»D as ist alles nicht gut.« Kopfschüttelnd betritt Denise das Zimmer, in dem ich seit ein paar Minuten auf und ab tigere. »Was habt ihr getan, Selena?«
Ich öffne den Mund, aber nach allem, was gerade passiert ist, weiß ich nicht, was ich sagen soll.
»Ich habe alle Probanden nach Hause schicken müssen. Nachdem Eric eben wieder in Somna eingestiegen ist, ist auch noch der letzte aufgewacht. Mal sehen, ob die Daten jetzt überhaupt reichen … Na ja, aber was blieb mir anderes übrig? Und der einen auszureden, dass sie euch hat«, Denise hebt die Hände und malt Gänsefüßchen in die Luft, »›erscheinen‹ sehen, war auch nicht so leicht. Das kannst du mir glauben.«
Endlich finde ich meine Stimme wieder. »Sorry, Denise«, pampe ich sie an. »Aber ich habe gerade echt andere Probleme.« Und keine Lösungen …
Ich wende mich ab und trete an das Fenster, das die Sicht auf New York freigibt. Auch wenn es sich nicht öffnen lässt, habe ich hier das Gefühl, freier atmen zu können. Hinter mir lässt sich Denise in den Bürostuhl fallen.
»Ich weiß«, sagt sie. »Schon seit Wochen rede ich auf ihn ein. Er soll die Finger von den Toren lassen. Aber auf mich hört er ja nicht.«
Langsam drehe ich mich um. »Was? Du … du weißt von den Toren?«
Ihr Blick ist scharf. »Du hast ihm geholfen, oder?«
Ich versteife mich.
»Ist eigentlich auch egal.« Sie macht eine wegwerfende Handbewegung. »Aber gut ist das auf keinen Fall.« Damit überschlägt sie die Beine und verfällt in Schweigen. Einer ihrer Löwenkopfhausschuhe wippt auf und ab.
Ich trete auf sie zu.
»Denise. Was weißt du über die Tore?« Meine Stimme bebt.
Sie sieht mich aus ihren braunen Augen abschätzend an. »Vermutlich ein wenig mehr als du.«
»Aber … Aber du bist keine Traumgängerin.«
»Nein. Aber eine Traumforscherin . Und eine ziemlich gute, würde ich meinen.«
Ich hole tief Luft.
»Denise. Bitte. Was weißt du über die Tore?«
Ihr Blick bleibt starr auf mich gerichtet.
»Ihr habt sie zerstört, nicht wahr?«
Kurz fehlen mir die Worte. Dann gebe ich mich geschlagen. Es hat keinen Zweck Denise irgendetwas zu verheimlichen. »Ja. Also nicht alle. Aber viele. Immerhin sind sie der Tod –«
»Der Tod?«
Ich bin überrascht, einen ernsthaft verwirrten Ausdruck auf ihrem Gesicht zu sehen.
»Ähm. Ja. Darum geht es doch bei den Toren«, murmele ich.
Denise sagt nichts dazu. Der Löwenkopf an ihrem Fuß wippt weiter auf und ab, jetzt noch schneller als zuvor.
Ich stehe da und spüre die Sekunden verstreichen. Sekunden, in denen wir untätig hier in Erics Büro stehen, während Somna vermutlich gerade im Chaos versinkt und Mo verschwunden ist. Wenn ich noch einen Moment länger diesem buschigen, braunen Stoffkopf zusehe, fange ich an zu schreien.
»Denise. Mo ist weg. Hast du eine Ahnung, wo sie hingegangen sein könnte?« Einen Versuch ist es wert …
Denise sieht kurz auf, runzelt die Stirn und sagt dann: »Tut es nicht.«
»Hä?«, ist das Einzige, was mir dazu einfällt.
Sie schüttelt den Kopf. »Es geht bei den Toren nicht um den Tod. Nicht für Eric. Oder zumindest nicht nur.«
Ich starre sie an.
»Wie meinst du das?«, frage ich langsam.
»Vor ein paar Wochen habe ich eine interessante Messung gemacht.« Sie wedelt mit der Hand. »Ich mache Forschung für Eric. Sehr interessant. Wir messen die Energien und …« Sie zieht ihr Smartphone aus der Tasche, tippt darauf herum und hält mir dann eine Tabelle mit Zahlenreihen hin.
»Hier habe ich zum Beispiel die letzten Messungen festgehalten. Da ist das Datum, und da sind die Daten zu Beginn der Messung und …«
»Denise. Worauf willst du hinaus?«, frage ich ungeduldig.
Einen Moment sieht sie mich verärgert an, dann sammelt sie sich. »Ich war häufiger mit Eric als Klarträumerin in Somna unterwegs. Dabei haben wir uns auch die Tore genauer angeschaut. Und wir haben festgestellt, dass sich jedes Mal, wenn jemand eine Traumwandlung erzeugt, die Spannung an den Toren verändert. Das wäre jetzt zu kompliziert zu erklären«, sagt sie, als sie mein Gesicht sieht, und wedelt schon wieder ungeduldig mit der Hand. »Aber wenn meine Hypothese stimmt, dann speist sich die Gabe der Traumgänger aus den Toren. Nur bei Eric und dir ist das anders. Zumindest soweit ich das messen konnte. So ganz dahintergekommen bin ich noch nicht. Ihr scheint irgendwie besonders zu sein …«
Ihre Worte lassen mich erschaudern, als ich an das Buch denken muss, das in eben diesem Raum steht, und an die Zeichnung darin. Die Morphismen. Hat das fehlende Kapitel doch mehr zu bedeuten, als Eric es mir bisher weismachen wollte?
Auch Denise hat sich offenbar in Gedanken verloren, doch nun fängt sie sich: »Na ja, um es auf den Punkt zu bringen: Wenn ihr die Tore weiterhin zerstört, könnte es sein, dass ihr den Traumgängern gewissermaßen den Stecker zieht.«
Mein Atem stockt.
»Also das ist jetzt ziemlich verkürzt dargestellt. Wenn du es genau wissen willst, ist es so, dass …«
»Denise«, fahre ich dazwischen, als sie gerade die Hände hebt, um mir etwas zu veranschaulichen. »Willst du mir damit sagen, dass Eric die Tore nur deshalb zerstört, um die Traumgänger abzuschaffen?«
Sie lässt ihre Hände auf den Schoß fallen und sieht mich gequält an. »Das ist meine Hypothese, ja.«
Ich beginne, auf und ab zu laufen. Meine Beine kribbeln. Ich muss daran denken, was Eric gerade zu mir gesagt hat: Es geht mir darum, dass sie für das bezahlen, was sie getan haben. Kann das hier seine Rache sein?
»Aber … Die Tore sind der Tod. Eric hat mir gesagt, dass sie der Tod seien. Deswegen habe ich ihm geholfen, sie zu zerstören. Mein Vater …« Meine Stimme wird leiser, bricht ab.
Denise legt den Kopf schief.
»Ja, vielleicht sind sie der Tod. Um das zu überprüfen, müsste man ein paar Messungen hinter den Toren machen. Da bin ich dran, aber sagen wir so: Ganz risikofrei ist das wohl nicht.« Wieder zuckt sie mit den Schultern. »Sie sind auf jeden Fall der Ort, an den viele sterbende Menschen gehen. Aber ob sie der Tod sind? Ich würde denken, dass man sterben kann, ohne in den Tod zu gehen, oder? Was meinst du?«
Ich starre sie nur an. Dann tigere ich wieder auf und ab, diesmal schneller als zuvor. Dieses Zimmer ist zu eng. Die Räucherstäbchen brennen sich in meine Lunge hinein.
»Es ist nur eine Hypothese!«, ruft Denise, als hätte sie Angst, dass ich sie nicht hören könnte. Ich wirble zu ihr herum, und sie fügt kleinlaut hinzu: »Aber oft stimmen meine Hypothesen. Und als ich gerade von den Träumern gehört habe, was in Somna passiert ist … und dann auch noch Eric verschwunden ist. Da habe ich mir gedacht, ich sollte es dir sagen.« Sie macht ein bedrücktes Gesicht. »Ich glaube, es war ein Fehler, Eric von meinen Vermutungen zu erzählen. Seitdem hört er mir gar nicht mehr richtig zu. Er ist irgendwie … komisch.«
So einen Satz ausgerechnet aus Denises Mund zu hören, wäre ironisch, wenn das, was sie mir gerade anvertraut hat, nicht so unfassbar wäre. Ich merke, wie meine Beine zittern und lasse mich auf eines von Erics Meditationskissen sinken.
Ich sitze einfach nur da und kann mich nicht rühren, während Eric in Somna ist und womöglich seinen Plan zu Ende bringt. Was würde das bedeuten? Was würde passieren, wenn niemand mehr Traumwandlungen erzeugen kann? Und wieso sind Eric und ich die Ausnahme? Hat das etwas mit dieser ganzen Traumgötter-Geschichte zu tun? Mein Kopf pocht, und ich verfluche mich dafür, wie dumm ich war. Wie konnte ich nur zustimmen, die Tore zu zerstören?
»Ich verstehe das nicht«, sage ich nach einer Weile. »Hasst Eric die Traumunion wirklich so sehr, dass er alle Traumgänger abschaffen würde?«
»Das wäre eine …«
»… Hypothese. Schon klar«, komme ich Denise zuvor.
Abermals sitzen wir schweigend da. Die Sekunden verstreichen.
»Das ergibt doch alles keinen Sinn«, murmele ich.
»Doch.« Wieder zieht Denise ihr Handy hervor. »Wenn du dir die Messungen anschaust …«
Mein Blick bringt sie zum Verstummen.
In dem Gewirr meiner Gedanken drängt sich einer immer und immer wieder in den Vordergrund: »Wir müssen ihn aufhalten.«
Ich springe auf und mache ein paar ziellose Schritte.
Langsam nickt Denise. »Vermutlich.«
»Sind unten noch Träumer, über die ich nach Somna einsteigen kann?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Nein, das habe ich doch gesagt. Der letzte ist, direkt nachdem Eric verschwunden ist, aufgewacht. Ich musste sie alle nach Hause schicken.«
Ich fluche.
»Aber du könntest mal Mo fragen«, fährt Denise fort. »Die weiß, wo man sonst noch gut einsteigen kann.«
Eine Welle der Frustration und Sorge überflutet mich. »Mo ist weg. Sie hat gepackt. Vermutlich sitzt sie inzwischen in einem Flugzeug nach Japan oder sonst wohin.«
»Das glaube ich nicht«, erwidert Denise.
Ich funkele sie an.
»Ach, wirklich? Leider ist es aber eine erwiesene Tatsache . Ich habe es selbst überprüft: Mo ist weg.«
Denise schüttelt abermals den Kopf. »Das mag sein, aber ich glaube nicht, dass sie auf dem Weg nach Japan ist. Sie haut immer mal wieder ein paar Tage ab und verkriecht sich dann bei Eddy.«
»Bei Eddy?«, frage ich verständnislos.
»Ja. Ihm gehört der Laden, in dem sie arbeitet.«
»Du meinst, Mo ist noch in New York?«
Denise zuckt mit den Schultern. »Es erscheint mir zumindest am wahrscheinlichsten. Wenn man die vergangenen Erfahrungspunkte als Indikator be…«
Ich denke nicht nach. Ich sprinte los. Auf den Flur hinaus und Richtung Aufzug. Dort angekommen, hämmere ich gegen den Knopf, doch es dauert ewig, bis die Kabine da ist.
Hinter mir höre ich, wie Denise den Gang entlangschlurft. »Selena!«
Endlich gleiten die Türen auf, und ich stürze in die Kabine. Im Spiegel erkenne ich Denise, die nun zum Stehen kommt und auf ihrer Wange herumkaut. Es scheint, als ob sie etwas sagen will.
Kurz bevor die Türen zugleiten, bringt sie nur hervor: »Viel Glück.«
Dann ist sie aus meinem Sichtfeld verschwunden, und ich rausche hinab in die Tiefe.
»Mo?«, rufe ich. »Mo? Bist du da?«
Ich stehe vor dem Laden mit dem großen Schriftzug Radical Records . Irgendwie habe ich es geschafft, in Manhattan ein Taxi zu finden, das mich in halsbrecherischer Geschwindigkeit nach Brooklyn gefahren hat.
Und seit ein paar Minuten hämmere ich nun gegen das Glas der Eingangstür. Der Verkaufsraum liegt im Dunkeln, doch das Sicherheitsgitter ist hochgeschoben. Es muss also jemand da sein.
In der Spiegelung des Glases sehe ich, wie hinter mir Menschen über den Gehweg laufen, Bagels essen und lachen. Sie haben keine Ahnung, was gerade in Somna auf dem Spiel steht.
»Mo!«
Ich trete zurück und betrachte das Haus. Über dem Laden gibt es ein weiteres Stockwerk. Was, wenn Eddy ganz woanders wohnt und ich komplett umsonst nach Brooklyn gefahren bin? Was, wenn Denise sich geirrt hat und Mo gar nicht hier ist?
Gerade hole ich Luft, um noch einmal nach Mo zu rufen, als sich im Ladeninneren etwas bewegt. Ich stürze zur Tür. Und tatsächlich: An dem Durchgang hinter der Theke entdecke ich sie. Mo. Sie hält inne, schaut mich nur an.
»Mo!«, rufe ich erneut, und meine Stimme bricht.
Sie kommt auf mich zu, bleibt jedoch vor der Glasscheibe stehen. Ich sehe ihr in die Augen. In ihre dunklen Augen, hinter denen so viel passiert. Es wirkt, als hätte sie geweint.
»Du hattest recht«, sage ich. »Es tut mir leid.«
Sie hat mich verstanden, auch durch das Glas. Das weiß ich.
Jetzt zieht sie einen Schlüsselbund aus der Hosentasche und beginnt die Tür aufzuschließen. Es dauert lange. Viel zu lange, bis die drei Schlösser geöffnet sind.
Dann, endlich, schwingt die Tür auf.
»Mo!« Ich möchte ihr entgegenstürzen, aber im selben Moment halte ich inne. Es scheint, als könne ihr jede unbedachte Berührung weh tun. Sanft umarme ich sie – ob als Begrüßung oder Entschuldigung weiß ich selbst nicht. Ihr Duft steigt mir in die Nase, und ihre Haare fallen mir ins Gesicht. Ich muss daran denken, wie sie mich auf die Wange geküsst hat, als wir uns das letzte Mal gesehen haben.
»Geht es dir gut?«, frage ich in ihre Halsbeuge hinein.
Sie schiebt mich von sich.
»Ja. Alles okay.« Ihr Blick gleitet über mein Gesicht. »Warum bist du nicht mit Eric in Somna?«
Ich zögere. Wie um alles in der Welt soll ich ihr erklären, was gerade passiert ist? Was in Somna los ist? Dass Denise vermutet, dass Eric mit den Toren die Gabe der Traumgänger auslöschen möchte? Schließlich betrifft das auch Mos Gabe …
»Ich habe mir Sorgen um dich gemacht«, sage ich schließlich. »Du warst einfach weg. Ich dachte, wir würden heute noch mal reden, aber du bist einfach abgehauen.«
Es klingt wie eine Anschuldigung, und ich bereue es sofort. Ich will ihr keine Vorwürfe machen. Im Gegenteil. Doch zu spät.
»Sorry, dass ich mich nicht nach deinem Zeitplan gerichtet habe.«
Sie dreht sich um und geht in Richtung Theke. Mir fällt auf, dass sie noch immer leicht humpelt. Ich lasse die Tür hinter mir zufallen, und eine Glocke klingelt in die Stille hinein.
»Tut mir leid, Mo. So habe ich das nicht gemeint. Ich habe mir nur wirklich Sorgen um dich gemacht. Und als ich dann zu Eric bin und ihm gesagt habe, dass du weg bist …«
Ich breche ab.
»Lass mich raten – es hat ihn nicht die Bohne interessiert.«
»Nein. Ich meine ja. Also …« Scheiße. Was soll ich ihr nur sagen? Ich hole tief Luft. »Mo. Du hattest recht, was Eric angeht. Ich hätte ihm nicht helfen dürfen.«
Jetzt wendet sie sich wieder mir zu, und eine patzige Erwiderung scheint auf ihren Lippen zu liegen. Doch sie hält sie zurück. Stattdessen lässt sie sich auf ein schäbiges Sofa fallen, das neben der Theke steht.
Zögernd setze ich mich neben sie und knibbele an meiner Hosentasche herum. »Eric hat mich manipuliert, aber das ist jetzt vorbei.«
»Ist es das?«
»Ja.« Ich setze mich so, dass ich sie direkt ansehen kann, doch sie starrt nur auf eine der Kisten mit den Schallplatten, die überall im Raum verteilt sind. »Hör zu. Es war falsch, die Tore zu zerstören, das weiß ich jetzt. Ich dachte, es wäre der Wunsch meines Vaters … Fast mein ganzes Leben lang wusste ich nichts über ihn. Doch dann war da Eric, und er schien ihn so gut zu kennen … Und da …«
Wieder breche ich ab. Es klingt nach einer schlechten Ausrede. Und vermutlich ist es das auch. Ich habe ja selbst keine Ahnung, warum ich Dutzende der Tore zerstört habe. Es hat sich einfach gut angefühlt. So, als könnte ich damit den Tod meines Vaters rächen.
Zu meiner Überraschung sieht Mo mich plötzlich an. »Das kann ich verstehen«, sagt sie leise. »Ich wüsste auch gerne mehr über meine Eltern.«
Ich schlucke.
»Das, was Eric da über deine Eltern gesagt hat … Dass sie noch leben.« Ich zögere. »Hast du je etwas geahnt?«
Mo schüttelt den Kopf.
»Willst du …« Ich räuspere mich. »Willst du mir von ihnen erzählen? Wie alt warst du, als du zu Eric gekommen bist?«
Eine Stimme in mir drängt, dass wir uns beeilen müssen. Dass in diesem Augenblick ganz Somna und damit womöglich bald auch Corpora im Chaos versinkt. Aber ich weiß, dass das hier jetzt wichtiger ist. Mo braucht diese Zeit. Und ich will sie ihr geben.
Ich beobachte, wie sie schluckt – offenbar hin und her gerissen, was sie mir sagen will.
»Eigentlich weiß ich gar nichts mehr von ihnen«, beginnt sie schließlich mit dünner Stimme. »Manchmal denke ich, mich an das Gesicht einer Frau zu erinnern. Vielleicht war das meine Mutter … Sie kann aber auch jemand ganz anderes gewesen sein. Ich war fünf damals. Da müsste ich mich doch an etwas erinnern, oder? Mit fünf ist man doch schon alt genug, um nicht einfach alles zu vergessen …«
Sie sieht mich an, und ich spüre, wie sehr diese Frage sie quält. Als würde sie sich schuldig fühlen. Etwas schnürt mir die Kehle zu. Ich lege die Hand auf ihr Bein. »Manchmal verdrängen wir Dinge, die uns zu sehr belasten«, sage ich leise. »Vielleicht schützt uns unser Körper so vor etwas, das zu sehr schmerzt.«
Mo nickt langsam. Ich folge ihrem Blick durch den Laden auf die Straße hinaus. Staubflusen tanzen im Licht der Fensterfront und gleiten lautlos auf die Reihen der Schallplatten hinab.
»Ich erinnere mich auch kaum noch an meinen Vater. Bevor ich letzte Woche das Foto von ihm gefunden habe, wusste ich noch nicht mal mehr richtig, wie er aussah«, murmele ich.
»Ich wünschte einfach, ich wüsste etwas über meine Eltern.« Sie atmet tief ein und aus. »Irgendetwas.«
»Wir finden sie«, platzt es aus mir heraus. »Wenn sie wirklich noch leben, finden wir sie. Versprochen. Sobald das hier alles vorbei ist, machen wir uns auf die Suche.«
Sie dreht ihren Kopf zu mir. Auf ihrem Gesicht spiegeln sich unterschiedliche Emotionen. Am Ende siegt Irritation.
»Was meinst du damit. Sobald das hier vorbei ist? Hast du nicht gerade gesagt, dass du jetzt keine Tore mehr zerstören willst?«
Ich beiße mir auf die Lippe. Okay. Jetzt ist der Moment gekommen, an dem ich ihr erzählen muss, was in den letzten Stunden passiert ist. Ich schlucke, hole tief Luft, und dann beginne ich.
Mo unterbricht mich nicht, aber zwischen ihren Augen entsteht eine immer tiefer werdende Falte, und ihre Wangen zucken, als würde sie mit dem Kiefer mahlen.
»Wenn Denises Vermutung stimmt, dann könnten alle Traumgänger ihre Fähigkeiten verlieren. Wer weiß, was dann mit Somna geschieht …«, ende ich und spreche dabei nicht aus, dass auch Mos Fähigkeiten auf dem Spiel stehen. Aber das muss ich auch nicht.
Ihr Blick springt zwischen meinen Augen hin und her, und sie öffnet mehrmals den Mund, bevor sie schließlich hervorbringt: »Er will die Traumgänger abschaffen?«
Ich nicke.
»Zumindest glaubt das Denise.«
Mo sieht im Raum umher, als würde sie nach passenden Worten suchen.
»Scheiße.«
Fast muss ich lachen. So sehr trifft das meine Einschätzung der Lage. Und irgendetwas daran, dass Mo offenbar nicht mehr darüber nachdenkt, wie sauer sie auf mich ist, gibt mir die nötige Energie. Ich springe auf.
»Wir müssen nach Somna und Eric aufhalten.«
Einen Moment zögert Mo, und ich spüre förmlich, wie die Gedanken in ihrem Kopf rasen. Dann hat sie sich entschieden.
»Ja. Das müssen wir.«
Sie lässt sich von mir hochziehen und humpelt auf den löchrigen Vorhang zu, der in den hinteren Teil des Ladens führt.
»Wir können über Eddy einsteigen. Der hat damit kein Problem. Er hat sich schon vor einer Weile aufs Ohr gelegt, vielleicht haben wir Glück.« Damit zieht sie den Vorhang auf, und ich erkenne eine Treppe. Vermutlich wohnt Eddy doch über dem Geschäft.
Schnell greife ich nach Mos Hand. Sie dreht sich zu mir um.
Ein seltsames Gefühl hat sich in meinem Inneren breitgemacht und lässt mich zögern.
»Geht es dir gut?«, frage ich.
Sie blinzelt.
»Ich meine … Sind wir okay? Das hier könnte gefährlich werden, Mo. Du musst nicht mit mir kommen. Es ist schließlich alles meine Schuld.«
Sie schiebt den Unterkiefer vor, und ich erkenne, dass da noch immer Schmerz ist in ihrem Blick. So viel Ungesagtes hängt zwischen uns, für das nun keine Zeit ist.
»Ich helfe dir, es wiedergutzumachen«, sagt sie. Dann zieht sie ihre Hand aus meiner, und mir bleibt nichts anderes übrig, als ihr durch den Vorhang und in Richtung Somna zu folgen.