KAPITEL

14

»Noch mal«, sagt Pretha.

Nach fünf Stunden Training am dritten Tag in Folge ist mir dieses Wort so zuwider, dass ich mich übergeben könnte. Außer der kurzen Mittagspause verbringen wir den gesamten Tag hier in der Bibliothek damit, dass sie mich drillt, Dunkelheit zu erzeugen. Angefangen haben wir mit Tropfen an meinen Fingerspitzen und dann einer Kugel, die ich auf der Handfläche festhalten soll. Fazit? Trotz Prethas unendlicher Geduld kann ich die Kugel zwar erscheinen lassen, bin aber ein hoffnungsloser Fall, wenn es darum geht, sie zu kontrollieren, aufrechtzuerhalten oder ganz allgemein etwas Nützliches damit anzustellen.

Ich hole tief Luft, konzentriere mich auf meine Handfläche und versuche, Dunkelheit heraufzubeschwören. Doch als es mir gelingt, eine Schattenkugel zu erzeugen, wächst sie viel zu schnell an, läuft über, rinnt mir wie Sand durch die Finger und verschwindet wieder.

»Schlampig«, knurrt Finn hinter mir. Seine durchdringenden Silberaugen schießen Dolche in meine Richtung.

Erschrocken drehe ich mich zu ihm um. Abgesehen von der kurzen Begegnung mit den drei Fae-Männern, als mich Pretha zum ersten Mal in die Bibliothek gebracht hat, waren wir beide beim Training hier immer alleine.

Offenbar hat Finn beschlossen, mich heute mit seiner Anwesenheit zu beehren. »Was hast du gesagt?«, frage ich.

»Finn«, sagt Pretha. »Wie schön, dass du –«

Er unterbricht sie mit einem Kopfschütteln. »Heute nicht, Pretha. Lass uns allein.«

Sie lächelt mir entschuldigend zu. »Lass dir nichts von ihm gefallen«, sagt sie leise.

»Lass uns allein, Pretha«, faucht Finn kaum hörbar.

Ihr Blick wird eiskalt, als sie sich zu ihm umsieht, während sie weiter mit mir spricht. »Du darfst seine Launen nicht persönlich nehmen. Er sinnt jetzt schon seit zwanzig Jahren auf Rache.«

Sie wendet sich zum Gehen und ein klügerer, auf Selbsterhalt bedachter Teil meines Gehirns schreit, dass ich ihr folgen soll. Aber das tue ich nicht. Finn jagt mir keine Angst ein. Vielleicht sollte er das, aber … es war kein Zufall, dass das Dunkel in meiner Hand wuchs, als er hier auftauchte. Ich weiß zwar nicht, wie oder warum, aber meine Kraft reagiert auf ihn. Sie summt und fordert mich auf, sie einzusetzen, auch wenn er nur einfach dasteht.

Als wir alleine sind, stoße ich nur ein einzelnes Wort hervor. »Was?«

»Du bist schlampig bei deiner Magie, und dir fehlt es an Konzentration. Wenn du das nicht bald hinbekommst, wird dich dein liebender Prinz noch beim Herumschnüffeln in seinem Palast erwischen.«

Ich recke das Kinn hoch, aber seine Worte treffen mich kaum. Natürlich hat er recht. Ganz offensichtlich bin ich zu mehr fähig, als ich mir in der Welt der Menschen je hatte erträumen können, aber noch immer habe ich nicht die leiseste Ahnung, wie ich es kontrollieren soll. Bis jetzt hat mich das Training nur müde gemacht. Wenn ich es allerdings mit ihm in der Nähe versuchen könnte …

»Ist es das, was du dir wünschst?«, fragt er. »Deine Suche gezwungenermaßen abbrechen, damit du es dir in deinem neuen Leben bequem machen kannst?«

So eine Frechheit.

»Du hast es ja offenbar nicht nötig, mir deine Hilfe beim Lernen anzubieten.«

Er neigt den Kopf zur Seite. »Das ist eine ziemlich passiv-aggressive Art, um Hilfe zu bitten.«

»Ich –« Ich balle eine Faust und öffne sie wieder. Er ist so ein arrogantes Arschloch. »Du bist es doch, der darauf besteht, mir zu helfen, aber jetzt wo ich hier bin, überlässt du es Pretha.«

»Sie ist eine hervorragende Lehrerin. Du solltest dankbar sein, dass sie sich die Zeit nimmt, Prinzessin.«

»Warum nennst du mich ständig so?«, schnauze ich ihn an. »Ich bin keine Prinzessin.«

»Du bist nur wenige süße Versprechungen und zärtliche Augenblicke davon entfernt, die Braut dieses Jungen zu werden, und alle wissen das.«

Ich muss mir auf die Zunge beißen, um ihm nicht zu widersprechen. Aber es spielt keine Rolle, was er über mich und meine Beziehung zu Sebastian denkt. Wichtig ist nur, dass ich die Gegenstände für den König beschaffe und dass ich Jas zurückbekomme.

Aber Finn stichelt weiter. »Ist ein Leben im luxuriösen Goldenen Palast nicht alles, was sich dein sterbliches Herz je ersehnt hat?«

»Wie kommst du darauf«, erwidere ich verächtlich, »dass sich mein sterbliches Herz überhaupt irgendetwas ersehnt hat?«

»Träumen nicht alle sterblichen Mädchen davon, einen gut aussehenden Fae-Prinzen zu heiraten?«

»Du bist so ein arrogantes Arschloch!« Auf meiner Hand erscheint eine Kugel aus Schatten und ich schließe die Finger um sie. »Dieses sterbliche Mädchen hier hat jedenfalls nie davon geträumt. Ich wollte nicht hierherkommen. Ich wurde dazu gezwungen, weil der König deines Hofs meine Schwester gekauft hat.«

»Dann irrt sich Pretha also? Und du empfindest nichts für den Prinzen?«

»Ich …« Doch. Und ich tue es immer noch. Aber meine komplizierten Gefühle für Sebastian gehen Finn nichts an. Meine Wut lässt die Schattenkugel pulsieren. »Mir liegt nichts daran, eine Fae-Prinzessin zu sein. Hätte ich gewusst, dass Sebastian ein Fae ist, hätten wir niemals Freundschaft geschlossen. Und das wusste er auch.«

Finn geht langsam im Kreis um mich herum, und ich komme mir vor wie ein Pferd auf dem Markt, das aus jeder Blickrichtung taxiert wird. »Da hast du ihm sicher seine Lügen verziehen, wenn du darauf hoffst, ihn zu heiraten und den Bund mit ihm einzugehen.«

»Ich hoffe nicht darauf, ihn zu heiraten«, schnauze ich ihn an. Ich muss die Finger spreizen, um die wirbelnde Schattenkugel, die immer größer wird, festzuhalten. »Und ich will keine Prinzessin werden. Ich will auch keinen Bund mit einem Fae eingehen – mit niemandem

Er bleibt vor mir stehen und sieht mir in die Augen. »Dann bist du also an niemanden gebunden?«

Ich verdrehe die Augen. »Nicht, dass dich das überhaupt etwas angeht, aber nein. So etwas würde ich nicht zulassen.«

Finn lässt die Schultern sinken. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass er erleichtert ist. Aber es gibt keinen Grund, warum diesen Unseelie-Prinzen so etwas überhaupt kümmern sollte. »Irgendwann wird Sebastian dich bitten, den Bund mit ihm einzugehen«, sagt er.

»Er weiß, was ich von euch Fae und euren Verbindungen halte, mit denen ihr uns Menschen kontrolliert. Es wird nicht dazu kommen.« Selbst wenn ich es wollte, könnte ich mit Sebastian keinen Bund eingehen. Ich kann ihm diese Vertrautheit mit mir gar nicht zugestehen, solange ich auf meiner Suche nach Jas herumschnüffeln muss.

»Auch Mordeus wird danach fragen. Vergiss nicht, der Bund kann nur eingegangen werden, wenn du es zulässt. Und du solltest das niemals tun, wenn dir an deinem sterblichen Leben gelegen ist.«

»Soll das eine Drohung sein, Finn?«

»Es ist eine Warnung, Prinzessin.«

»Ein Bund ist in unserer Abmachung nicht enthalten.«

»Noch nicht, aber hüte dich vor Mordeus’ Tricks.«

Mordeus’ Tricks? Und was ist mit Finns Tricks?

Er bläst die Luft aus. »Ich kann versuchen dir zu helfen. In Wahrheit wissen Pretha und ich aber überhaupt nichts über Sterbliche, die Magie besitzen – oder wie die Magie bei euch funktioniert.«

»Warum sollte das bei uns anders sein?«

Er runzelt die Stirn. »Weil du anders bist.« Er kommt heran und fasst mich am Arm. Mit der Fingerspitze fährt er vom Ellenbogengelenk innen bis zu meinem Handgelenk herunter, fast bis zu der Schattenkugel, die ich in der Hand halte. Ein Schauer läuft mir über den Rücken.

Finn hebt den Blick, sieht mir in die Augen und öffnet den Mund. Für einen Moment ist mir, als würde er es auch spüren – diese pulsierende Energie zwischen uns, dieses Bewusstsein, wacher und lebendiger zu sein denn je. Das ist nichts als Magie, sage ich mir, aber ich bin eine lausige Lügnerin.

Wieder fährt er mir mit der Fingerspitze über die Haut. Ich atme langsam und kontrolliert ein und wünsche mir, dass er mich loslässt. Er wird das tun, wenn ich darum bitte – da bin ich mir sicher –, aber ich will mir die Wirkung, die er auf mich hat, nicht anmerken lassen.

»Was passiert, wenn ich dich schneide?«, fragt er.

»Dann blute ich.«

Er nickt. »Und wenn die Wunde heilt, wird dein Körper frisches Blut erzeugen, während du dich erholst. Ist der Schnitt aber zu tief und zu lang, dann blutest du zu stark und kannst nicht schnell genug frisches Blut bilden, das durch deine Adern fließt und das deinen Körper erhält, und du stirbst.«

»Ich weiß, wie das funktioniert«, maule ich.

Er sieht mich finster an. Wieder zieht er die Spur über meinen Arm, aber diesmal kann ich das Schaudern nicht überspielen. »Für die Fae ist Magie wie Blut.«

»Das verstehe ich nicht. Blutet ihr denn nicht?« Das kann nicht sein. Ich habe Sebastian schon bluten gesehen – und sogar selbst bei ihm kleine Schrammen versorgt.

»Wir bluten, aber es ist die Magie in unserem Blut, die uns heilen lässt, die Magie, die uns am Leben erhält, nicht das Blut. Dir schenkt das Blut das Leben. Bei uns ist es die Magie , die das Leben schenkt.« Sein Blick senkt sich zu meinem Mund und mir stockt der Atem.

So plötzlich, wie er ihn ergriffen hat, lässt Finn meinen Arm wieder los und tritt zurück. Er sieht aus dem Fenster und fährt sich mit der Hand durchs Haar, streicht es aus seinem Gesicht und bindet es dann nach hinten, als würde er sich zum Training bereit machen. »Die Analogie ist nicht perfekt, aber eine bessere kann ich nicht bieten. Die Magie ist nicht unendlich. Sie ist an unsere Lebensquelle gebunden, und wir müssen uns mit unseren Fähigkeiten vertraut machen, um uns nicht zu überlasten. Aber so wie sich Blut neu bildet, wenn man ein wenig davon verliert, sollte sich auch die Magie eines Fae regenerieren. Wie viel man verlieren und ohne dauerhafte Schwächung wieder neu bilden kann, hängt von der Macht eines Fae ab.«

»Was geschieht, wenn ein Fae zu schnell zu viel Macht verliert?«

»In den meisten Fällen verliert man das Bewusstsein, bevor man dauerhaft Schaden nimmt, aber wenn die Magie in voller Absicht und großer Heftigkeit abgegeben wird –« Er wendet sich wieder zu mir um, und in seinen schönen Augen ist etwas wie Trauer zu lesen.

»Wenn sie zu schnell abgegeben wird, kann ein Fae an der Nutzung von Magie sterben?«

»Es ist eine Entscheidung. Eine so große und dem Fae so wichtige magische Handlung, dass es ihm den Preis wert ist.«

»Glaubst du, ich könnte sterben, wenn ich zu schnell zu viel Magie abgebe?«

Er legt den Kopf auf die Seite und betrachtet mich. »Du hast noch nicht einmal begonnen, die Tiefe deiner Macht zu ergründen.«

Der Schatten auf meiner Hand platzt wie eine Seifenblase und löst sich auf.

Finn mustert mich von oben bis unten und schüttelt angewidert den Kopf. »Für jemanden mit solch einer Gabe ist es beinahe eindrucksvoll, wie wenig du sie benutzt. Deine Macht ist gewaltig wie der Ozean, und doch beschränkst du dich auf das, was du davon in der Hand halten kannst.«

»Ich tue genau das, was Pretha von mir verlangt hat.«

»Und es gelingt dir nicht«, knurrt er und bläht die Nasenflügel.

»Was willst du von mir?« Ich halte mich an meiner Wut fest. Mit dieser Feindseligkeit zwischen uns fühle ich mich viel wohler als bei diesen … anderen Gefühlen, die er in mir auslöst. »Willst du mir nun helfen oder mich doch nur entmutigen?«

Er verschränkt die Arme. »Also gut. Zeige mir, was du kannst. Aber nicht diesen Unsinn mit einer Handvoll Dunkelheit. Beeindrucke mich.« Als ich die Handflächen nach oben drehe zum Zeichen, dass ich keine Ahnung habe, wie ich etwas Beeindruckendes zustande bringen soll, schnaubt er: »Der Raum hier ist im Zwielicht. Du hast also jede Menge, womit du arbeiten kannst. Hör auf, zu viel darüber nachzudenken, und zeige es mir.«

Ich trete etwas aus dem Licht, konzentriere mich und versuche zu verschwinden, doch nur meine Finger verblassen kurz und erscheinen dann wieder. Aber ich spüre es – wie ich es immer spüre, wenn er in der Nähe ist – Macht pulsiert in meinem Blut und fleht danach, auszubrechen. »Sag mir, wie.«

»Du kämpfst dagegen an. Lass es einfach geschehen.«

Ich starre auf meine Hand und versuche … es nicht zu versuchen. Als die Dunkelheit wieder wegflackert, stöhne ich enttäuscht auf. »Ich werde immer schlechter.«

»Ich habe eine Idee«, sagt er und sieht aus dem Fenster. »Komm mit.«

Ohne sich umzudrehen, geht er hinaus – nicht nach vorn, wo Pretha und ich jeden Tag hereinkommen, sondern zur Hintertür, die ich noch niemanden habe benutzen sehen.

Sie führt hinaus auf eine mit Möbeln bestandene Terrasse. Wir folgen einer schwach erleuchteten Gasse und gehen um ein paar Gebäude herum. Als er schließlich stehen bleibt, befinden wir uns auf einem riesigen Friedhof. Es ist ein schöner Abend, die Gräberreihen gepflegt, wenn auch ein bisschen morbide. »Warum hier?«, frage ich.

Finn reißt den Blick los von einer Schar Raben am Himmel und blickt mich fragend an. »Sag du es mir.«

Weil ich mich draußen am wohlsten fühle. Weil ich mich bei Einbruch der Dunkelheit aus einem unerklärlichen Grund zuversichtlicher fühle. »Die Nacht nährt meine Magie, ist es deswegen?«

»Das könnte man sagen. Was hast du bisher gefühlt, wenn du erfolgreich deine Fähigkeit benutzt hast?«

»Wut? Verzweiflung? Ich weiß nicht.« Ich beiße mir auf die Lippe und sehe zu ihm auf. Ich hasse es, mir wie eine Idiotin vorzukommen. »Kann man Wut dazu verwenden, um Magie zu bewirken?«

»Natürlich.« Er zuckt mit den Schultern. »Es ist eine relativ schwache Empfindung, kann aber durchaus weniger bedeutsame Magie auslösen. Wut allein genügt aber nicht, um die volle Tiefe deiner Macht zu erkunden.«

Ich verdrehe die Augen. »Jetzt sagst du mir bestimmt gleich, dass dazu Liebe nötig ist?«

Seine Silberaugen flackern auf und ich erschrecke fast, als er lächelt. Ich glaube, das geschieht zum ersten Mal, ohne dass er sich über mich lustig macht. Er ist … überwältigend. Ich will das gar nicht wahrnehmen, aber diese scharf gezeichneten Wangenknochen und faszinierenden Augen, die vollen Lippen, die sich fast unmerklich öffnen, wenn er mich beobachtet. Nun, ich kann mir nicht vorstellen, dass Finns Schönheit jemandem mit halbwegs funktionierenden Augen entgehen könnte.

»Man könnte sagen, dass sich das Ausüben magischer Kraft ein wenig wie Liebe anfühlt«, erklärt er. »Aber es ist eher wie …« Er schließt die Augen, wedelt mit den Fingern und atmet tief ein. »Es fühlt sich eher wie Hoffnung an.«

»Dann bin ich verloren.«

Er reißt die Augen auf, wippt auf den Fersen nach hinten und mustert mich. »Warum das?«

»Ich hoffe nicht. Reine Zeitverschwendung. Wenn nicht sogar gefährlich.«

Er neigt den Kopf zur Seite. »Dann irrst du dich. Was soll an der Hoffnung gefährlich sein?«

Ich stoße die Luft aus. »Was, wenn da nichts ist, worauf man hoffen könnte?«

Sein Mund zuckt, und das spöttische Lächeln ist zurück. »Belügst du dich auch selbst, oder nur mich?«

»Ich lüge nicht.«

Er kichert. Dieser Arsch lacht mich aus . »Du wohnst in diesem Palast, suchst nach den Artefakten der Unseelie und hältst an diesem heuchlerischen Hof deine Stellung, du kommst hierher und trainierst nach Kräften – und warum das alles?«

»Um meine Schwester zu retten.«

Er dreht beide Hände nach oben, als wolle er sagen Da siehst du es .

»Das ist nicht dasselbe. Ich handle aus Logik, nicht aus Verzweiflung.«

»Wer behauptet denn, dass Hoffnung verzweifelt sein muss?« Er kommt heran, fasst meine Hand, und sofort ist da wieder diese Verbindung zwischen uns zu spüren, während die Dämmerung fortschreitet und am Himmel die ersten Sterne erscheinen.

Mir stockt der Atem. Die Dunkelheit lindert alles Scharfe und Raue, auch meine Ängste, und da bemerke ich, dass das gar nicht der Abendhimmel ist, sondern nur eine Kugel, die uns umgibt. »Du hast es dunkel werden lassen«, sage ich. »Das ist schön.«

»Es ist in dir «, sagt er leise und beinahe traurig.

»Es ist nicht meine Macht, die du hier siehst. Es ist deine. Ich bin nichts als eine Verbindung, ein Werkzeug, um die Tür zu öffnen, weil du dir unglücklicherweise selbst im Weg stehst.«

Ich strecke die andere Hand nach oben, und sie verbindet sich mit der Dunkelheit. Während ich mich in der Nacht auflöse, während ich zu Dunkelheit werde, weiß ich, wie ich es kontrollieren kann.

»Spürst du es?«, fragt Finn und zieht meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Seine Augen mustern mich, als würde er nach einem Geheimnis forschen. Und ich spüre es tatsächlich. Jeder Blick aus diesen silbernen Augen fühlt sich wie eine intime Berührung an. Als er wieder etwas sagt, klingt seine Stimme tiefer und ein bisschen heiser. »Spürst du die Möglichkeiten, die in deinem Blut pulsieren?«

Ich sehe ihm in die Augen und schlucke. Ist es das, was ich fühle, wenn er mich berührt? Möglichkeiten? Es fühlt sich nämlich an wie … Lust . Ich würde aber lieber noch eine Nacht in Mordeus’ Verlies zubringen, als das zuzugeben, und nicke.

Finn lässt die Hand wieder sinken, die Blase aus Nacht löst sich wieder auf, und an ihre Stelle tritt der goldene Schein der untergehenden Sonne.

Finn blickt zu dem Schwarm Raben hinauf. »Wir sollten hineingehen.«

»Warum?«, will ich wissen. Ich will nicht wieder hineingehen. Noch nicht.

»Siehst du die Vögel dort?«

Einer der Vögel kräht, als hätte er es gehört, und das Geräusch zerschneidet förmlich die stille Abendluft.

»Ja?«

»Wenn die Raben so schwärmen, ist das ein Anzeichen dafür, dass die Sluagh in der Nähe sind.«

»Slu-was?«

»Sluagh. Es sind die Geister von Toten, die niemals den Übergang geschafft haben. Aus irgendeinem Grund sind sie auf halbem Weg gefangen.«

»Sind sie Geister?«

Er verzieht das Gesicht und betrachtet weiter die Raben. Ich frage mich, was er sieht, während er sie beobachtet. Es ist, als würde er versuchen, aus ihren Bewegungen Antworten herauszulesen. »Auf ihre Art wohl schon. Sie sind verfluchte Tote, vorzeitig getötete Fae, denen zu wenig Macht blieb. Jetzt müssen sie in ihrem Reich herumwandern, bis ihr Tod gesühnt ist. Und manche werden Unschuldige in den Tod locken, um ihre eigene Wut zu lindern.«

Mir läuft ein Schauer des Entsetzens über den Rücken und ich schlucke. »Treiben sie sich immer in der Nähe von Friedhöfen herum?«

»Sie bleiben in der Nähe der Orte, wo sie ermordet wurden, und wenn du nicht eine ausführliche Unterrichtsstunde darüber haben möchtest, schlage ich vor, dass wir rasch hineingehen.«