MASKAT, NIZWA UND TANUF, OMAN, APRIL 1909

Die Nachwirkungen von Nathaniels Verrat lähmten Maude für lange Zeit, wie betäubt lag sie auf dem Boden. Als die Sonne unterging, entzündete Khalid ein Feuer, das blasse, gierige, hohe Flammen spie, und Maude spürte die Hitze auf ihrem Gesicht. Ihr Körper war kalt und steif geworden. Der Schock hatte ihre Seele aufgelöst, und es fühlte sich an, als hätte sich etwas Dunkles und Fremdes an ihre Stelle geschlichen.

»Wir müssen sie verfolgen!«, hörte sie Fatih immer und immer wieder sagen. »Gott bringe eine Plage über sie! Dafür werden sie sterben. Wir haben schon zu lange gewartet.«

»Wir können nicht weiterreiten«, erklärte Khalid ihm stets aufs Neue. Er brachte Maude einen Teller mit Fleisch und Brot und stellte ihn neben ihr ab. »Shahin, Sie müssen etwas essen. Ich weiß, dass Sie mich hören. Sie müssen aufstehen. Das ist keine Lösung«, sagte er, doch Maude konnte nichts erwidern. Ihre Gedanken erreichten ihren Körper nicht, nicht ihre Knochen oder ihr Blut. Sie konnte sich nicht überwinden zu sprechen, nicht, sich zu bewegen. Erst, als sie sie brandmarkten, kam sie wieder zu sich.

Am nächsten Tag, die Sonne ging unter, kam mit dem schwindenden Licht ein Wind auf und strich kalt über die Dünen. Khalid zitierte Verse aus dem Koran, während er im Kreis um Maude herumlief und das Eisen im Feuer zu glühen begann. Der Wind peitschte seine Worte fort und trug sie gen Himmel. Über ihren Köpfen begingen die Sterne ein ausschweifendes Fest. Einer von ihnen blitzte als Sternschnuppe durch die Dunkelheit und sah wunderschön aus, als er verglühte. Maude beobachtete es, wünschte sich jedoch nichts. Sie wusste, was Khalid vorhatte, doch es war ihr egal, es machte ihr keine Angst. Fatih setzte sie auf und neigte ihren Kopf nach vorn. Khalid umwickelte seine Hand mit einem Tuch, nahm das glühende Eisen aus den Kohlen und presste es auf ihren Nacken.

Der Schmerz war grell und unvorstellbar. Ein plötzliches weißes Licht, das die Nacht auslöschte. Unmöglich zu erdulden, und Maude blieb keine andere Wahl, als zu schreien. Sand wehte in ihren Mund und setzte sich zwischen ihre Zähne. Sie wehrte sich gegen den Griff der Männer und nahm den Geruch ihrer angesengten Haare wahr, ihrer verbrannten Haut. Sie schrie und schrie noch, als sie das Eisen wegnahmen, und vielleicht verstanden die Männer, dass sie mehr herausschrie als nur den Schmerz über das Brandzeichen. Ein Schmerz, verursacht durch eine noch viel größere Gewalttat. Und dass sie schreien musste, damit ihre Heilung einsetzte. Es war der Laut des dunklen Wesens in ihr. Ihr Herz war gebrochen, und sie war sprachlos vor Wut, und als sie in den schwarzen und silberfarbenen Himmel blickte, fühlte sie sich so kalt wie die Sterne und ebenso einsam. Sie fragte sich, ob sie je wieder etwas anderes empfinden würde.

Am nächsten Tag brachen sie auf und ritten zurück in Richtung Oase. Maude war noch immer schweigsam, aber sie war bei Bewusstsein und konnte reiten. Die Wunde in ihrem Nacken schmerzte unablässig. Sie ließ sich von Khalid führen, verlor das Zeitgefühl und achtete nicht auf den Weg. Sie sorgte sich nicht wegen ihres zur Neige gehenden Wassers. Sie traf keine Entscheidungen. Ungefähr einen Monat später erreichten sie Maskat, und die Wachen an den Stadttoren beäugten sie argwöhnisch: drei Beduinen in Lumpen, einer von ihnen noch ein Junge, mit den blutleeren rissigen Lippen Verdurstender, ritten auf Batinah-Kamelen heran, die drohten, jeden Augenblick zusammenzubrechen. Maude delirierte fast. Der Anblick der Stadt und der großen, eckigen Tore verblüffte sie so sehr, dass sie einen Augenblick dachte, sie wäre ganz bis nach London geritten. Sie sah sich um und erwartete, dass man ihre Ankunft irgendwie feiern würde, mit einem Willkommensfest oder mit Wimpeln in den Farben der britischen Nationalflagge. Doch natürlich gab es nichts dergleichen, nur alten Stein und Lehmziegel, die in der Sonne schmorten.

Die Wachen wiesen sie an, die Kamele am Tor zu lassen. Sie musterten sie misstrauisch, reichten jedoch jedem Reisenden einen Becher Wasser. Maudes schmeckte wie Blut, und fassungslos ob dieses Betrugs spie sie den ersten Schluck aus. Sie wischte sich mit der Hand über den Mund und erwartete, dass rote Flüssigkeit daran kleben würde. Zu dritt gingen sie langsam durch die Stadt hinunter zum Hafen, wo das Glitzern des Meeres sie blendete und ihnen unwirklich erschien. Gequält starrten sie auf all das Wasser, das man nicht trinken konnte. Dann ging Maude auf wackeligen Beinen zur Tür der britischen Residenz und klopfte an.

Sie vergaß den Namen des Wesirs, kaum dass man ihn ihr genannt hatte. Das ärgerte sie, denn sie hatte ihn einst gewusst, ehe sie damals von Salalah aufgebrochen war. Er war ein großer Mann mit tief liegenden Augenhöhlen, und Maude merkte, dass ihre Gedanken abschweiften, während er sprach. An der Wand hing ein Porträt von König Edward VII., und das Sonnenlicht, das sich im Meer spiegelte, tanzte über die Decke. Die Narben in ihrem Nacken juckten fürchterlich. Sie stürzte den Tee hinunter, den man ihr reichte, und verbrühte sich die Kehle.

»Nehmen Sie«, sagte der Wesir, und sie blickte auf und stellte überrascht fest, dass er neben ihr stand und ihr ein Taschentuch reichte. »Scheußliches Pech, auf den letzten Metern noch zu verlieren. Aber fassen Sie Mut, bald sind Sie wieder zu Hause, im Schoß Ihrer Familie, ein weitaus angemessenerer Ort für eine junge Dame.« Er tätschelte ihr unangenehm die Schulter, und Maude bemerkte, dass sie weinte – laut und vernehmlich. Sie konnte sich nicht erinnern, damit angefangen zu haben.

»Aber ich habe das Rub al-Chali durchquert, nicht Nathaniel. Verstehen Sie? Er hat es nicht geschafft … Er hat sich verirrt. Wir haben ihn gefunden, und er … er …«

»Na, na, Miss Vickery, das reicht. Mr. Elliot befindet sich bereits auf dem Rückweg nach England. Ich habe persönlich seine Karte von der Durchquerung gesehen. Er ist mit einer großen Gruppe Stammesmänner eingetroffen, die mit ihm gemeinsam die Wüste durchquert und seinen Erfolg bestätigt haben …«

»Aber die Hälfte dieser Männer hat die Wüste mit mir durchquert! Er hat sie gekauft, das ist alles …« Sie verstummte, weil sie einsah, dass es aussichtslos war. Das unbehagliche Mitleid des Wesirs wich Gereiztheit. Sie bedeutete ein Ärgernis für ihn, mehr nicht. Er konnte es nicht erwarten, sie wegzuschicken. Als wollte er das bestätigen, setzte sich der Wesir wieder auf seinen Platz, räusperte sich, legte die Fingerspitzen aneinander und sagte: »Wie der Teufel es will, läuft übermorgen ein Frachter aus. Ich bin mir sicher, dass wir Ihnen an Bord einen Platz besorgen können. Es entspricht vielleicht nicht ganz dem Standard, den Sie gewohnt sind, aber Sie können dann von Salalah oder von Aden aus etwas Besseres arrangieren.« Maude taxierte ihn und fragte sich angesichts ihrer Erscheinung, was er genau meinte, welchen Standard sie gewohnt sei.

Eine Weile saß sie schweigend da, und das saubere Stofftaschentuch fühlte sich unglaublich weich in ihrer Hand an. Es war etwas überaus Konventionelles, so zutiefst britisch. Sie betrachtete es und sah, dass jemand seine Initialen in die Ecke gestickt hatte. Auf ihrem Mittelfinger saß der Verlobungsring mit dem Lapis, den Nathaniel ihr erst vor wenigen Wochen geschenkt hatte. Maude brach erneut in Tränen aus und hasste sich dafür, weil sie weinte, da es niemanden gab, der für sie Initialen in ein Taschentuch stickte. In ihr brannte ein Schmerz, eiskalt wie der tiefste Winter. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn ertrug. Der britische Beamte mit den tiefen Augenhöhlen bot ihr ein Zimmer in der Residenz an, bis das Schiff ablegte, doch Maude lehnte ab und stand mit wackeligen Beinen auf. »Können Sie hier in Maskat irgendwo unterkommen?« Er klang skeptisch, aber nicht wirklich interessiert. Sie wusste, dass er es nicht überprüfen würde.

»Ja. Ich habe Freunde hier«, erklärte sie ihm. Er nickte aufmunternd.

»Sie brauchen jetzt Ruhe, Miss Vickery. Sie haben ganz offensichtlich mehr Abenteuer erlebt, als vernünftig gewesen wäre. Na dann, ab mit Ihnen. Ich spreche mit dem Kapitän des Frachters. Und lassen wir doch dieses alberne Gerede über die Wüste und Doppeldurchquerungen, ja?« Maude entgegnete nichts. Sie blickte ihn ein letztes Mal an und hatte das Gefühl, einer anderen Religion, einer anderen Rasse, einer anderen Spezies anzugehören. Doch sie war zu schwach, um ihm zu widersprechen oder ihn zu verspotten. Und sie war auch zu schwach, um zu kämpfen. Nathaniel hatte ihr alles genommen. Wenn sie in sich hineinsah, war dort nichts mehr.

Khalid brachte sie zu einem kargen Zimmer in Matrah, das sich in der obersten Etage eines Hauses befand, in einer schmalen Gasse, in der es nach Ziegenhäuten stank. Sie legte sich auf eine gewebte Matte unter ein mit Palmwedeln gedecktes Dach, in dem es von Ungeziefer nur so wimmelte, und schlief. So gingen einige Tage ins Land. Khalid weckte sie von Zeit zu Zeit, um ihr Brot und Wasser zu bringen, und blieb, bis sie es zu sich genommen hatte. Hin und wieder erwachte sie, weil draußen Stimmen zu hören waren oder weil es im Zimmer so warm war, dass ihr der Schweiß in den Augen brannte. Ein- oder zweimal wachte sie auf und versuchte aufzustehen, doch das Zimmer drehte sich um sie, und ihr wurde übel. Sie ließ sich auf den Boden zurücksinken, den Mund voller Speichel, und war sich sicher, dass sie sich übergeben musste. Fliegen streiften ihr Gesicht. Ihr Kopf war leer.

Eines Tages trat Fatih mit entschlossener Miene ins Zimmer, starrte dann jedoch nur mit verschränkten Armen auf sie hinunter und verschwand wieder, ohne ein Wort zu sagen. Schwach, wie sie war, würde Khalid sie nicht hier zurücklassen, doch Fatih und er wollten eigentlich aufbrechen. Sie hatten in Maskat Geschäfte zu erledigen und vergeudeten ihr Geld für die Unterkunft. Sie wusste, dass sie für sie zur Last geworden war. Dass sie aufstehen musste. Allein der Gedanke erschöpfte sie.

Der Sommer schnappte bereits nach den Fersen des Frühlings, mit jedem Tag wurde es heißer. Maude erschauderte bei der Vorstellung, sie müsste sich bei dieser unbarmherzigen Hitze in der Wüste aufhalten. Obwohl ihre Haut wettergegerbt war, spürte sie, wie die Sonne auf ihr brannte, als sie voll bekleidet am Strand von Matrah im Meer schwamm. Getrieben von dem Bedürfnis, sich von ihrem eigenen Gestank zu befreien, hatten ihre Beine sie so weit getragen. Der feuchte Sand unter ihren Füßen erinnerte sie an England. Als Nathaniel sich in ihre Gedanken drängte, gab sie dem nach. Sie sah ihn vor sich, wie er mit elf Jahren Muscheln untersuchte, die sie gesammelt hatte, wie er die Arten bestimmte und die beste und die zweitbeste auswählte. Nathaniel war ebenfalls ihr Zuhause, und zu beidem konnte sie nicht zurückkehren.

Das Wasser war erfrischend und tröstend und ließ sie vergessen. Maude trieb auf dem Meer, paddelte sanft mit den Armen und starrte zu dem dunklen Bergmassiv des Dschabal al-Achdar hinauf. Der von Dunst verhangene Berg schien sie zu locken. Er schien ihr einen Ort zu bieten, an dem sie sich verstecken konnte. Sie ließ sich im Wasser treiben und dachte an Nathaniel, obwohl es ihr nicht guttat. Sie wusste nicht, ob sie ihn noch liebte, ob sie sich noch nach ihm sehnte. Der Gedanke an ihn bewirkte, dass etwas in ihr vor Schmerz aufheulte. Sie versuchte, ihn sich in England vorzustellen, wie er seinen Erfolg feierte, seinen bedeutsamen Triumph. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie ihm diesen ließ, wenn sie seine erfundene Geschichte nicht anfocht. Sie stellte sich vor, wie Nathaniel Elias Vickery besuchte, dieser ihm gratulierte und sich bei Nathaniel nach Maude erkundigte, danach, ob er etwas von ihr gehört habe, solange er in Arabien war. Glaubten sie, sie sei tot? Ließ Nathaniel sie das denken? Wut brandete heiß in ihr auf und erstarb genauso schnell wieder. Ihr fehlte schlichtweg die Energie, wütend zu sein, und in dem Moment wurde ihr klar, dass sie noch nicht zurückgehen konnte. Weder, um Nathaniel zu überlassen, was er ihr gestohlen hatte, noch, um den Versuch zu unternehmen, es ihm zu entreißen. Sie konnte einfach nicht. Sie würde ihrem Vater schreiben, damit er wusste, dass sie am Leben war, das war alles. Sie war am Leben, aber sie war in keiner guten Verfassung.

Als sie feststellte, dass sie schwanger war, bot Khalid ihr an, sie zu heiraten. Sie war so dünn, so mager, dass sie mit ungläubigem Entsetzen sofort verstand, was es bedeutete, als sich ihr Bauch trotz fortwährender Übelkeit zu runden begann. Inzwischen hatte sie eigentlich beschlossen, nicht mehr zu weinen, aber sie konnte nicht anders. Als Khalid sie schluchzend vorfand, erzählte sie es ihm, ohne darüber nachzudenken.

»Ist das in Ihrem Land eine Schande?«, erkundigte er sich ruhig und ernst.

»O ja«, erwiderte sie verzweifelt. »Wenn ich es ihm erzähle, wird er mich dann vielleicht doch heiraten? Vielleicht sollte ich es Nathaniel sagen?«, sprach sie ihre Gedanken aus, panisch und voller Hoffnung.

»Einen solchen Mann würden Sie noch wollen?«, fragte Khalid, und seine Miene verfinsterte sich. Maude wagte ihm nicht zu sagen, dass dem so war. Aber je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass das auch nicht stimmte. Sie wollte den Nathaniel wiederhaben, den sie meinte, gekannt zu haben. Sie wollte sich selbst zurück, so, wie sie vorher gewesen war. Sie wollte beide nicht so, wie sie jetzt waren – ihn nicht und sich selbst nicht. Sie schüttelte den Kopf. »Würden Sie dann einen anderen nehmen? Es wäre mir eine Ehre«, sagte er, und die Freundlichkeit und der Anstand seines Angebots trieben ihr erneut die Tränen in die Augen.

»Und würden Sie denn eine Ungläubige nehmen?«, fragte sie zurück. Sie stellte fest, dass sich ihr Glaube an Gott gänzlich aufgelöst hatte, ob christlich oder was auch immer. Er war irgendwo in der Wüste verglüht, wann, wusste sie nicht. Vielleicht hatte ihn das dunkle Wesen vertrieben, das in sie gekrochen war, als Nathaniel sie verlassen hatte.

»Sie müssten nur geloben, an Gott zu glauben, und wie eine gute Muslimin leben …«, sagte Khalid und verstummte. Sie sah, was das für eine schwere Aufgabe für ihn bedeuten würde.

»Es wäre eine Lüge«, sagte sie ruhig. »Sie haben etwas Besseres verdient.«

Sie waren in Nizwa. Maude hatte sich dem Stellvertreter des Sultans vorgestellt, dem Wali, und war zu einem feierlichen Abendessen mit den dort ansässigen Scheichs eingeladen worden. Es wurde bergeweise Reis mit fettigem Ziegenfleisch serviert, dann äußerst süßes Gebäck. Es erinnerte sie an Haroun und die Süßigkeitenkiste, die er so streng bewacht hatte, als sie Salalah verließen. Es schien ihr unendlich lange her zu sein. Offenbar schätzte der Wali ihre vollkommene Freudlosigkeit und ihr sonderbar ernstes Auftreten und erteilte ihr die Erlaubnis zu bleiben. Khalid und Fatih zog es zurück nach Süden, in ihre vertraute Umgebung und zu ihren Familien. Maude spürte Fatihs wachsende Unruhe, er wollte aufbrechen, ehe es der Hochsommer unmöglich machte, doch Khalid weigerte sich noch immer, sie ihrem Schicksal zu überlassen.

»Shahin, was wollen Sie tun?«, fragte er täglich mit solcher Geduld, dass ihr klar war, er würde warten, bis sie es wusste, egal, wie lange es dauerte.

»Sie sollten abreisen«, erklärte sie ihm jedes Mal. »Sie schulden mir nichts. Sie waren der treueste Begleiter, den ich mir je hätte wünschen können.«

»Freunde schulden einander nichts, das ist wahr«, sagte er. »Aber ich kann nicht gehen, bevor ich nicht weiß, was Sie tun werden.« Sie bezahlte ihn dafür, dass er blieb, für seine Zeit. Khalid nahm die Münzen widerwillig an, kaufte davon Lebensmittel und Kleider für sie und bezahlte ihre Unterkunft. Schließlich merkte sie, dass er die Wahrheit sagte – mit ihrer Unentschiedenheit konnte sie die beiden endlos dort festhalten.

Sie wohnten in einem Haus in den verwinkelten Gassen um den Suk, wo der Gestank nach Blut, Ruß, Schweiß und Fäulnis fast unerträglich war. Nizwa, das waren Fliegen, Müll und wilde Hunde, die sich mit gefletschten Zähnen auf einen stürzten. Das war das Klagen der Muezzin aus den Moscheen und die panischen Schreie der Ziegen, die man festband, um ihnen die Gurgel durchzuschneiden. Maude sehnte sich nach der Leere und der Stille der Wüste, doch sie sehnte sich nach dem Vorher. Sie sehnte sich danach, wieder der Mensch zu sein, der sie zuvor gewesen war, und sah allmählich ein, dass sie weder das eine noch das andere zurückhaben konnte – weder die Wüste noch den Frieden, den sie dort empfunden hatte. Stattdessen wanderte ihr Blick immer wieder zu dem Berg, kahl, riesig und ungebärdig. Fern. Sie wollte fernab sein. Sie konnte sich vorstellen, dort Frieden zu finden und Stille. Sie konnte sich die felsige Kälte der Luft vorstellen, die frei von menschlichem Gestank war. Khalid reagierte skeptisch, als sie ihm ihre Entscheidung mitteilte. »Ich weiß nichts über den Berg oder die Menschen dort«, sagte er beunruhigt.

»Ich auch nicht«, erwiderte Maude. »Aber ich werde es herausfinden. Wie ich gehört habe, gibt es dort oben Dörfer und Gärten voller Früchte und Blumen. Es klingt nach einem guten Ort, um dort zu leben. Ich bestehe darauf, dass Sie und Fatih sich auf den Heimweg machen.«

»Wollen Sie es uns nicht gleichtun? Wollen Sie nicht auch nach Hause zurückkehren, Shahin?«

»Ich habe kein Zuhause mehr.« Maude strich sich über ihren runden Bauch, eine Geste, die ihr inzwischen schon gar nicht mehr bewusst war. »Ich muss mir ein neues suchen.«

»Vielleicht sind Sie dort nicht willkommen. Sie sollten nicht allein gehen«, entgegnete er stur.

»Ich werde einen Führer anheuern«, versicherte sie ihm. »Und ich werde als Junge reisen. Ich komme zurecht, Khalid. Bitte kehren Sie nach Hause zurück.«

Fatih schüttelte ihr die Hand und wünschte ihr alles Gute. Er konnte seine Freude, dass sie nun endlich aufbrachen, nicht verhehlen. Maude machte ihm Geschenke – ein neues Hemd, einen Munitionsgürtel, einen verzierten Ledersattel –, die er fröhlich annahm, ohne sich zu überschwänglich dafür zu bedanken. Khalid reagierte anders, ruhiger. Er nahm ihre Hand, was in der Öffentlichkeit möglich war, da Maude sich als junger Mann verkleidet hatte. Er hielt sie lange Zeit in seiner und ließ den Blick durch ihr Gesicht wandern, als suchte er dort etwas, was er verloren hatte. Oder im Begriff war zu verlieren.

»Ich hoffe, Sie werden mich einmal besuchen, wenn Ihr Baby auf der Welt ist«, sagte er, doch sie wussten beide, dass sie sich nie mehr wiedersehen würden.

»Vielleicht werde ich das eines Tages tun. Ich würde gern in die Wüste zurückkehren. Eines Tages«, sagte Maude und verstummte, weil sie sich nicht traute weiterzusprechen.

»So Gott will«, sagte er leise. Maude drehte sich um und eilte davon, noch bevor sie auf ihre Kamele gestiegen waren. Sie ertrug es nicht, sie davonreiten zu sehen.

In den kargen Ausläufern unterhalb des Bergs stießen Maude und ihr Führer auf eine Höhle voller Männer, eine breite, flache Einbuchtung im Felsen, die von Stimmen und Schritten widerhallte. Geld wechselte die Hände, es war schmierig und ebenso widerlich wie der Geruch so vieler unrasierter ungewaschener Gesichter. Es wurde gehandelt wie auf einem Marktplatz, aber da war noch etwas anderes, etwas Dunkleres. Dies war ein Ort kalter abgrundtiefer Verachtung voll gieriger, hämischer Seitenblicke. Eine Sklavenauktion, wie Maudes Führer ihr erklärte, Frauen waren hier nicht erlaubt. Maude mochte ihren Führer nicht, der für einen Mann von derart begrenztem Verstand recht überheblich war. Sie ignorierte ihn und ging hinein, um sich die Sache genauer anzusehen.

Sie kam an großen Sklaven vorbei, die Entschiedenheit ausstrahlten, die Arme verschränkten und eine abfällige Miene aufsetzten. Und an anderen, die unsicher auf den Beinen wankten, die Gesichter zerkratzt, die Knöchel gefesselt. Ein paar Männer standen lachend um einen großen, dünnen Mann, der auf einem Fuß hüpfte und um sein Gleichgewicht rang. Maude belauschte sie eine Weile und erfuhr, dass er in die Sklaverei hineingeboren worden, jedoch geflüchtet war. Daraufhin hatte ihn sein Besitzer dazu verdammt, sich dem würdelosen Spektakel auf dem Marktplatz auszusetzen. Man hatte ihn ausgepeitscht, und er hüpfte, weil er aufgrund einer tiefen, eitrigen Wunde an der rechten Wade nicht auftreten konnte.

»Narr. Vielleicht siehst du jetzt ein, dass du mehr Dankbarkeit hättest zeigen sollen?« Der Mann, der ihn verkaufte, war jung und gut aussehend, seine Miene jedoch boshaft. »Niemand wird einen lahmen Sklaven kaufen. Du wirst in dieser Höhle zugrunde gehen wie ein Hund, denn ich werde dich nicht wieder mit zurücknehmen.« Er versetzte dem Sklaven einen Tritt, mit dem er ihn auf den Rücken in den Staub beförderte. Der Mann, den Maude bereits auf über dreißig schätzte, blickte zu seinem Besitzer mit einer derart würdevollen Mischung aus Trotz und Demut auf, dass Maude ihn sofort mochte.

»Wie viel wollen Sie für ihn haben?«, fragte sie seinen Besitzer.

Sie kamen nur langsam voran, während Abdullah sich erholte. Maude behandelte ihn wie einen Bediensteten, nicht wie einen Sklaven. Sehr bald begann sie, ihn wie einen Freund zu behandeln. Er war intelligent und emsig und strahlte eine angenehme Ruhe aus. Als sie das Dorf Tanuf erreichten, machten sie halt, damit sein Bein ausheilen konnte. Und weil ausladende Tamarindenbäume dort Schatten spendeten und es einen frei zugänglichen Faladsch gab, an dem kreischende Kinder spielten. Maude hatte das zwingende Gefühl, einen Ort gefunden zu haben, an dem sie bleiben konnte. Wie ein Kind in den Schoß seiner Mutter schmiegten sich Tanufs Häuser an eine gewaltige abschüssige Steinplatte. Es gab einen Wald aus Dattelpalmen, deren ledrige Blätter in der Brise rasselten. Die Frauen verbargen ihre Gesichter, lachten jedoch viel. Maude legte ihre Jungenkleidung ab und einen Schleier an und bat um eine Audienz beim Scheich, bin Himyar, der sich selbst als Herr über den Grünen Berg bezeichnete. Sie ersann eine Geschichte über ihren Ehemann, den Räuber vor Nizwa ermordet hätten, und bat darum, bleiben zu dürfen, bis sie ihr Kind sicher zur Welt gebracht habe. Eine stattliche Summe Maria-Theresien-Taler half, ihn zu überzeugen. Abdullah und sie hatten sich bald in die Struktur des Dorfes eingewoben und wurden nicht aufgefordert weiterzureisen.

Als ihr Sohn zur Welt kam, nannte Maude ihn Salim, weil er vollkommen war und ganz und weil sie sich zum ersten Mal, seit sie die Wüste verlassen hatte, ebenfalls wieder ganz zu fühlen begann. Sie suchte in seinem Gesicht nach Ähnlichkeiten mit Nathaniel, entdeckte jedoch keine. Seine dunklen Augen und Haare hätte er auch von Elias haben können. Später im Jahr ging sie nach Maskat, um Vereinbarungen mit der britischen Bank zu treffen und um nach Hause zu telegrafieren. Auf diese Weise erfuhr sie vom Tod ihres Vaters und von ihrem Erbe. Sie blieb in Tanuf und sah zu, wie Salim aufwuchs.

Sie lief über die Berge und Hänge um das Dorf herum, manchmal stieg sie durch eine der Schluchten zum Zentralmassiv und starrte zum Plateau hinauf. Doch sie versuchte nie, weiter hinaufzusteigen. Das Ticken der Uhr hatte endlich aufgehört. Wie so vieles andere hatte es die Wüste nicht überlebt. Die hohen Berge, den Gipfel und die weiter führenden Wege nahm Maude wie eine sanfte Bewegung in ihrem Augenwinkel wahr, die stets ihren Blick auf sich zog. Doch der Drang, diesen Wegen zu folgen und diese zu erobern, gehörten zu einem Menschen, den sie nicht mehr kannte.

Sie trat allein in die Dunkelheit hinaus, betrachtete die Sterne und wehrte sich nicht gegen die neue Ordnung der Dinge oder gegen den neuen Menschen, der sie geworden war. Das dunkle Wesen lauerte noch immer in ihr. Wenn sie danach suchte, fand sie es leicht. Aber sie verabscheute es, fürchtete die Gedanken, die aus ihm aufstiegen. Das Gefühl, dass es in ihr wütete und sie zerriss. Das Gefühl, innerlich vergiftet zu sein. Sie liebte Salim und sprach nie von seinem Vater. Sie versuchte, gar nicht an ihn zu denken, so schwer es ihr auch fiel. Sie beobachtete die Sterne, die sich langsam über den Berg schoben und ihre endlosen Bahnen zogen, und sie weigerte sich jahrelang, sich zu fragen, worauf sie wartete. Sie schlief tief und träumte von der Wüste. Nacht für Nacht träumte sie von der Wüste.