Eingang stehen und schaue mich verblüfft um. Erst jetzt entdecke ich den großen Schriftzug, der auf dem Schaufenster prangt: Radical Records.

Ich betrete die knarzenden Dielenbretter des Geschäfts. Der Raum ist über und über mit Kästen vollgestellt, in denen sich Schallplattenhüllen aneinanderschmiegen.

Mo knipst das Licht im hinteren Teil des Ladens an. Es erhellt eine altmodische Theke und ein paar verblichene Autogrammkarten, die gerahmt und verstaubt an der backsteinernen Wand hängen.

Ich drehe mich einmal um mich selbst und lasse den Blick über die unzähligen Schallplatten und die offenbar vor Jahrzehnten geschriebenen Preisschilder gleiten. Ich muss an das schicke, moderne Apartment denken, in dem Mo und ich wohnen. Dieser Laden könnte nicht gegensätzlicher sein.

»Du arbeitest in einem Plattenladen?«, frage ich.

Mo grinst.

»Ja. Aber mal sehen, wie lange noch. Eddy, der Besitzer, hat es nicht so mit wirtschaftlichen Überlegungen. Ich habe ihm schon öfter vorgeschlagen, hier ein Café reinzunehmen. Aber er sagt, er wäre zu alt für so was. Jetzt mache ich den Laden einfach ein paar Mal die Woche auf, und wenn Eddy kann, gibt er mir dafür ein bisschen Lohn.«

»Wieso suchst du dir nicht einen anderen Job? Wäre doch besser zum Sparen, oder?«

Mo sieht sich um. Fast wirkt sie verlegen, und plötzlich habe ich das Gefühl, dass ich in etwas sehr Privates vorgedrungen bin. Als hätte Mo mit unserer Fahrt nach Brooklyn eine unsichtbare Hülle abgestreift, unter der eine andere, sehr vertraute Mo zum Vorschein kommt.

»Ich weiß nicht.« Sie scheint ernsthaft nachzudenken. »Ich liebe die Atmosphäre hier einfach. Die Platten … Es ist schön zu wissen, dass überall im Raum die Stimmen von Menschen lagern, die schon längst nicht mehr am Leben sind. Ihre Texte, ihre Melodien und ihre Stimmen sind für immer in die Platten gepresst. Auch wenn sie selbst nicht mehr da sind.« Kurz scheint Mo wieder abwesend zu sein. Dann lächelt sie mich an. »Mit digitaler Musik ist das einfach nicht dasselbe.«

Ich nicke, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich wirklich verstehe, was sie meint.

»Weißt du«, Mo hantiert mit einer alten Kaffeemaschine hinter der Theke, »manchmal denke ich mir, dass der Tod gar nicht so schlimm sein kann, wenn diese ganzen tollen Künstler schon tot sind. Die warten dann da. David Bowie. Aretha Franklin. Elvis Presley.« Sie nickt zu den Platten herüber. »Darum bin ich so gerne hier.«

»Du bist echt seltsam, Mo«, sage ich und muss lachen.

Sie grinst, und mir fällt wieder auf, dass sich ihr Gesicht verändert, wenn sie das tut. Sie wirkt freier, leuchtender, schöner.

Mit einer Kanne in der Hand geht sie durch einen löchrigen Türvorhang, und ich höre, wie sie im Hinterzimmer Wasser in die Kanne füllt.

»Willst du einen Kaffee?«, ruft sie.

»Gerne!«

Sie kehrt zurück und füllt das Wasser in die Kaffeemaschine. Röchelnd und zischend beginnt das Gerät zu arbeiten.

»Milch? Zucker?«

»Nee, danke. Schwarz.«

Ich gehe im Raum auf und ab. Draußen fährt hupend ein Auto vorbei. Mo kommt hinter dem Tresen hervor, zwei Klappstühle unter dem Arm.

»Hier. Stell die mal draußen auf.«

Ich nicke und bugsiere die Stühle vor das Schaufenster.

Mo schiebt einen Ständer mit Schallplatten vor die Tür, verschwindet wieder und kommt schließlich mit zwei randvollen Tassen zurück. Eine davon drückt sie mir in die Hand, bevor sie an einer Stange kurbelt und sich der Schatten einer Markise über uns legt. Vorsichtig lasse ich mich auf einem der Klappstühle nieder und nippe an dem heißen Getränk. Der Kaffee ist stark.

»Soll ich dich eigentlich Selena oder Sel nennen?«

Überrascht sehe ich Mo an.

»In Somna habe ich gehört, wie die Leute dich Sel genannt haben. Deine Cousine zum Beispiel. Stimmt doch, oder?«

Unangenehm senkt sich das Bewusstsein auf mich herab, dass Mo mich bereits über Jahre in Somna beobachtet haben muss. Genau wie Eric.

»Ist mir egal«, sage ich schnell. »Nenn mich, wie du willst!«

Mo nickt. »Sel gefällt mir. Oder Selly. Was hältst du davon?«

Fast verbrenne ich mich am Kaffee.

»Nee. Also Selly wirklich nicht. Nein.«

Mo lacht und hebt entschuldigend die Hand. »Okay, okay. Schon verstanden. Alles, nur nicht Selly.«

Trotz meiner verbrühten Zunge trinke ich einen weiteren Schluck Kaffee, um die seltsame Verlegenheit zu überspielen, die ich plötzlich spüre.

»Und du? Ist Mo eine Abkürzung?«

Mir fällt auf, dass ich kaum japanische Namen kenne und schon gar nicht solche, für die sich Mo als Abkürzung eignen würde.

»Ja. Für Morgan.«

»Morgan?«

»Ja.«

Man muss meinem Gesicht die Überraschung angesehen haben, denn Mo fährt fort: »Den Namen habe ich mir selbst gegeben, als ich nach New York gekommen bin.«

Wieder bekomme ich dieses dumpfe Gefühl, dass da so viel mehr in den Sätzen mitschwingt als das, was Mo sagt.

»Wieso Morgan?«

»Wegen Morgan le Fay.«

Verwirrt ziehe ich eine Augenbraue nach oben.

»Die Magierin aus der Artussage.«

Ich nicke langsam, aber wirklich verstehen tue ich es nicht. Mo zuckt mit den Schultern.

»Die mochte ich einfach schon immer. Eine Frau, die anders ist als die anderen. Und trotzdem steht sie zu sich und weiß, was sie will.«

Ich lächle und stelle mir eine kleine, ernste Mo vor, die die Artussage liest und sich von der starken Magierin inspirieren lässt.

Dann sehe ich eine andere Mo vor meinem inneren Auge. Die Mo, die an meinem ersten Abend in New York meinte, dass sie, Eric und ich alle nicht normal seien. Vielleicht war das auch ein Grund, weswegen ich hiergeblieben bin.

Wir nippen an unseren Kaffees.

»Hast du schon mal andere kennengelernt? Also andere Mädchen wie uns, die traumgehen können?«, frage ich.

»Nee. Nur dich und dieses Mädchen, das bei der Traumunion aufgetaucht ist. Wobei ich die natürlich nur aus den Medien kenne.«

Wir schweigen. Ich muss an das Gesicht der Rothaarigen denken, wie sie hinter diesem Paul auf dem Motorrad saß. Wie es ihr jetzt wohl geht?

»Was, meinst du, haben die mit ihr vor?«

Mo sieht mich über ihre Kaffeetasse hinweg an.

»Keine Ahnung. Aber ich glaube nicht, dass es irgendetwas Gutes bedeutet.«

»Hm«, mache ich und frage mich, ob ich Mo von meinem Besuch in Somna heute Morgen erzählen soll. Aber wo sollte ich anfangen? Bei den Toren? Beim Morphismus und meinen Fähigkeiten als Traumgöttin? Bei dieser Ria Maywald und dem Blonden?

»Irgendetwas verändert sich gerade«, sagt Mo in das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos hinein. »Somna wird immer hektischer und voller. Es wird gefährlicher. Alle merken das. Die Menschen haben so oft Albträume. Etwas gerät total aus den Fugen.«

Ich verschlucke mich und muss husten.

»Geht’s?«

Ich nicke und räuspere mich mehrmals.

Mo richtet den Blick auf den Asphalt, und eine Düsternis liegt darin, die sich wie eine Anschuldigung anfühlt. »Hast du gelesen, wie viele Unfälle es allein in den letzten Tagen gab? Die Menschen sind völlig übernächtigt.«

Trotz der Hitze läuft mir ein kalter Schauer über den Körper.

Ich wende mich ab und beobachte eine Taube, die sich auf der anderen Straßenseite niederlässt. Dabei spüre ich Mos nächste Frage in der Luft und will sie nicht hören. Und gleichzeitig kann ich nicht anders als hier sitzen und warten, dass sie sie endlich stellt.

»Sel?« Mos Stimme klingt eindringlich, obwohl sie gedämpft spricht. »Ist es Eric, der Somna verändert? Was ist vorhin passiert dort drüben? Warum habt ihr gestritten?«

Ich sehe sie an. Der Blick ihrer dunklen Augen tanzt zwischen meinen hin und her, als könnten sie mich so dazu bringen, alles abzustreiten. Als würde sie am liebsten aus mir herauspressen, dass ich nichts mit den Veränderungen zu tun habe. Dass Eric nichts tut, was außergewöhnlich wäre. Aber im selben Moment weiß ich, dass das eine Lüge wäre. Und etwas sagt mir, dass ich Mo nicht anlügen kann.

»Wie kommst du darauf?«, versuche ich auszuweichen.

»Er ist komisch in letzter Zeit. Er ist immer länger in Somna unterwegs. Manchmal glaube ich, dass er nur noch zum Schlafen ins Apartment zurückkommt.« Sie sieht mich eindringlich an, und mir fällt auf, wie dunkel ihre Augen sind. Nur leicht zeichnet sich der Unterschied zwischen Pupille und Iris ab. »Also. Was treibt er da? Weißt du was?«

Ich zögere und sage dann schließlich das Einzige, was ich in diesem Augenblick sagen kann: »Er … zerstört die Tore. Und er hat mich gebeten, ihm dabei zu helfen.«

»Die Tore«, wiederholt Mo langsam, spricht jedoch nicht weiter.

»Ja. Es sind Todesfallen. Man stirbt nicht nur, wenn man hindurchgestoßen wird. Sie locken die Menschen geradezu an und lassen sie freiwillig in den Tod gehen.« Ein vorbeilaufender Passant sieht mich irritiert an.

»Hm«, macht Mo nur und wirkt nicht überrascht.

Eine Weile sitzen wir einfach da.

»Und machst du mit?«

Ich sehe zu ihr auf.

»Was?«

»Na, wirst du ihm helfen, die Tore zu zerstören?«

Ich schüttele den Kopf. »Ich weiß es nicht.«

Wieder umhüllt uns Schweigen.

Ich habe das Gefühl, dass ich noch etwas sagen muss. Etwas, um mich zu erklären.

»Eigentlich wollte ich ihm helfen. Unschuldige Menschen sterben in den Toren«, sage ich. »Aber …« Ich zögere. Mo mustert mich, und ich kann den Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht deuten. »Aber wenn man die Tore zerstört, verschwindet mit ihnen jedes Mal ein großes Stück von Somna.«

Noch immer sagt Mo nichts, trinkt einen weiteren Schluck von ihrem Kaffee.

»Aber glaubst du nicht, dass es einen Grund gibt, warum die Tore existieren?«, fragt sie schließlich leise, und ich bin überrascht, keine Entrüstung oder sonstige Regung in ihrer Stimme zu hören. »Bist du dir sicher, dass sie schlecht sind?«

Jäh spüre ich Ärger in mir hochkochen.

»Natürlich sind sie schlecht. Die Traumgänger der Union wollten mich damit umbringen. So viele Menschen sind schon darin gestorben!«

Ich sage nichts von meinem Vater, doch vor meinem inneren Auge sehe ich ihn langsam in den Strahlen verschwinden. Habe ich es so oder so ähnlich wirklich erlebt?

Mo macht eine abwehrende Handbewegung.

»Ich frage ja nur. Es muss schließlich einen Grund geben, warum es sie gibt.«

»Ja. Aber das muss ja kein guter Grund sein«, gebe ich patzig zurück.

Eine Passantin bleibt an den Schallplatten stehen, und Mo erhebt sich, um ihr in den Laden zu folgen.

Tief atme ich den Duft des Kaffees ein, doch er bringt keine Klarheit. Ich habe ja auch keine Ahnung, woher die Tore kommen. Aber mein Vater wollte, dass ich sie zusammen mit Eric zerstöre. Das jedenfalls behauptet Eric. Und meine Mutter sagt, dass mein Vater wollte, dass ich zu Eric gehe und ihm helfe. Schulde ich es ihm nicht, diesem Auftrag nachzukommen? Zugleich nagt der Zweifel an mir: Wird Eric sein Wort halten und Somna im Anschluss gemeinsam mit mir wiederaufbauen? Ist es das Risiko wert? Und was ist, wenn die Traumunion mich jetzt wirklich jagt, so wie Eric behauptet? Sollte ich mich dann nicht lieber bedeckt halten? Doch gleichzeitig scheine ich einer der wenigen Traumgänger zu sein, die die Tore überhaupt zerstören können – sofern ich Eric Glauben schenke. Muss ich diese Fähigkeit nicht nutzen?

Gerade, als meine Gedanken anfangen, sich immer schneller im Kreis zu drehen, kommen Mo und die Frau wieder aus dem Laden. Sie verabschieden sich, und Mo lässt sich auf den Klappstuhl neben mir fallen.

»Hat Eric dir schon mal was von den Morphismen erzählt?«, frage ich, weil ich die Frage nicht zurückhalten kann.

Sie runzelt die Stirn.

»Von den Morphismen?«

Ich nicke. Mo kaut auf der Unterlippe.

»Nee. Was ist das?«

»Ach. Nur was, das Eric erwähnt hat.«

Mos Biss auf ihrer Unterlippe wird fester.

»Da habe ich noch nie von gehört. Hat Eric nie erwähnt … mir gegenüber jedenfalls.«

Da schwingt etwas in ihrer Stimme und der Art, wie sie jetzt den Blick abwendet, mit, und wieder frage ich mich, was für ein Verhältnis Mo und Eric eigentlich haben.

»War auch nichts Wichtiges«, sage ich schnell.

»Egal was du tust, Selena«, sagt Mo schließlich leise und zögert. »Bitte mach Somna nicht kaputt. Die Menschen brauchen die Traumwelt. Ich brauche die Traumwelt. Wenn Eric Somna zerstört, dann müssen wir ihn aufhalten.«

Sie sieht mich an, lange, fast flehend. Ich schlucke.

»Sel.« Die Silbe klingt in ihrem Mund wie etwas Schweres, Bedeutsames. »Bitte. Lass die Tore stehen. Ich weiß, dass Eric eine Macht hat, die er eigentlich nicht haben dürfte. Und du hast sie, glaube ich, auch. Aber nutze sie nicht dafür . Zumindest nicht, solange du nicht weißt, was genau du tust. Du bringst dich und die ganze Welt in Gefahr.«

Ich will widersprechen, will ihr sagen, dass sie keine Ahnung hat. Dass ich einen Weg finden werde, die Tore zu zerstören und Somna wiederaufzubauen. Dass ich verhindern muss, dass Menschen wie mein Vater weiterhin sterben oder Menschen wie ich und diese Ria von Traumgängern hinter die Tore gestoßen werden. Dass ich die Aufgabe erfüllen muss, die mein Vater mir hinterlassen hat.

Aber in meinem Kopf hängen die Schlagzeilen der letzten Tage – die Nachrichten über all die Verkehrstoten und Unfälle. Mos trauriger Blick. Und das Wissen, dass sie recht haben könnte … Ich stehe auf. Plötzlich kann ich ihre Nähe nicht mehr aushalten.

Behutsam stelle ich meine Tasse neben Mo ab, als wäre es eine wichtige Geste. Vielleicht ist es das auch.

»Ich denke darüber nach. Danke für den Kaffee.«

Meine Kehle schnürt sich zu, und ich wende mich ab. Ich werde zurück nach Manhattan laufen. Auch wenn ich dafür vermutlich Stunden brauchen werde.