Was hat sie sich nur dabei gedacht, dieses Thema vorzuschlagen: Gewalt von Frauen.
Splitter ist sofort einverstanden gewesen, das hätte April misstrauisch machen sollen – und die Blicke ihrer Kollegen, spöttisch, belustigt?
Sie kann sich atmen hören, als sie den ersten Zettel mit Tesafilm an die Litfaßsäule klebt, sie beeilt sich, es ist ihr peinlich: Schlagen Sie Ihren Mann? Dann rufen Sie an; darunter ihre Telefonnummer. Sie nimmt ihr Rad, fährt weiter, hält und klebt die Zettel an Geschäftsfenster, Zäune, Hauswände. Sie ist froh, als sie zu Hause ankommt, sie mag ihre Wohnung, obwohl sie ihr, seit der Trennung von Ludwig, zu groß erscheint. Sam ist noch nicht da, sie geht in sein Zimmer, bemüht, das Chaos zu übersehen. Spätsommerlicht fällt auf den Boden, April denkt, dass die Sommer in Berlin viel zu kurz sind. Sie nimmt die schmutzigen Teller und Gläser und räumt sie in die Spülmaschine.
Abends fragt sie Sam in der Küche englische Vokabeln ab. Er verzieht das Gesicht, spuckt einen Apfelkern aus. Sauer, sagt er. Sauer ist er auf seine Englischlehrerin, sauer ist er auf die ganze Welt, auf seine Mutter, seinen Vater: Warum musstet ihr euch streiten? Warum kommt Papa nicht mehr? Hast du ihn vergrault?
April betrachtet ihren Sohn. Das lockige Haar fällt ihm in die Stirn, die leichten Segelohren hat er von seinem Vater, auch die grünen Augen, das prustende Loslachen. Von der Statur her schlägt er ihr nach, auch April war in seinem Alter so schlaksig.
Ich will nicht mehr, sagt er.
Was willst du nicht mehr?
Er hebt die Hand, ballt sie zur Faust. Alles, sagt er, schlägt mit der Faust auf den Tisch. So hab ich’s mir nicht vorgestellt.
Was?
Das Leben.
April umarmt ihren Sohn, versucht sich ihre Hilflosigkeit nicht anmerken zu lassen. Er darf die »Simpsons« sehen, und sie geht an seiner Stelle mit Hugo raus; das bedeutet, den Dackel vier Stockwerke nach unten tragen, damit das Tier nicht an der Dackellähmung erkrankt. Als sie zurückkommt, steht Sam im Flur: Mama, da hat eine Verrückte angerufen.
Verrückte? Was wollte sie?
Er zuckt die Achseln, bevor er in seinem Zimmer verschwindet, tippt sich an die Stirn: Die hatte einen Vollhau.
Spät in der Nacht klingelt das Telefon. April hört zuerst ein Lachen aus dem Hörer, laut und schrill, dann sagt eine betrunkene Frauenstimme, ich verprügle gerade meinen Mann, deshalb rufe ich an.
In den nächsten Tagen muss sie den Hörer nachts neben das Telefon legen. Die Anrufer nölen, beschimpfen sie, kein ernst gemeinter ist dabei. April fragt sich, wie sie so dumm sein konnte, ihre Telefonnummer öffentlich zu verteilen.
Einer der letzten warmen Tage. April, Sam und seine Freunde liegen am See. Die Wiese riecht nach Sommer. April kann sich nicht auf ihr Buch konzentrieren, Hugo bellt, wimmert, winselt, die Kinder werfen ihn ins Wasser, und obwohl er schwimmt wie ein Otter, macht er ein irres Gezeter.
Lasst ihn in Ruhe, ruft sie.
Er will doch ins Wasser, ruft ihr Sohn zurück.
April ist sich nicht sicher, was der Dackel will, Freude und Angst scheinen bei ihm eins zu sein. Die besten Wachhunde sind die gestörten, hatte ihr mal jemand erklärt, die schon beim ersten Windhauch den Feind wittern; in diesem Fall spürt sie eine gewisse Verbundenheit mit dem Tier. Ihr läuft der Schweiß die Schläfen hinunter, doch sie kann sich nicht aufraffen, ins Wasser zu gehen.
Mindestens achtzig, hört sie ihren Sohn sagen.
Nee, der ist fünfzig, antwortet Victor.
Na dann eben fünfzig.
Sie raten das Alter der Badegäste. April hört die Langeweile in ihren Stimmen. Sie mag die Freunde ihres Sohnes, ist gerührt von ihren Versuchen, der Welt die Bestätigung abzutrotzen, dass sie richtig sind, so wie sie sind.
Marek schneidet Sam eine Fratze: Eh, Alter, du siehst aus wie dein Name.
Mein Name, wie soll der aussehen? Ihr Sohn untersucht sein Knie, berührt einen Leberfleck.
Na wie du, sagt Marek und lacht. Jeder sieht aus wie sein Name.
Marek ist der Sohn tschechischer Migranten, die Mutter ist ängstlich, der Vater streng, er sperrt ihn schon mal in den Schrank, wenn er etwas ausgefressen hat.
Hitzeschleier hängen in der Luft. April versinkt in der Geräuschkulisse.
Hierher, brüllt Sam, ich hab ’ne Riesenmuschel gefunden. Er steht bis zu den Knien im Wasser, hält die Muschel triumphierend in die Luft. Die Jungs springen ins Wasser. Victor schafft es, ihm die Beute abzujagen, die ist winzig, ruft er, total winzig. Er wirft sie Marek zu, der zerdrückt sie in seiner Hand.
Du hast meine Muschel getötet, ruft Sam.
Muscheln haben kein Fell, die kann man nicht töten, schreit Marek.
Die Jungs brechen in irrsinniges Gelächter aus.
Sie sind die Letzten am Strand. Der Abendstern leuchtet. Der See ist vollkommen still, sagt April.
Falsch, sagt Victor, da geht immer ’ne Welle. Er liegt auf seinem Handtuch, die Augen geschlossen.
Marek setzt die Wasserflasche ab und rülpst.
Hugo winselt leise.
Wir sollten aufbrechen, sagt sie.
Wenn’s jetzt schneien würde, sagt Marek, das wäre genial.
Eine Brise vom See fegt über den Strand, ein dunkelgrauer Vogel hebt sich mit den Wellen, April erkennt ein Blesshuhn, es nimmt Anlauf, steigt mit schwerem Flügelschlag in die Luft.
Los, Jungs, sagt sie.
Sam kratzt sich geistesabwesend, doch dann springt er auf, rennt hierhin, dorthin. Beeilt euch, ruft er, sonst verpass ich die Simpsons. Hugo beginnt laut zu bellen. Aus!, schreit Sam, doch der Hund bellt weiter, er hat sich noch nie an irgendwelche Vorgaben gehalten. Sam wischt sich den Sand von den Füßen, fummelt an seiner Sandale. April versucht, ihn sich als alten Mann vorzustellen, sie fragt sich, ob er dann noch immer diesen wütenden und zugleich wehrlosen Blick haben wird.