PALÄSTINA UND SYRIEN, APRIL 1905

Lieber Nathaniel, schrieb Maude, heute habe ich einen überaus beeindruckenden Mann kennengelernt – er muss an die hundert Jahre alt gewesen sein, wenn nicht noch älter. Er zeigte mir voller Stolz die Ruinen einer Basilika aus dem fünften Jahrhundert, und hinterher fragte ich mich, wie lange er schon dort lebte und ob er sich noch an die Baumeister von damals erinnerte! Etwas abwegig, aber solche Ideen kommen einem leicht, wenn man so viel Zeit mit seinen eigenen Gedanken verbringt.

Sie hielt inne und rieb sich die eiskalten Finger, sie konnte kaum den Stift halten. Wie geht es dir? Wie ist Afrika? Maude hielt erneut inne und legte den Stift zur Seite. An ihren Vater konnte sie fünfzehn eng beschriebene Seiten verfassen, ihm von jedem kleinen Fortschritt berichten und was sie gelernt hatte. Frank und John schickte sie deutlich kürzere Nachrichten, um sie auf dem Laufenden zu halten und ihnen und ihren Frauen und diversen Kindern alles Gute zu wünschen. Wenn sie jedoch an Nathaniel schreiben wollte, schien sie nicht die richtigen Worte zu finden.

Der Wind hatte aufgefrischt, drückte die Zeltwände nach innen und blähte sie nach außen, als würde das Zelt atmen. Maudes kleiner Spiegel schwang an seinem Haken an der Mittelstange, reflektierte das Licht der Öllampe und trieb es in die Ecken. Ihr Mädchen für alles, Haroun, ein untersetzter, zurückhaltender Palästinenser, den sie in Jerusalem angeheuert hatte, richtete ihr Feldbett stets mit größter Sorgfalt her und klemmte die Decken so fest unter die Matratze, dass sie manchmal kaum hineinkriechen konnte. Heute Nacht hatte sie die Decke jedoch abgenommen und sie um sich gewickelt, um sich an den Klapptisch zu setzen und zu schreiben. Die Luft war eiskalt, ihre Zehen waren gefroren, ihre Ohren schmerzten, und ständig tropfte ihre Nase. Zumindest muss es dort warm sein. Hier hat es heute gehagelt, schrieb sie. Eine Stunde lang waren sie durch den Hagel geritten, der schmerzhaft auf ihre Gesichter und Hände eingedroschen hatte. Die Pferde hatten unglücklich die Ohren angelegt, bis sie, sehr zu Maudes Missfallen, klein beigegeben und Schutz unter ein paar dürren Eichen gesucht hatten, die diesen Zweck nur ungenügend erfüllten. Dadurch waren ihnen drei Stunden verloren gegangen, sodass sie weit vor der Stadt Mheen ihr Lager aufschlugen, wo sie gehofft hatten, ihren zur Neige gehenden Lebensmittelvorrat auffüllen zu können. Das Frühstück würde mager ausfallen, und die Pferde mussten sich mit dem begnügen, was sie über Nacht zum Grasen fanden. Maudes Haar war noch immer ein wenig feucht, und ihre Kopfhaut fühlte sich taub an.

Sie legte erneut den Stift zur Seite und hauchte in die hohlen Hände. Sie hatten ihr Zelt unter einer Felsnase aufgeschlagen, um die der Wind heulte, das vielleicht, wie Maude überlegte, das einsamste Geräusch auf der Welt war. Sie lauschte, bis sie sich einbildete, Stimmen darin auszumachen, und sich eine Million Meilen von allen entfernt fühlte, die sie kannte und liebte, eine Million Meilen entfernt von zu Hause. Nur für eine Sekunde wünschte sie sich, ihr Vater wäre hier. Sie wünschte, Nathaniel wäre hier – er würde noch stärker zittern als sie, weil ihm immer kalt war, und sie könnte ihn aufmuntern und ihn im Backgammon schlagen und wäre selbst ein wenig fröhlicher. Reisen ist nicht nur ein Vergnügen, nicht wahr?, schrieb sie. Jedenfalls nicht immer. Doch da das etwas pessimistisch klang, fügte sie hinzu:

Aber im Großen und Ganzen gibt es natürlich nichts, was ich lieber täte. Hat Vater dir wegen meines kleinen Buchs über die Ruinen des Sassanidischen Palastes geschrieben? Es hat seit seiner Veröffentlichung ein paar gute Kritiken erhalten, was mich freut, nach all der Mühe, die mich das Schreiben gekostet hat. Natürlich fällt mir im Nachhinein nur auf, wo es noch detaillierter, noch genauer hätte sein können, und vor allem besser formuliert, aber – immer nach vorne schauen, wie Vater sagen würde.

Sie erwähnte nicht, dass sie hoffte, die Kritiken würden die Verkaufszahlen in die Höhe treiben und zu Auslandsverkäufen führen. Wie es aussah, würde sie sehr bald ihrem Vater schreiben und ihn um mehr Geld bitten müssen. Nicht, dass das dem Vermögen der Vickerys groß schaden würde, es war ihr nur ein wenig unangenehm, dass sie die Kontrolle über ihr Budget verloren hatte. Maude wünschte, sie hätte einen Becher heißen Tee, an dem sie ihre Hände wärmen könnte, aber Haroun und die anderen Diener lagen bereits in ihren Betten, und sie wollte sie nicht wecken.

Sie dachte daran, wie Nathaniel bei ihrer letzten Begegnung ausgesehen hatte, vor neun Monaten auf der Beerdigung ihrer Mutter in Lyndhurst: niedergeschlagen, in einem geliehenen, etwas zu großen schwarzen Anzug – einer von Franks, der mit jedem Jahr ein bisschen rundlicher wurde. Nathaniel hatte zusammen mit ihrem Vater, ihren Brüdern, Antoinettes Bruder und einem Cousin, der eingesprungen war, um eine Lücke zu füllen, den Sarg getragen. Maude hatte zugesehen, wie er seine Aufgabe mit der gebotenen Würde und Ernsthaftigkeit ausführte, während sie sich fragte, ob sie wirklich um ihre Mutter trauerte. Antoinettes letztes Jahr war von wachsender Teilnahmslosigkeit geprägt gewesen. Im Juli hatte sie sich mit einer Erkältung ins Bett gelegt und sich seither nicht mehr erholt. Ihre Krankheit war rätselhaft gewesen – fünf verschiedene Ärzte stellten einer nach dem anderen ihre Diagnosen von Hysterie bis zu Wassersucht, von Anämie bis zu einem Tumor. Sie versuchten alles, um sie zu heilen – von Blutegeln und Fleischbrühe bis hin zu Zistrosen-Tinktur und dem Bad in vulkanischen Quellen, alles ohne Erfolg. Der dritte Arzt nahm Maude, kurz bevor man ihn entließ, zur Seite und sagte: Miss Vickery, ich fürchte, Ihre Mutter wird nicht gesund werden, wenn sie es nicht wirklich will. Als sie ihrem Vater davon erzählte, war er wütend gewesen. Dass er so sehr unter dem Verfall seiner Frau litt, konnte Maude am schwersten ertragen.

Im Stillen gab sie dem Arzt recht. Antoinette lag unter Spitzenwäsche und Daunendecke und schien geradezu in sich zusammenzufallen – mit jedem Tag tiefer in die Kissen zu sinken. Sie roch intensiv nach Rosenwasser, Riechsalz und abgestandenem Atem. Maude verbrachte Monate mit ihr zu Hause, las ihr vor, brachte ihr dieses und jenes und leistete ihr pflichtbewusst Gesellschaft, wie sie es immer getan hatte. Dabei litt sie derart darunter, dass sie ihr eigenes Leben und ihre Reisen zurückstellen musste, dass sie diesen Teil bewusst von sich abspaltete, um nicht verrückt zu werden. Zunächst las sie ihrer Mutter die Romane und Gedichte vor, die diese am liebsten mochte. Antoinette zeigte jedoch kaum Zeichen von Freude, sodass Maude schließlich zu Historien und Altphilologischem wechselte. Oft begann sie, laut vorzulesen, merkte jedoch nach einiger Zeit, dass sie nur noch für sich las, ohne dass sie zu sagen wusste, wann sie verstummt war. Doch wenn sie schuldbewusst aufsah, hatte ihre Mutter den Blick im Allgemeinen ins Leere gerichtet und schien es nicht bemerkt zu haben. Antoinettes Haut wurde durchscheinend und nahm die blasse, wässerige Beschaffenheit an, die ihre Augen von jeher gehabt hatten. Ihre Hände lagen schlaff auf der Bettdecke, die Nägel zartrosa, wie von der Strömung abgeschliffene Muscheln. Manchmal, wenn Maude den Mund öffnete, um zu fragen, ob ihre Mutter etwas brauchte, ob sie etwas für sie tun könne, wollten dieser die Worte einfach nicht über die Lippen kommen. So saßen sie einen Großteil der Zeit schweigend beieinander.

Es war Maude, die feststellte, dass Antoinette gestorben war, nachdem die Dienerin, die bei ihr Feuer gemacht und die Vorhänge geöffnet hatte, angenommen hatte, dass ihre Herrin noch schliefe. Als Maude sich auf den muffigen Geruch im Krankenzimmer vorbereitete und schließlich eintrat, merkte sie es sofort. Die Atmosphäre im Raum hatte sich kaum spürbar verändert – sie vermochte nicht zu sagen, ob sie es daran gemerkt hatte, dass Atem und Herzschlag ihrer Mutter fehlten, die sie zuvor unbewusst wahrgenommen hatte, oder daran, dass es deutlich zu still war. Sie wusste jedoch sofort, dass sie der einzige lebende Mensch in diesem Zimmer war. Maudes Gruß erstarb ihr auf den Lippen, und sie hielt einen Augenblick inne und ließ die Erkenntnis wirken. Sie war ganz ruhig und fühlte sich seltsam von ihren Gefühlen abgeschnitten. Schließlich trat sie auf die dunkle Seite des Bettes. Antoinettes Haar lag glatt auf dem Kopfkissen, ein paar aufgedrehte Locken bedeckten ihre Stirn. Die Augen waren geschlossen. Maude bemerkte zum ersten Mal, wie lang und schön die Wimpern ihrer Mutter waren, tiefgolden vor ihren violetten Lidern. Sie wartete eine Weile, um sich zu sammeln, bevor sie hinausging, um allen im Haus die Nachricht zu überbringen und ihrem Vater in London zu telegrafieren. Sie wartete, bis sich ordnungsgemäß das Gefühl der Trauer einstellte. Es beschämte sie, dass sie zugleich Erleichterung empfand.

Und als Maude ihrem Vater half, die Beerdigung zu planen, musste sie sich erneut darauf konzentrieren, ausschließlich die richtigen Gefühle zu empfinden. Sie musste die Freude und das Glück verdrängen, die sie verspürte, weil der Tod ihrer Mutter Nathaniel zurück nach England brachte. Frank und John trafen zuerst in Marsh House ein, begleitet von ihren Frauen und kleinen Kindern, die ihre Tante Maude vergötterten und auf ihr herumtollten, obwohl es ihr ein Rätsel war, was sie mit ihnen anstellen sollte. Sie liebte das Gefühl der kleinen klebrigen Patschhände, die Wärme ihrer Körper, wenn sie auf ihrem Schoß saßen, und dass sie stets nach Zucker und Matsch zu riechen schienen. Das Ticken der Uhr, unter dem sie in ihrer Kindheit gelitten hatte, verfolgte Maude noch immer, darum genoss sie das Schreien der Kinder, ihr Kreischen und Lachen, das die Stille in Marsh House zerschmetterte. Und dann traf Nathaniel ein, schmal und erschöpft, mit sonnengebräunter Haut und schmutzigen Fingernägeln. Maudes Herz schlug ihr bis zum Hals, sodass sie ihn kaum begrüßen konnte. Er missdeutete ihr Stammeln als Kummer und schloss sie fest in die Arme. Als er nur wenige Tage nach der Beerdigung wieder fuhr, packte auch Maude ihre Taschen. Sie litt zwar darunter, ihren Vater zu verlassen, obwohl er immer und immer wieder beteuerte, dass sie ihren Plänen folgen müsse. Maude konnte es jedoch schlichtweg nicht ertragen, von Nathaniel zurückgelassen zu werden. Nur das Reisen würde es ihr erträglich machen.

Maude schrieb den Brief nicht zu Ende und hoffte, am nächsten Tag Dinge zu erleben, mit denen sie die Seiten füllen konnte. Sie wusste ganz genau, dass es die Ungeheuerlichkeit ihrer Gefühle war, für die sie keine Worte fand und die sie am Schreiben hinderte. Die Laken und Decken lasteten schwer auf ihr, schienen sie jedoch nicht zu wärmen. Maude lag stundenlang wach, da sie vor Kälte nicht einschlafen konnte. Auf ihrer derzeitigen Reise hatte sie viele solcher Nächte verbracht, und sie wusste, wie sehr ihre Gedanken und ihre Stimmung am nächsten Tag darunter litten. Sie hatte sich angewöhnt, mit starkem Kaffee dagegen anzukämpfen und, wenn das Zittern zu stark wurde, schnellen Schrittes neben ihrem Pferd herzulaufen, bis die Wärme in ihren Blutkreislauf zurückkehrte. Wenn sie das tat, grämten sich Haroun und die anderen Bediensteten. Sie mochten es nicht, über ihr zu thronen, wollten aber auch nicht zu Fuß gehen.

An den meisten Orten, die sie im Orient bereiste, wurde sie mit einer Mischung aus höflichem Respekt und Irritation begrüßt – diese fremde Frau, so klein und so jung sie war, führte schon ein Gefolge an, das einem Würdenträger alle Ehre gemacht hätte. Einige Scheichs waren argwöhnisch, hießen sie nicht willkommen und hielten sie für eine verruchte Person. Oder gar für eine Spionin. Doch mit Schmeicheleien in fließendem Arabisch und Empfehlungsschreiben vom britischen Konsulat oder der jeweiligen Regierung gelang es ihr immer wieder, zu ihnen vorzudringen oder sie zu meiden. Mithilfe von ein paar Freunden ihres Vaters, wie Nathaniel ihr einst vorgeworfen hatte, wurde sie von Konsulat zu Außenposten zu Konsulat weitergereicht. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass Nathan nicht begriff, wie viel Geschick es erforderte, mit den Anführern vor Ort wie auch mit den Briten zu verhandeln: Sie waren alle entweder gegen ihre Reise eingestellt oder verstanden nicht, warum sie sie unternahm. Nachdem ihre Mutter tot war, bedrängte man sie nicht mehr zu heiraten, sodass sie immerhin darüber nicht mehr diskutieren musste.

Sie erreichten die Stadt am Mittag des nächsten Tages und gönnten sich eine Pause, während die Bediensteten die Suks nach Lebensmitteln durchforsteten und Maude mit dem Gouverneur zu Mittag aß – eine langwierige förmliche Angelegenheit, bei der die Zeremonie und der Austausch von Höflichkeiten noch schlimmer waren als das fettige Hammelfleisch und der fade Reis. Immerhin erhielt sie die Erlaubnis, zu den Ruinen im antiken Palmyra weiterzureisen – ihrem letzten Ziel, auch wenn einer der Männer des Gouverneurs sie dabei begleiten musste. Sie verabscheute Habibs Gegenwart, doch derlei Bedingungen waren häufig ein notwendiges Übel. Als es erneut zu regnen begann, hüllte er sich unglücklich in seine Decke und stieß einen steten Strom an Klagen und Beleidigungen aus. Vermutlich wusste er nicht, dass Maude ihn verstand. Zufrieden lächelte sie in sich hinein. Die Wochen auf der Straße hatten sie widerstandsfähig gemacht – sie fühlte die Kälte und den Schlafmangel, aber sie ließ sich nicht davon unterkriegen. In dieser Hinsicht half ihr der ungewollte Begleiter sogar – auf keinen Fall würde sie vor ihm eine Schwäche eingestehen.

»Ich glaube, der charmante Habib wünscht sich, er wäre zu Hause im Bett bei seiner Frau«, bemerkte sie Haroun gegenüber, der neben ihr herritt.

»Ich glaube, seine Frau ist froh, dass er bei uns ist«, erwiderte Haroun trocken, und Maude lachte.

Am Ende des Tages, als sie ihr Lager aufschlugen, wandte sie sich in liebreizendem Ton an Habib und sagte in fließendem Arabisch, sie hoffe, er habe den Ritt genossen. Sie amüsierte sich, als er zunächst höflich zu lügen versuchte und dann zunehmend verlegener wurde, da er begriff, dass sie mitbekommen hatte, wie er den ganzen Tag über vor sich hin geschimpft hatte. Sie ging in ihr Zelt, um die Tasse Tee zu trinken und die Kekse zu essen, die Haroun ihr gebracht hatte. Dabei genoss sie das befriedigende Gefühl, Habib gezeigt zu haben, dass er sie unterschätzt hatte.

Die Ruinenstadt lag auf einer langen flachen Anhöhe, an deren Hängen ein Teppich aus winzigen gelben und weißen Blumen wuchs. Sie schienen von der Wärme und dem Sonnenschein zu künden, die bald zurückkehren würden. Die Laune aller hob sich beträchtlich, sogar Habib rieb sich zufrieden die Hände, als hätten sie es allein ihm zu verdanken, dass sie sicher hierhergefunden hatten. Maude blieb vier Tage vor Ort und erstellte sorgfältige Pläne, Karten und Aufrisse der Ruinen und ihrer Lage. Ihr libanesischer Koch nutzte die zusätzliche Zeit, um in diesen Tagen köstliche, langsam gegarte Eintöpfe und Braten zuzubereiten.

Habib aß unmäßig viel und mehr, als ihm zustand, sodass Maude am Abend vor ihrer Abreise kurz ein Wort mit Haroun wechselte und sie zwei Stunden vor der vereinbarten Zeit heimlich zusammenpackten und in der Kälte vor dem Morgengrauen ohne Habib aufbrachen. Im Laufe des Vormittags holte er sie ein, sein Pferd schäumte vor Anstrengung, sein Gepäck war in Unordnung, und auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Wut und Panik.

Am Nachmittag zitterte Maude, allerdings nicht vor Kälte. Das Zittern schien von innen in ihr aufzusteigen; ihr Kopf schmerzte, und sie fühlte sich schwach. Sie ritt weiter, ohne ein Wort zu sagen, legte sich jedoch hin, kaum dass ihr Zelt aufgestellt war, und sank auf der Stelle in einen erschöpften Schlaf. Haroun kannte die Anzeichen – Maude hatte schon zuvor Fieber, Erkältungen und kurze, heftige Anfälle von Ruhr durchlitten. Sie ließen sie schlafen und ihren Zorn, sie nicht geweckt zu haben, über sich ergehen, als sie erst am nächsten Mittag erwachte. Sie ritt den ganzen Nachmittag hindurch, ohne dass Haroun sie davon abhalten konnte. Zusammengekauert saß sie auf ihrem Pferd und litt stumm vor sich hin, ohne die Landschaft um sich herum wahrzunehmen. Sie befand sich in einer Art Delirium und konnte keinen klaren Gedanken fassen, allein der unbändige Wille voranzukommen hielt sie im Sattel. Sie schlief den ganzen nächsten Tag und fühlte sich am darauffolgenden Morgen deutlich kräftiger. Als sie die Suppe löffelte, zitterten ihre Hände wieder, und Haroun blieb ängstlich in ihrer Nähe. Bald jedoch war sie wieder ganz genesen, und Haroun freute sich aufrichtig. Selbst Habib schien erleichtert zu sein – womöglich hätte er Schwierigkeiten bekommen, wenn sie in seiner Obhut gestorben wäre. So trafen sie etwas verspätet im britischen Konsulat in Damaskus ein, wo man ihren mageren Körper und ihre Blässe beklagte. Maude beteuerte, dass lediglich der Fieberanfall daran schuld sei, nicht die Strapazen der Reise, die ihr überhaupt nichts ausmachten, wie sie nachdrücklich betonte.

Der britische Konsul, der, wie es der Zufall wollte, tatsächlich ein Freund von Elias Vickery war, lud anlässlich der letzten Tage, die Maude in Syrien verbrachte, diverse Mitglieder der britischen Gesellschaft zu einem Abendessen ein. Vier Monate war Maude nicht in England gewesen, und sie sehnte sich danach, ihren Vater zu sehen und ihre Nichten und Neffen. Sie freute sich darauf, in einem Sessel am warmen Feuer zu sitzen, den Bauch voll gebratenem Lamm und Kartoffeln. Eine Weile würde sie den Frieden und die Zurückgezogenheit des Schreibens genießen – sie hatte mit ihrem Verleger bereits einen bescheidenen Vorschuss für das Buch ausgehandelt, das sie über diese Reise schreiben würde. Zu der Sehnsucht nach daheim gesellte sich bei ihrer Rückkehr normalerweise sogleich der Wunsch, erneut zu reisen. Manchmal dachte sie darüber nach, dass ihre Sehnsucht niemals nachließ. Dass sie nie befriedigt wurde, sondern lediglich ihren Fokus verlagerte, je nachdem, wo sie sich gerade befand und mit wem sie zusammen war. Als würde sie nie den wahren Ursprung ihrer Sehnsucht finden.

Am Abend des offiziellen Essens zog Maude das beste Kleid an, das sie bei sich hatte, legte sich die mehrreihige Perlenkette ihrer Mutter um den Hals und steckte sich mithilfe von einem der Dienstmädchen das Haar hoch – wenn es die Gelegenheit erlaubte, türmte sie es so hoch auf wie nur möglich, damit es sie ein kleines bisschen größer machte. Die zierlichen Schuhe mit den Absätzen, das enge Korsett und die Nadeln, die ihre Frisur hielten – all das fühlte sich nach der weiten praktischen Kleidung, die sie unterwegs getragen hatte, unangenehm eng an. Sie tat ihr Bestes, nicht zu zappeln, und war froh über ihre Seidenhandschuhe, die ihre abgebrochenen Fingernägel verbargen. Der Konsul, ein großer, schlanker Mann, dessen Schnurrbart an eine Stiefelbürste erinnerte, begleitete Maude strahlend in den Saal.

»Was ist geschehen, Sir Arthur?«, fragte sie. »Sie wirken so selbstzufrieden.« Sie stellte fest, dass sie sich Männern gegenüber einen speziellen Tonfall angewöhnt hatte. Er ließ sie um einiges selbstsicherer klingen, als sie sich zumeist fühlte, und enthielt einen ironischen Unterton, von dem sie hoffte, dass er nicht auf eine beginnende Bitterkeit hindeutete. Der Tonfall rührte daher, dass man sie als Frau – und als zierliches Wesen hinzu – ständig von oben herab behandelte. Ihr Ton veranlasste die Männer, auf Augenhöhe mit ihr zu sprechen, doch Sir Arthur Symondsbury schien ihn ärgerlicherweise nicht zu beachten und behandelte sie mit der milden Nachsichtigkeit eines freundlichen Patenonkels. Er tätschelte ihre Hand auf seinem Arm und strahlte nur noch mehr.

»Das ist nur einem kleinen Plan von mir geschuldet, der erfreulicherweise heute Abend aufgeht«, sagte er selbstgefällig.

»Und werden Sie ihn mir verraten?«, fragte Maude etwas ungeduldig, bis sie Nathaniel in einem makellosen Smoking am anderen Ende des Saals entdeckte, der an einer Champagnerschale nippte. Sir Arthur tätschelte erneut ihre Hand, dann löste er sie von seinem Arm.

»Na dann, meine Liebe«, sagte er. »Sie können mir später sagen, wie geschickt ich vorgegangen bin, dass es mir gelungen ist, Ihren lieben Stiefbruder heute Abend herzuschaffen.«

Maude starrte Nathaniel unwillkürlich an. Er war dünner, als sie ihn je zuvor gesehen hatte. Die Wangen wirkten eingefallen, und das Jackett hing ihm lose um die knochigen Schultern. Vor Freude und Verwirrung stieg ihr die Röte ins Gesicht, begleitet von der Angst und der Sorge um ihn, die sein Anblick in ihr auslösten.

»Grundgütiger, was um alles in der Welt ist denn mit dir passiert, Nathan? Du siehst ja furchtbar aus!«, sagte sie, während sie sich begrüßten, und erschrak, wie gekünstelt sie klang, so aufgeblasen, gar nicht so, wie sie sich fühlte. Er grinste sie schief an und beugte sich hinunter, um sie auf die Wange zu küssen.

»Liebe Maude, bei dir fühlt man sich immer gleich viel besser«, sagte er. »Ich hatte Malaria, ist das nicht ärgerlich? Man hat mir erklärt, dass sie für den Rest meines Lebens kommen und gehen wird – man kann nichts dagegen tun, man muss es einfach ertragen, heißt es. Die Anfälle werden mit der Zeit allerdings seltener.«

»Oh, Nathan! Wie leichtsinnig von dir! Hättest du dir nicht etwas Einfacheres einfangen können, so etwas wie Sumpffieber, das ich mir ständig einhandele?«, sagte Maude und plapperte weiter, um die Panik zu überspielen, die sie bei dem Gedanken ergriff, dass er erkrankte und womöglich sterben könnte.

»Was soll ich dazu sagen?«, sagte Nathaniel. »Du warst schon immer die Schlauere von uns beiden.«

»Das ist vielleicht ein Schock, dich hier zu sehen – aber ein schöner natürlich. Ich dachte, du seist in Afrika – ich habe dir gerade einen Brief dorthin geschickt. Jetzt erzähle ich dir alles, was drinsteht, und wenn du zurückkommst, hast du den langweiligsten Brief der Welt, obwohl es mich Stunden gekostet hat, ihn zu schreiben.«

»Ich werde ihn trotzdem gern lesen. Ich lese immer gern Briefe von dir.«

»Ach ja?« Sie blickte durch den Saal und schämte sich für ihre dumme Frage.

»Man hat darauf bestanden, mich zur Erholung diesmal an einen kühlen Ort zu schicken. Die haben mir England vorgeschlagen. Ich hatte gehofft, mich in die Wüste schleichen zu können, bevor ich zurückkehren muss, und natürlich, dich hier zu erwischen. Komm, nimm dir ein Glas und erzähl. Ich brenne darauf, alles bis ins kleinste Detail von dir zu erfahren.«

Maude berichtete ihm von allem, was sie gesehen, getan und gelernt hatte, und er hörte aufmerksam zu und erzählte ihr im Gegenzug von der Landschaft, die er in Afrika durchquert hatte, und von Zusammenstößen, die er beinahe mit sudanesischen Stammesangehörigen gehabt hätte. Seine Reisen wurden von der Regierung finanziert, man erhoffte sich davon Informationen über die Wasserquellen, die Fruchtbarkeit des Bodens, Getreideschädlinge und Pilze.

»Die sind wütend wegen der Heuschrecken. Sie wollen unbedingt wissen, woher die Schwärme kommen und wo sie brüten. Sie scheinen einfach aus dem Nichts aufzutauchen, weißt du? Das ist alles äußerst biblisch«, sagte er.

»Und es ist dir nicht gelungen, es herauszufinden?«

»Noch nicht. Man überlegt, mich woanders hinzuschicken, um weitere Nachforschungen anzustellen. Nach Arabien.« Nathaniel lächelte, und Maude sah ihn erstaunt an.

»Aber … da will ich als Nächstes hinreisen!« Es folgte ein Augenblick der Stille, ein Herzschlag, in dem die Bedeutung dieser Aussage erwogen wurde.

»Gemeinsam zu reisen wäre kompliziert, da ich eine offizielle Mission habe und über alles Bericht erstatten muss«, sagte er.

»Aber nicht unmöglich«, entgegnete Maude. Sie versuchte, ihre Stimme zu beherrschen, wobei sich ihre wachsende Aufregung als hinderlich erwies. Sie wollte aufspringen und die Arme um Nathan schlingen. Sie wollte ihn packen und ihm das Versprechen abringen, dass es wahr würde – dass sie zum ersten Mal seit Ägypten wieder zusammen reisen würden. Zum ersten Mal, seitdem sie denselben Felsen erklommen hatten, um in derselben andächtigen Stille den Sonnenaufgang zu betrachten. »Ich habe überlegt, im Westen zu beginnen, vielleicht in Jeddah, und dann entlang der Weihrauchroute weiter gen Süden zu reisen, um herauszufinden, ob ich auf dem Weg nach Marib irgendwelche Ruinen der Sabäer entdecke. Natürlich ist vorher noch eine Menge zu regeln. Ich muss mich bei dem einschmeicheln, der derzeit das Sagen dort hat, und vor Ort Diener und Führer anheuern – für meinen lieben Haroun ist es zu weit … Obwohl, vielleicht auch nicht. Er hat immer gesagt, er würde mir überallhin folgen, um mir zu dienen …«

»Nun, ich muss abwarten, wann und wohin man mich schickt«, entgegnete Nathaniel ein wenig steif. »Das ist ein bisschen anders, wenn man seinen Lebensunterhalt selbst verdienen muss.«

Maude hörte den Vorwurf und schwieg eine Weile. Vor Jahren hatte sie Nathaniel einmal angeboten, für seine Kosten aufzukommen, damit er mit ihr reisen konnte. Nach einer knappen schmallippigen Antwort, dass er nicht zu ihrem Personal gehöre und nicht länger auf die Unterstützung der Vickerys angewiesen sei, hütete sie sich davor, ihm dieses Angebot ein zweites Mal zu unterbreiten. Sie wusste, dass sie seinen Lebensunterhalt bestreiten könnte, ohne Groll, ohne Ansprüche an ihn zu stellen oder sich ihm überlegen zu fühlen – schließlich hatte sie selbst nichts getan, womit sie das Geld verdiente –, doch anscheinend war das Nathaniel nicht möglich, und somit war das Thema erledigt. Er trank einen großen Schluck Champagner, lächelte und stupste sie mit dem Ellenbogen an. »Schau nicht so mürrisch, Mo. Du wirst dorthin kommen und ich irgendwann auch«, sagte er.

»Ja. Aber lass uns versuchen, gemeinsam zu reisen, ja? Denk einfach daran. Informiere mich über deine Pläne, wenn du mehr weißt.«

»Ich dachte, du würdest lieber allein reisen? Du wärst ein einsamer Pionier, der nicht gern mit jemandem zusammen reist, noch nicht einmal mit deinem geliebten Vater?«

»Ich will ja auch nicht mit irgendjemandem reisen.« Die Worte waren ihr einfach so herausgerutscht, und sie errötete wieder. Nathaniel lächelte.

»Liebe Maude, wir verstehen uns gut. Es wird nur nicht ganz unkompliziert werden.« Er richtete den Blick einen Augenblick in die Ferne. »Wie geht es dir? Ich meine, seit dem Verlust von Antoinette?«

»Ach … ganz gut. Den Umständen entsprechend«, sagte sie. Die Frage war ihr unangenehm.

Sie war vor langer Zeit zu dem Schluss gekommen, dass ihre Mutter ihr gegenüber vor allem Gleichgültigkeit empfand. »Zumindest vermisse ich ihre Briefe nicht – die Verwünschungen, die ich zweimal im Monat erhalten habe, in denen sie mich aufforderte, nach England zurückzukehren und zu heiraten, als gäbe es nur eine Form zu leben.«

»Dann bestehst du noch immer darauf, dass du es nie tun wirst? Heiraten, meine ich?«

Um Zeit zu gewinnen, nahm Maude einen Schluck von ihrem Drink, denn ihr Herz flatterte wie ein aufgescheuchter Vogel, als sie das Wort Heiraten von seinen Lippen hörte. Für einen flüchtigen, wundervollen Moment fragte sie sich, ob er sie aushorchte, ob er vorhatte, ihr irgendwann einen Antrag zu machen. Ihr Hals war so trocken, dass der Champagner ihn zusätzlich reizte und sie husten musste. Sie wagte nicht, ihn anzusehen, und betrachtete stattdessen den Rand ihres Glases. Mit den Fingerspitzen entfernte sie einen imaginären Krümel. Ihr war klar, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte. Sie wollte ihm gehören. Sie wollte Kinder mit ihm haben, obwohl sie die Einschränkungen fürchtete, die eine junge Familie möglicherweise bedeutete. Wenn er sie heiratete, würde ihm natürlich ihr Anteil am Vermögen der Vickerys gehören, und er wäre alle seine Sorgen los. Sie hoffte, dass er daran gedacht hatte, denn sie durfte es ihrerseits auf keinen Fall erwähnen.

»Ach, ich weiß nicht«, sagte sie, und zu ihrer eigenen Überraschung klang ihre Stimme ruhig, fast gleichgültig. »Ich denke nicht viel darüber nach. Wahrscheinlich, weil ich mir nicht vorstellen kann, welcher Mann mich zur Frau haben wollte.«

»Unsinn. Jeder Mann würde sich glücklich schätzen, dich zu bekommen«, sagte Nathaniel. »Du bist mutig und klug und treu und stets ehrlich.« Nachdenklich betrachtete er einen Augenblick sein eigenes Glas, und Maude registrierte, dass er nicht schön gesagt hatte.

»Du bist sehr nett«, sagte sie, »aber ich bezweifle, dass viele Männer Klugheit oder Mut als weibliche Tugenden ansehen.«

»Nun, selbst schuld«, sagte er. Maude wandte erneut den Blick ab, um ihre Verlegenheit zu überspielen.

Unwillentlich schossen ihr die Worte alte Jungfer durch den Kopf. Das war die größte Angst ihrer Mutter gewesen, obwohl Maude bei deren Tod gerade erst dreiundzwanzig geworden war. Vielleicht hatte Antoinette die Wahrheit geahnt – wenn ihre Tochter nicht Nathaniel Elliot haben konnte, würde sie niemanden heiraten. Maude stellte sich ihr Leben im Alter als unverheiratete Tante vor – wie Nichten und Neffen ihr gelangweilt Anstandsbesuche abstatteten, sie in einem leeren Haus, mit einer tickenden Uhr, die sie nicht loswurde. Aber lieber das, entschied sie, als mit einem anderen Ehemann als Nathaniel zu Hause angebunden zu sein, in einer konventionellen Ehe gefangen. Lieber blieb sie allein und reiste, als nicht zu reisen. Aber das Beste von allem wäre, mit Nathaniel zu reisen. In diesem speziellen Augenblick ließ sie diese Hoffnung zu. Er war von weit her gekommen, um sie zu sehen, wie sie bemerkte. Während ihr Herz noch immer so laut schlug, dass sie es hören konnte, blickte Maude auf und lächelte.

»Und du, Nathan? Willst du keine Ehefrau und ein Haus voller Kinder?«, neckte sie ihn. Nathaniel zuckte mit den Schultern.

»Doch, sehr gern. Eigentlich … Nun ja, ich bin gekommen, weil ich es dir persönlich sagen wollte. Ich habe mich verlobt – mit einem bezaubernden Mädchen. Sie heißt Faye March, wir haben uns in Kairo kennengelernt …« Seine Stimme erstarb, und trotz des Schocks begriff Maude, dass er es wusste – er wusste, was sie für ihn empfand und wie sie seine Nachricht treffen würde. Sie konnte nicht ergründen, warum er dachte, es sei besser, es ihr persönlich zu sagen. Hätte er es ihr in einem Brief mitgeteilt, hätte sie ihren Schmerz wenigstens herausschreien können, irgendwo, völlig unbeobachtet. Stattdessen musste sie sich bei einem offiziellen Abendessen, bei dem diverse Fragen nach Faye March gestellt und beantwortet wurden, zusammenreißen, während sie das Gefühl hatte, man habe in ihre Brust ein riesiges Loch gerissen, durch das unkontrolliert ihre Seele entwich.

In jener Nacht, als sie endlich Schlaf fand, träumte Maude von der Wüste. Sie träumte von der Stille und davon, wie sich alles verlangsamte, sodass es schien, als könnte sie die Vergangenheit und die Zukunft greifen und wäre frei. Sie träumte von der Heiterkeit, die nichts – keine Einsamkeit, keine Liebe und kein in ihre Brust gerissenes Loch – stören konnte, und wachte schluchzend auf, weil ihr das Leben ohne dieses Gefühl von Unabhängigkeit und Leichtigkeit plötzlich unerträglich schien. Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie die Vorstellung, in Nathaniels Nähe zu sein, nicht ertragen und brach überstürzt auf. In der Hoffnung, dass der Schmerz nachließe, sobald sie zu Hause war, bestieg sie eine Woche früher als geplant das Schiff von Haifa nach Southampton, blieb die ganze Zeit über in ihrer Kabine, reiste weiter nach Marsh House und stellte sofort fest, dass sie sich geirrt hatte. Nichts konnte ihren Schmerz lindern. Maude ist stärker als ihr alle zusammen, hatte ihr Vater einst zu ihren beiden Brüdern gesagt. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, wie es sich anfühlte, stark zu sein, aber sie fühlte sich nur schwach, ungeliebt und voller Schmerz.

Nicht einmal die offensichtliche Enttäuschung ihres Vaters darüber, dass nichts sie zu Hause halten konnte, ließ sie an ihrer Entscheidung zweifeln. Nichts konnte sie dazu bewegen, in Marsh House zu bleiben, aus dem überall Nathaniel Elliot und die tickende Uhr widerhallten und sie daran erinnerten, dass sie erneut zurückgelassen worden war. Dass sie immer zurückgelassen werden würde. Sie blieb nur eine Woche, dann reiste sie in ein Hotel nach Konstantinopel, wo sie versuchte, ihr Buch zu schreiben. Sie hatte das Gefühl, an einem Ort sein zu müssen, wo weder sie noch Nathaniel je zuvor gewesen war – ein Ort frei von Erinnerungen an ihn oder an sie beide. Man lud sie wiederholt zum Abendessen in die Botschaft und in die Häuser anderer Briten ein. Sie schloss einige Freundschaften, obwohl sie den Frauen im Allgemeinen zu hart war, zu direkt. Marcus Whittington, der älteste Sohn eines britischen Reederei-Magnaten, schien an ihren Lippen zu hängen, lauschte ihr mit offenem Mund und verfügte über einen unerschöpflichen Vorrat an Fragen. Zunächst verwirrte sie das, bis seine Schwester eine spitze Bemerkung machte und Marcus die Röte in die Wangen schoss. Trotz ihres Wohlstands hatte Maude nie zuvor einen Verehrer gehabt. Sie war zu klein, zu unscheinbar, zu schroff. Marcus war ein Jahr jünger als sie, ein Wissenschaftler, der sich mit dem Byzantinischen Reich beschäftigte und darüber sein erstes Buch schrieb. Er war nicht allzu groß und auch nicht allzu lebhaft – Elias Vickery hätte ihn als blass beschrieben. Aber er war überaus klug, nett und ausgeglichen, bereit, mit ihr zu reisen, aber auch, sie allein zu lassen – im Grunde war er gewillt, allem zuzustimmen, was sie dazu veranlassen würde, seinen Antrag anzunehmen.

Maude versuchte, sich selbst gut zuzureden. Was Ehemänner anging, würde sie wohl kaum einen passenderen finden. Er besaß jede Menge eigenes Geld, und er vergötterte sie. Elias schrieb ihr, dass ihre Mutter dem zugestimmt hätte – was seine Art war, sie sanft zu ermuntern. Im Grunde seines Herzens war Elias Vickery davon überzeugt, dass eine Frau heiraten sollte. Aber Maude spürte, wie sie sich in ihr Innerstes zurückzog, wenn sie merkte, wie stark Marcus’ Gefühle für sie waren. Sie wusste, dass sein Glück langsam, aber sicher vergehen würde – es würde in der Weite ihres hohlen Inneren ersterben, anstatt dort auf ein Echo zu stoßen, größer zu werden und sich zu vertiefen. Sie wies ihn mit knappen Worten ab, die von ihrer Verzweiflung herrührten – seinetwegen, ihretwegen. Marcus zitterte, als er sie verließ, vergoss jedoch keine Tränen, und Maude wusste seine Selbstbeherrschung zu schätzen. Ihre eigene war inzwischen eisern, und sie wertschätzte sie bei anderen Menschen. Marcus ist charmant, schrieb sie ihrem Vater, aber in anderen wesentlichen Aspekten mir insgesamt zu ähnlich.

Sie verließ Konstantinopel bald darauf, um eine Wohnung in Rom zu beziehen, in der die Mücken sie bei lebendigem Leib verspeisten, die jedoch auf das Forum Romanum blickte. Sie sehnte sich nach daheim – nach der Vorstellung von einem Zuhause und dem Trost und der Freude, die es ihr einst beschert hatte. Irgendwann war Nathaniel unbemerkt zu ihrem Zuhause geworden, und da sie ihn nicht haben konnte, war sie nun staatenlos, ohne Heimat, ohne Ziel. Sie konnte nirgendwohin, sie konnte nichts tun, um Frieden zu finden. Sie konnte immer nur weiterreisen, alles hinter sich lassen und weiterhin unberührte Orte aufsuchen. Orte ohne Widerhall. Allmählich wurde ihr klar, dass sie seit Oxford nichts anderes getan hatte – sie war ihm weder gefolgt noch vor ihm geflohen. Ohne darüber nachzudenken, war sie ständig unterwegs gewesen, weil es das Einzige war, was sie tun konnte.