Sam und Daggi begutachten ihre Beute auf dem Küchentisch. Mein Anteil, sagt Daggi und deutet auf eine Packung Kaugummizigaretten. Gehören mir, erwidert Sam, doch da hat Daggi die Packung schon eingesteckt.
Dann kommen Victor und Marek, sie wirken trotz ihrer Kostümierung gelangweilt.
Eh, Alter, das ist Betrug, du bist nicht verkleidet, sagt Marek zu Sam.
Wieso erkennst du dich nicht? Ich gehe als du.
Ihr seht echt scheiße aus, sagt Daggi. Sie hat nichts zu melden, wenn die Jungs da sind. Aber sie ist zäh. So was von scheiße, wiederholt sie mit aufreizender Stimme, obwohl ihr Gesicht etwas anderes sagt.
April fotografiert: überdrehte Kinder vor bunten Papptellern, Girlanden, Zuckermäuse auf dem großen Schreibtisch, künstliche Spinnweben über dem Schrank. Die Jungs lassen sich von ihr bedienen, kann ich noch Cola, fragt Marek. Sie bringt Cola, Süßes und Chips, die Wiener Würstchen ähneln abgeschnittenen Fingern und rufen allgemeines Entzücken hervor.
Später sitzen die Jungs bei Sam vor dem Computer. Die Außenwelt ist mit dem Universum des Computerspiels verschmolzen. Sie reagieren nicht einmal, als Daggi sich verabschieden will. Ihr nervt, sagt sie, doch ihre Stimme verhallt ungehört, und keiner der Jungs bemerkt ihren eiskalten Blick, den sie hinter halb geschlossenen Lidern probiert.
Am nächsten Abend läuten Türglocke und Telefon gleichzeitig. Während April sich die nächste Beschimpfung anhört – Du Schlampe, ich hab ihn grün und blau geprügelt –, ist Sam zur Tür gegangen und mit seinem Vater zurückgekommen. Sie versucht zu überspielen, wie überrascht sie ist. Ludwig betrachtet sie mit verhaltener Zärtlichkeit. April, sagt er, schön, dich zu sehen.
Ich muss dir was zeigen, sagt Sam und will ihn in sein Zimmer ziehen.
Gleich, entgegnet Ludwig, erst muss ich mit deiner Mutter reden.
Sam ist längst im Bett, und sie reden immer noch: Ludwig möchte einen letzten Versuch. Er strengt sich an, sieht aber auch, dass sie seine Anstrengung bemerkt. Als April ihn umarmt, weicht die Anspannung aus seinem Körper. Du bist doch mein Glück, sagt er und beginnt zu weinen. Ich will dich nicht verlieren.
April kann sich seiner Zuneigung, seinen Schwüren nicht entziehen, doch sie ahnt, dass sein Wille, mit ihr zusammen zu sein und auch ihren Ansprüchen zu genügen, verebben wird. Ludwig kann Feuer entfachen, aber nicht am Brennen halten. Eine Woche vielleicht, dann ist seine Energie aufgebraucht, er hält es nicht aus. Und was ist mit ihr? Korrumpierbar durch Zuneigung. Kaum gibt man April eine Handvoll guter Worte, liegt sie wie ein Käfer auf dem Rücken und strampelt mit den Beinchen.
Als hätten sie sich nie getrennt, spielen sie schon Tage später die Rollen in ihrer Beziehung, wie sie es jahrelang getan haben. Ludwigs sprunghafter Charakter verunsichert April nach wie vor. Wenn sein Pieper ertönt, muss er los, völlig klar – aber sie versteht nicht, warum er plötzlich ihre Pläne vom Vortag über den Haufen wirft. Er war es, der darauf bestanden hat, Heiligabend entspannt zu verbringen, einen Thriller anschauen, davor Bescherung, Kartoffelsalat. Nun packt er mit großem Brimborium den Tisch voll mit erlesenen Speisen aus dem KaDeWe: Belugakaviar, Blinis, frische Kirschen, eine Flasche Petrus; der Rotwein hat so viel gekostet, dass sie ihn nicht trinken mag. April stellt den Kartoffelsalat in den Kühlschrank, legt Stoffservietten auf die Tischdecke, zündet Kerzen an. Hugo liegt unterm geschmückten Weihnachtsbaum. Ludwig verteilt den Kaviar auf die Teller, sie heben ihre Gläser. Sam hat keinen Appetit, er starrt den Weihnachtsbaum an, als wolle er ihn mit galaktischen Kräften verschieben. Nach einer Weile steht er auf, geht in die Küche und bewegt sich dabei wie in einem Weltraumanzug. Er stöbert im Kühlschrank herum und ruft: Wann seid ihr endlich fertig.
Besinn dich, es ist Heiligabend, Ludwigs Stimme klingt angestrengt.
April spürt seine Hilflosigkeit und den Zorn darüber, dass ihr der Kaviar egal ist und ihr Gaumen einen so kostbaren Wein gar nicht würdigen kann.
Nach dem Essen packen sie die Geschenke aus. Sam freut sich über die seltenen Pokémonkarten, die Ludwig für ihn besorgt hat. Während er später in seinem Zimmer vor dem neuen Computerspiel sitzt, sehen seine Eltern Hannibal Lecter dabei zu, wie er in »Das Schweigen der Lämmer« seinen Petrus trinkt.
Sie stellt ihn sich als Hahn vor: Splitter, der Hahn. Flügelschlagend, sich an seinem Kikeriki verschluckend. Eine Fähre ist untergegangen. Das soll Thema der nächsten Sendung sein.
Splitter wartet auf Vorschläge. Jürgen, sein Assistent, fasst zusammen: Bisher deutet nichts auf Sabotage, Bombenanschlag oder dergleichen hin.
Dergleichen, wiederholt Splitter, geht’s genauer? Wie viele Tote, Verletzte? Wir brauchen einen Aufhänger.
Ein junger Mann meldet sich: Versicherung, sagt er, wer kommt für den Schaden auf.
Gut, David, recherchier das.
Es waren Kinder auf der Fähre, Familien, sagt Aprils Nachbarin, und …
Traumata, fällt ihr Jürgen ins Wort.
Sind alle Toten geborgen?
Deutsche Opfer?
Wie viele waren überhaupt an Bord?
Leichen?
Es soll ein russischer Kapitän gewesen sein.
Hatten sie Zeit zu springen?
Die Rettungsboote haben geklemmt.
April sagt: Die meisten Überlebenden sind Männer.
Stopp, sagt Splitter, reckt den Daumen nach oben, das ist es, nur die Stärksten haben überlebt. Das ist unser Aufhänger. Er ruft April zu: Bring einen starken Mann, der rücksichtslos an Frauen und Kindern vorbei ist, nur auf sein eigenes Überleben aus.
April möchte im Boden versinken, ihr geht durch den Kopf, dass Splitter eine geruchlose Seele hat.
Ja, sagt Splitter, das wird was.
Der Fleurop-Bote legt ihr einen riesigen Strauß Rosen in die Arme. April freut sich über die Blumen. Sie liest das beigelegte Kärtchen, mag den Absender nicht. Schleimscheißer, murmelt sie und stellt die Blumen in eine Vase. Dann inspiziert sie die Räume für die Party am Abend. Sie öffnet ein Fenster und beugt sich hinaus. Vor dem Haus hocken Sam und Daggi und bieten lautstark ihre aussortierten Spielsachen zum Verkauf an. He, ihr Süßen, ruft sie hinunter, doch die Kinder hören sie nicht. Es ist bewölkt und diesig, als würde ein Staubfilm über dem Himmel liegen. Sie muss an die Frau denken, die vor ihr in der Schlange bei Kaiser’s stand, um die siebzig, zurechtgemacht wie ein großes Kind, und an ihren plötzlichen Impuls, sie zu umarmen. Was hat April immer nur mit den alten Frauen? Ihre Rührung gilt nie den jüngeren. Es hat lange gedauert, bis sie den Frauen das zubilligte, was sie für Männer selbstverständlich hielt. Schon sechsjährig stand sie neben ihrer Mutter, wenn diese, was täglich geschah, unglücklich losheulte, und tröstete sie mit kaltem Herzen. Der Vater verursachte diese Ausbrüche und war somit keine Hilfe. Stark war er nur in seinen Schlägen, liebenswert nur, wenn er Geschichten erzählte; immerhin konnte er liebenswert sein. Wenn ihre Mutter Gefühle zeigte, ähnelte sie einer sentimentalen KZ-Aufseherin, die ein besonders hübsches Kind ins Gas schicken musste. Das war zum Heulen! Weil das Kind so hübsch war und die Arbeit so schwer. Nie wie Mutter werden! Ein Gebet, eine Parole, ein Schlachtruf. Aber auch nicht wie Vater. Ein Schläger, Säufer und ein Geschichtenerzähler. Was hat er ihr vermacht? Wenn sie einen Mann beschreibt, trägt er nicht selten Züge ihres Vaters. Es fällt ihr schwer, Frauen zu beschreiben; dass sie selbst eine Frau ist, verstellt ihr den Blick. April hatte Frauen lange mit den Augen eines Mannes betrachtet. Wie viel Schönheit, Persönlichkeit, Sex sie zu bieten hatten – wie sehr sie infrage kamen –, um dann den Blick der Konkurrentin einzunehmen, beruhigt, neidvoll, eifersüchtig, je nachdem. Es hat gedauert, bis April den jungen, schönen Frauen und sich selbst etwas gönnen konnte. Wollte sie nicht einmal vor langer Zeit Seiltänzerin werden, Wolfsforscherin, mit einem Boot allein über die Weltmeere segeln? Aber auch Piratenbraut, die Braut von jemandem.
Es klingelt, sie hört Ludwigs Stimme, er hat kein Bargeld, sie geht runter zum Taxifahrer und bezahlt. Sie bleibt vor Sam und Daggi stehen, nimmt ein Buch, das neben den übrigen Flohmarktsachen auf der Decke liegt.
Warum wollt ihr das verkaufen?
Brauche ich nicht mehr, sagt Sam.
Und wie sieht die Ausbeute aus?
Ganz gut. Er betrachtet sie unruhig. Sind schon welche da?
Nein, sagt sie, die Gäste kommen später.
Sam mag den Trubel, er bietet den Gästen selbst gebastelte Zeitungen an oder führt ihnen Kunststücke vor.
Ihr müsst doch frieren, sagt April. Auch wenn es für März ungewöhnlich warm ist, weht ein kühler Wind.
Ist überhaupt nicht kalt, sagt Daggi und zeigt trotzig ihren nackten Hals.
April geht nach oben, überlegt, was noch zu tun ist für den heutigen Abend; Champagner aus dem Eisfach nehmen, Salat abschmecken. Ihr Kopf schmerzt, sie putzt sich die Zähne, nimmt ein Aspirin, bleibt eine Weile ganz nah vor dem Spiegel, versucht ihr Gesicht als das zu sehen, was es ist: ein Gesicht. Das kann niemand, murmelt sie und geht zu Ludwig, der am Computer sitzt. Komm mit, sagt sie und zieht ihn ins Bad vor den Spiegel, was siehst du?
Was soll der Blödsinn?
Ist es nicht seltsam, dass wir so etwas Verrücktes wie Zähne im Mund haben, fragt sie und bleckt das Gebiss.
Hast du Angst, sie beißen?
Nein, sagt sie, es bringt mich nur manchmal aus der Fassung, ein Mund, der lächelt, Zähne, Ohren.
Während sie die ersten Gäste begrüßt, wünscht sich April mehr Leichtigkeit, hier ein Küsschen, dort ein Küsschen, sie spürt, wie sie die Luft anhält. Der Pinguin ist da, so nennt sie einen Kollegen Ludwigs, der bei ihrer ersten Begegnung sagte, sie sei eine Calvin-Klein-Frau, und der seitdem kein Wort mehr mit ihr gewechselt hat. Er ist Augenchirurg, sie hat kürzlich von ihm geträumt. April wünscht sich, sie wäre Gast und nicht Gastgeberin. Sie bewegt sich mit trügerischer Heiterkeit durch die Räume, bietet Getränke an, spricht mit den Gästen; das hat sie inzwischen gelernt. Die Männer haben sich leicht geneigt um den Gastgeber geschart, als stünden sie am OP-Tisch, und hören Ludwig zu. Der Schleimscheißer, Assistent von Ludwig, lächelt verstohlen in ihre Richtung, seine Zähne leuchtend hell im solariumgebräunten Backpfeifengesicht; sie schenkt ihm das falscheste Zurücklächeln der Welt. Sie treibt mit offenen Augen durch den Raum, geht zu Hanna, der einzigen Krankenschwester – es ist schön, sich mit ihr zu unterhalten. Sam, der im Schlafanzug Zaubertricks vorführt. Gerade zündet er eine Kerze an, die sich nicht auspusten lässt. Während sie ihn ins Bett bringt, versucht er zu feilschen, aber sie lässt sich nicht beirren, morgen früh ist Schule, sagt sie, und keine Ausnahme diesmal. April hat nichts gegessen, sie spürt den Alkohol, trinkt eine halbe Flasche Wasser, spürt die Schritte der Gäste in ihrem Kopf. Wenn sie sich doch konzentrieren könnte, denkt sie und stellt sich zum Pinguin, erzählt von ihrem Traum: Stellen Sie sich vor, sagt sie, ich habe von Ihnen geträumt, und in meinem Traum haben wir ein ganz normales Gespräch geführt.
Pinguin begreift nicht und hüstelt verlegen.
Sie schneidet eine Grimasse, sagt: Ein normales Gespräch mit Ihnen ist, als würde ich mit einer Giraffe auf Sächsisch kommunizieren.
An seinem Gesichtsausdruck erkennt April, dass sie es vermasselt hat. Pinguin lächelt, und sie meint genau zu sehen, wie er denkt: Was will sie von mir?
Ist ja gut, sagt sie, es war nur ein Traum.
April spürt ihren Herzschlag pochend zwischen den Zähnen, es fühlt sich an wie rhythmische Stromstöße auf dem Zahnfleisch. Sie sieht zu Ludwig hinüber, junge Männer folgen aufmerksam seinen Worten, sind bereit zu lachen, seine Begeisterung oder Ablehnung zu teilen, je nachdem. April wechselt einen spöttischen Blick mit Hanna, begrüßt ihre spät gekommenen Freunde: Endlich, sagt sie, ich hab schon Hornhaut angesetzt.
Du siehst aus wie auf Besuch in deinem eigenen Leben, flüstert Keller ihr zu.
Sie zeigt Hanna ihr Geheimversteck; holt das Buch »Der Graf von Monte Christo« aus dem Regal, schlägt die Stelle auf, an der Geldscheine liegen. Wenn ich nichts mehr besitze, sagt sie, haut mich das raus. Sie erzählt ihr von der Angst, im Dreck zu landen, ganz unten, den Pennern ihre Goldplombe entgegenreckend, als Beweis dafür, dass sie nicht immer arm war.
Vorm Fenster ragt ein Ast wie eine Knochenhand in die Luft, kurz sieht April ihre Gäste wie auf einem von Ludwigs Röntgenbildern. Sie trinkt das nächste Glas, geht zu Hanna und sagt, komm, ich hab was für dich. Sie öffnet den Schrank, nimmt einen Kragen aus Wolfsfell heraus – schenk ich dir, sagt sie, das steht dir sicher ganz wunderbar. April ahnt, dass ihr Angebot übergriffig ist, aber sie kann nicht anders. Hanna bedankt sich verlegen, umarmt sie.
Zwischen all den Geräuschen meint April ein Summen zu hören, als würde eine dicke Fliege durch den Raum fliegen. In der Vorahnung eines Déjà-vus legt sie eine CD ein, dreht die Musik auf, zu laut, wie sie gleich bemerkt, denn das Summen verstummt. Ludwig sieht sie an. April stellt die Musik leiser, wird traurig. Sie muss etwas dagegen tun, trinkt ein Glas, raucht eine Zigarette. Doch dann denkt sie, dass es ein Fehler war, die Musik leiser zu stellen. Der Blick von Ludwig hatte vielleicht was mit Liebe zu tun. April leert eine zweite Wasserflasche, zieht ihre Schuhe aus, läuft mit nackten Füßen durch die Wohnung, redet mit den Gästen, lacht, sicher zu laut, aber es ist ihr egal.
Am nächsten Morgen kommt sie kaum hoch, Ludwig schläft noch. Sam sitzt schon angezogen am Tisch. Sie gibt ihm Geld, ich kann dir heute kein Frühstück machen, sagt sie. Ein Kuss auf die Stirn und April ist wieder im Bett. Nach kurzem traumlosem Schlaf erwacht sie, hört Ludwig aus der Küche. Bevor sie die Tür öffnet, der Moment, in dem sie die Luft anhält. Guten Morgen, sagt sie.
Er sieht von seiner Zeitung hoch, lächelt. Und wie fandest du es, fragt er.
Ganz gut. April nimmt ein Aspirin.
Sie trinken Kaffee und werten den Abend aus. Er zeigt ihr eine SMS vom Schleimscheißer: Was kann ich tun, damit Ihre Frau mich mag?
Dieses Arschloch, sagt sie, nichts kann er tun.
So schlimm ist er auch nicht, sagt Ludwig. Du musst ihn ignorieren.
Aber hast du nicht gemerkt, fragt sie, dass du knietief im Schleim gestanden hast?
Sie ist dünnhäutig, verkatert, trinkt ein Glas Wasser mit schnellen Schlucken.
Ludwig nickt und schaut wieder in die Zeitung.
Mit großer Klarheit nimmt sie sein Gesicht wahr, noch immer ein Kindergesicht, müde, gereizt, und sie weiß, das könnte der Auftakt zu einem Streit sein.
Es hat dir gefallen, sagt sie und spürt das Bedürfnis, etwas Hässliches zu sagen. Der ganze Schwarm von jungen Assistenzärzten um dich herum? Warum bedeutet dir das so viel?
Nicht jetzt, sagt er.
April ist sofort wütend, obwohl sie ihre Medikamente genommen hat. Sie spürt Tränen aufsteigen und greift auf ihren alten Trick zurück, stellt sich vor, seinen Körper mit einem schnellen, sauberen Schnitt in zwei Hälften zu teilen, die Organe freizulegen, Herz, Lunge. Er ist tot, ehe er ihr antworten kann, und sie muss nicht heulen.
Nachmittags joggt sie mit Keller durch den Schlosspark. Obwohl er täglich läuft, kann April sein Tempo mithalten, ohne zu keuchen.
Ich kann mir nicht mehr vorstellen, mit Ludwig alt zu werden, sagt sie.
Was für eine Neuigkeit, ruft er aus.
Es wird mir klarer, sagt sie.
Warum gerade heute?
Ludwig hat sich verändert, sagt sie, Dinge, die ihm früher unwichtig waren, stehen inzwischen an erster Stelle.
Keller bleibt stehen und streckt sich. Warum gehst du nicht endgültig?
Wenn es so einfach wäre. Auch April bleibt stehen, hebt die Arme, atmet aus.
Was hindert dich?, sagt er und läuft weiter, sie sprintet ihm hinterher. Nichts und alles, ruft sie. Wie fandest du den Abend gestern?
Oh Gott. Schrecklich. Lauter Leichen.
Keller, du bist schrecklich. So schlimm war es nicht.
Ich habe jetzt noch Gänsehaut.
Es waren nicht nur Idioten da, sagt sie und kommt nun doch außer Atem.
Keller läuft und schweigt, sie kann sein Schweigen hören, es muss ihn anstrengen. Sie seufzt. Ludwig kann nichts dafür, sagt sie. Er ist ein guter Mensch.
Ich kann es nicht mehr hören, antwortet Keller und wirft ihr einen wütenden Blick zu. Warum sagst du ständig, er wäre ein guter Mensch? Wenn er eins nicht ist, dann ein guter Mensch. Merkst du nicht, wie absurd das ist? Er läuft schneller, sie kommt kaum nach.
Ich versteh dich nicht, ruft sie.
Keller ruft laut: Niemand muss von seinem Partner sagen: Er ist ein guter Mensch. Es sei denn, man will ihn verteidigen. Du bist sonst nicht so dumm.
Ich hab einen, sagt April, und es hört sich an, als habe sie einen Fisch an der Angel. Es hat sie Mühe gekostet, einen Überlebenden der untergegangenen Fähre zu finden, der bereit ist, sich vor die Kamera zu stellen.
Was sagt er? Splitters Blick gleitet über ihre Köpfe auf den Hof hinaus.
Er war allein unterwegs, sagt sie, deshalb konnte er sich retten. Er hatte keine Familie, um die er sich kümmern musste, fügt sie hinzu.
Schon klar, sagt Splitter, und?
Es gab ziemlich schnell eine gefährliche Schräglage, er musste sofort runter vom Schiff.
Das mussten alle. Splitters Stimme hat sich eine Oktave höhergeschraubt. An Frauen vorbei, an Kindern, ohne zu helfen?
Nicht jeder ist ein Held, sagt sie.
Hat dein Nichtheld die Schreie gehört? Es sind Kinder und Frauen in Panik totgetrampelt worden. Das will ich in der Sendung haben.
April ist müde. Das Letzte, worauf sie Lust hat, ist ein Streit mit Splitter.
Hilf seiner Erinnerung auf die Sprünge, sagt er.
Sie nickt, schlägt Splitter seinen Hahnenkopf ab, sodass er flügelschlagend, kopflos weiterredet und sie sich nicht bemühen muss, ihn zu verstehen.
Sie trifft sich mit ihrem Überlebenden in einer Kneipe. Er sitzt an einem Ecktisch, kaum zu erkennen in dem rauchverhangenen Dunst, vorgebeugt über sein Bierglas, ungefähr sechzig, mit Bartstoppeln und einer Baseballkappe. Ganz und gar unbrauchbar, denkt sie, und dass sie ihn brauchbar machen muss; ihr Mitgefühl soll sich zum Teufel scheren. Seine Stirn glänzt, er redet viel und schnell, als müsse er sich beruhigen. Seine Bedenken überhört sie höflich, nach dem dritten Bier liegt seine Hand auf ihrem Oberschenkel, sie nimmt sie sanft herunter, wiederholt seine Worte deutlich: Ich bin an Frauen und Kindern vorbei, ihre Schreie waren fürchterlich, aber ich hatte nur eins im Sinn, ich musste mich retten.
Ihr Überlebender steht mit Splitter im Scheinwerferlicht. Eine Assistentin tupft ihm den Schweiß von der Stirn. Er trägt einen Anzug, eine orangefarbene Krawatte und fühlt sich unwohl. Er sucht ihren Blick, und als sie ihm aufmunternd zunickt, versucht er zu lächeln. Splitter bietet ihm einen Platz an, setzt sich ebenfalls, das Publikum klatscht, sie sind auf Sendung. Splitter spricht mit ihm über Leben, Familie, Arbeit. Er ist Lkw-Fahrer, das Gespräch plätschert vor sich hin, dann feuert Splitter seine erste Frage ab: Warum haben Sie nur an sich gedacht!
Ihr Überlebender will die Frage überspielen, erzählt, wie furchtbar schnell alles ging, doch Splitter wiederholt die Frage.
April sieht seinen Scheitel, den der Kamm durch die kurzen silbergrauen Locken gezogen hat; alles umsonst, denkt sie, denn Splitter bleibt unerbittlich, sein Ton wird anklagend.
Sie sitzt im Hintergrund, die Sekunden wie festgeklebt, möchte alles rückgängig machen und ist doch erleichtert, als sie ihren Überlebenden sagen hört: Ich habe Frauen und Kinder im Stich gelassen, ich hatte nur eins im Sinn: Ich musste mich retten.
Ihre Kollegen zeigen April den erhobenen Daumen, und Splitter möchte seinen am liebsten aus dem Handgelenk schütteln, sogar sein Lächeln sieht echt aus.