E s fühlt sich an, als könne man noch immer die Worte des fremden Mannes durch die Luft hallen hören. Dabei ist da nur der Wind, und dann – langsam – dringen Schreie aus der Menge empor.
Mein Blick rast über die Plattform und sucht die Leiter der Traumunion.
Noch bevor ich Joseph Hoggs entdecke, höre ich ihn. »Code Orange!«, brüllt er in seine Smartwatch.
Einen Moment scheint es, als würden die Traumkommissare um mich herum kollektiv die Luft anhalten – dann kommt Bewegung in sie. Viele von ihnen sprinten zum Rand der Plattform und fliegen davon. Giacomo Laurenti winkt den Kameramann herbei und beginnt hektisch auf ihn einzureden, während er immer wieder auf die schwarzen Bildschirme zeigt. Ich stürze zurück zur Brüstung.
Auf dem Tempelhofer Feld und in den umliegenden Häuserschluchten ist Chaos ausgebrochen. Es erinnert mich an einen Ameisenhaufen, in den hineingestochen wurde, und etwas Enges legt sich um meine Kehle.
Die Menschen haben Angst. Kein Wunder. Die Worte des fremden Traumgängers haben auch bei mir eine Gänsehaut hinterlassen, gegen die selbst Giacomos beruhigende Stimme, die von den nun wieder eingeschalteten Bildschirmen widerhallt, nichts ausrichten kann.
Ich spüre, wie jemand meinen Arm umfasst. Es ist Chester. Auch Paul und Eugenio heften sich an meine Seite. Ich versuche mich aus Chesters Griff zu befreien, habe aber keine Chance.
»Da!« Mein Blick folgt Eugenios ausgestreckter Hand.
Bereits zuvor gab es einzelne Menschen, die über der Menge schwebten, herumflogen und sogar in die Nähe unserer Plattform kamen. Aber ich weiß genau, worauf Eugenio uns aufmerksam machen will: Auf der gegenüberliegenden Seite des Feldes hat sich eine Traube von Menschen in die Luft erhoben. Sie umkreisen etwas, das mich an eine große Perle erinnert. Ich versuche mehr zu erkennen, aber es ist schlicht zu weit weg.
Zu meiner Linken ertönt ein Knall. Ich wirbele herum und sehe, dass einer der riesigen Bildschirme über den Köpfen der Menge explodiert ist. Die Schreie, die zu uns empordringen, werden lauter.
Plötzlich habe ich den Impuls loszufliegen. Irgendetwas zu tun. Nur nicht tatenlos auf dieser Plattform rumzustehen. Da stößt mein Fuß gegen etwas, und erstaunt stelle ich fest, dass ich ein Fluggerät erschaffen habe.
Doch bevor ich danach greifen kann, schließt sich eine weitere Hand um meinen anderen Arm. Jetzt hält mich nicht nur Chester, sondern auch Paul fest. »Wir bleiben hier. Das sind unsere Anweisungen«, sagt er mit Nachdruck.
»Aber das da …« Ich sehe in Richtung der fliegenden Menschentraube und stocke, als unzählige Traumkommissare mit gezückten Debixpistolen auf sie zurasen. Für einen winzigen Moment stiebt die Menge auseinander, und jetzt kann ich eine Gestalt in der Perle ausmachen.
Ist das der Mann, der gerade von den Screens zu uns gesprochen hat? Dessen Stimme so brüchig und gleichzeitig so entschlossen geklungen hat? Was hat er gesagt? Das hier wird euer Ende sein. Wen hat er damit gemeint? Uns alle?
Da formiert sich die Menge erneut. Es scheint, als würden sie die Perle tragen. Immer weiter bewegen sie sich auf das strahlende Tor zu und kommen damit auch unserer Plattform näher.
Jetzt kann ich es ohne Zweifel erkennen: Das da in der glänzenden Kugel ist der illegale Traumgänger mit den blonden Haaren.
Die Traumkommissare scheinen ihre Taktik zu ändern. Sie stecken ihre Pistolen weg und lassen eine Mauer vor dem Mann erscheinen. Kurz ist er gezwungen anzuhalten, doch schon einen Wimpernschlag später ist die Mauer in tausend Stücke zerfallen. Die Brocken regnen auf das Feld hinab. Mir entfährt ein erstickter Laut, als die Menschen panisch versuchen auszuweichen. Einige verblassen, scheinen nach Corpora zurückzukehren. Andere, vermutlich geübte Klarträumer, erzeugen eigene Schutzschilde.
Aber da geht es schon weiter. Blitze, Feuerbälle, sogar ein Orkan prasseln auf die Perle ein, doch keine der Traumwandlungen scheint von langer Dauer zu sein. Und einer nach dem anderen ergreifen die Traumkommissare die Flucht, stieben in alle Richtungen. Nun ist nur noch eine Handvoll uniformierter Männer vor dem Tor zu erkennen, die sich der Menge entgegenstemmt. Sie werden immer weiter zu dem strahlenden Bogen getrieben.
Hitze durchfährt mich, als ich Yunus unter den verbliebenen Traumkommissaren entdecke.
Jetzt haben einige Menschen das Tor erreicht und verschwinden in dem Strahlen. Ich höre auf zu atmen. Was, wenn Yunus die Kräfte ausgehen und er von der herandrängenden Masse mitgerissen wird? Was passiert, wenn man durch das Tor geht? Irgendetwas sagt mir, dass es schrecklich ist. Egal, was Paul mir vorzumachen versucht hat.
Ich weiß nicht, wie ich es schaffe. Vielleicht liegt es daran, dass Paul und Chester so sehr von dem Geschehen abgelenkt sind. Oder es ist der unumstößliche Drang in mir, so schnell wie möglich an Yunus’ Seite zu kommen, der mir Kraft verleiht. Jedenfalls gelingt es mir, mich mit einem Ruck von ihnen loszureißen, das Fluggerät zu meinen Füßen zu packen und mich daraufzuschwingen.
Noch bevor sie reagieren können, bin ich in der Luft und rase in Richtung des Tors. Ich ignoriere ihre Rufe in meinem Rücken, sehe nur das Strahlen vor mir. Das schrecklich schöne Strahlen.
Fast kann ich nicht mehr abbremsen, als ich Yunus erreiche. Er hat es geschafft, die Träumer auf Abstand zu halten, doch ich kann in seinem Gesicht ablesen, dass er nicht mehr lange durchhält.
»Ria!« Sein Blick trifft meinen und wechselt von Schock über Erleichterung zu Sorge. Ich kann gerade noch nach seiner Hand greifen, ehe die Menge uns erreicht. Wir werden mitgerissen, Yunus’ Finger gleiten durch meine, und ich handele, ohne nachzudenken.
Entschlossenheit und das Verlangen nach mehr Platz durchströmen mich und lenken meine Traumwandlung. Eine Druckwelle geht von mir aus, die alle außer Yunus von mir fortstößt. Sie breitet sich rings um das Tor aus, schlägt eine Schneise zwischen uns und die anderen Menschen.
Jetzt stehen nur noch Yunus und ich vor dem leuchtenden Bogen. Alle anderen werden von einer Art durchsichtigen, glänzenden Kuppel abgehalten, die der Perle des Illegalen nicht unähnlich sieht.
Mein Körper pocht vor Anstrengung. Alles ist still. Nur mein hektischer Atem klingt mir in den Ohren, als ich mich Yunus zuwende und das Erstaunen in seinen Augen sehe.