KAPITEL

22

»Was ist passiert?« Die leise Stimme dringt kaum in mein Bewusstsein vor lauter Schmerz, der in meinem Kopf wie eine Bestie schreit.

»Die Sluagh haben sie in den Wald gelockt. Sie war von Flammen und Rauch umgeben. Ihr Bein sieht übel aus, und ihr Geist …«

»Sie hat sich auch noch gegen uns gewehrt, als wir die Sluagh schon längst verjagt hatten«, sagt eine andere Stimme. »Sie sagte nur immer wieder, sie könne ihre Schwester nicht verlassen.«

Mühsam reiße ich die Augen auf und versuche, die Realität festzuhalten. »Jas?« Meine Stimme ist ein heiseres Krächzen. Es war alles echt. »Habt ihr meine Schwester gerettet?«

»Schhh. Sprich lieber nicht.« Silberne Augen blicken forschend in mein Gesicht. Finn. Er wendet sich ab. »Heil sie.«

»Willst du mich verarschen?«, fragt eine andere männliche Stimme. Kane? »Das ist ein Segen. Ein Geschenk von den alten Göttern. Nimm es an!«

Finn knurrt eine leise Warnung, die ich nicht verstehe.

»Mach, was du willst, aber ich werde nicht hierbleiben und mitansehen, wie du alles wegwirfst.« Schritte. Türknallen.

»Mir gefällt es auch nicht«, sagt Pretha. Ich will die Augen öffnen, aber so viel Kraft habe ich nicht mehr. »Nach allem, was sie für Jalek getan hat, geht es uns allen so, aber du musst damit aufhören, die gleichen selbstgerechten Fehler zu machen, wegen denen ich zur Witwe geworden bin.«

»Ich bin nicht Vexius«, knurrt Finn.

»Und sie ist nicht Isabel.«

»Wag es ja nicht«, blafft Finn wütend.

»Dein Reich ist ohne dich dem Untergang geweiht, begreifst du das denn nicht? Und diese Verletzungen …«

»Erzähl mir nichts über mein Reich, Pretha. Sie jetzt sterben zu lassen, obwohl wir die Möglichkeit haben, sie zu retten, wäre schlichtweg Mord. Willst du, dass die Magie sich gegen uns wendet?« Dann folgt Schweigen. Ein so langes, drückendes Schweigen, dass ich es beinahe schaffe, die Augen zu öffnen. »Heile sie. Jetzt.«

Blinzelnd sehe ich Pretha neben dem Bett knien. Sie legt mir ihre Hand auf die Stirn, die andere auf meine Brust. »Schlaf jetzt. Wenn du wieder aufwachst, wirst du dich besser fühlen.«

***

Stimmen durchdringen meine Träume. Finn. Pretha. Sie streiten sich wieder. »Sie wird sich erholen«, sagt Pretha. »Sie muss sich nur ausruhen.«

»Dank dir wird sie es schaffen«, sagt Finn. Seine Stimme klingt leblos, Erschöpfung tropft von jeder Silbe.

»Wir müssen über die Entscheidung reden, die du heute Abend getroffen hast«, sagt Pretha.

»Das müssen wir nicht. Ich stehe dazu.«

»Schläfst du mit ihr?«

»Nein«, zischt Finn.

»Aber du bist dabei, dich in sie zu verlieben. Ich habe gesehen, wie du sie angeschaut hast, als ihr mit Jalek zurückgekommen seid. Ich habe euch beide auf der Veranda beobachtet, und ich habe gesehen, dass …«

»Du hast gar nichts gesehen.«

»Bist du dir da ganz sicher? Du solltest dich nämlich eigentlich darauf konzentrieren …«

»Ich kenne meine Pflichten. Vielleicht ist es an der Zeit, dass du dich an deine erinnerst.«

Der Schlaf zieht mich wieder in seine Arme, als ich Pretha noch sagen höre:

»Du bist nicht der Einzige, für den viel auf dem Spiel steht, Finn.«

***

Ich träume von einem Fae-Kind mit großen Silberaugen und einem verschmitzten Lächeln. Wir spazieren durch eine Blumenwiese, sie hat einen Lolli im Mund und hüpft neben mir her. Der Sonnenschein ist wunderbar, und die Blumen duften himmlisch. Mit ihren Pausbäckchen sieht sie wie ein kleiner Engel aus. Vielleicht ist sie das ja auch. Vielleicht bin ich ja in dem Feuer gestorben – den Tod, vor dem Lark mich gewarnt hat.

»Bin ich gestorben?«, frage ich.

»Nur einmal, aber diesmal nicht.« Sie strahlt mich an, ihr Mund ist mit rosa Zuckersaft verschmiert. »Das macht mich froh. Der andere Pfad ist für alle besser.«

»Welcher andere Pfad?«

»Na ja, einer von ihnen. Manche sind nicht gut. Manchmal stirbst du endgültig, und dann frohlockt die Goldene Königin. Aber manchmal wirst du eine Fae. Manchmal wirst du sogar Königin.« Sie wirft den abgelutschten Lollistiel beiseite, und ein Ballen rosa Zuckerwatte erscheint in ihrer Hand.

»Was für eine Königin?«

Sie lächelt, als habe sie nur auf diese Frage gewartet. »Eine andere. Eine neue.« Kurz schließt sie die Augen, und ihr Gesicht wird ernst, als versuche sie, sich auf etwas zu konzentrieren.

»Und manchmal auch eine böse. Manchmal ist deine Wut zu groß und du lässt zu, dass sie dein Inneres hässlich macht. Tu das nicht. Ich mag dich dann nicht. Finn wird es dir erklären, wenn du ihn lässt.«

Sie spricht in Rätseln, und ich verstehe nur Bahnhof. »Und was ist, wenn ich weder eine Fae noch eine Königin werden will?«

»Warum solltest du keine Fae werden wollen?« Mit gerunzelter Stirn kaut sie auf einem Bissen Zuckerwatte herum. »Möchtest du lieber tot sein?«

Was soll ich darauf antworten? »Ich weiß gar nichts darüber, wie man eine Königin wird. Mir gefällt der Gedanke nicht, so viel zu besitzen, während andere gar nichts haben.«

»Das trifft sich aber gut«, sagt sie. »Denn du wirst alles verlieren.« Sie reißt ein bisschen Zuckerwatte von dem Bausch ab und bietet es mir an.

Mit einem Kopfschütteln lehne ich ab, und sie schiebt sich den Bissen strahlend in den Mund. »Täuschst du dich nie in der Zukunft?«, frage ich.

»Doch, natürlich. Denn manchmal täuscht sich die Zukunft auch in dir.« Sie wendet sich ab. »Ich muss gehen. Sag meiner Mutter bitte nicht, dass ich hier war.«